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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil III. Verbannung

Kapitel 15. Turuchansker Verbannung

Turuchansk, eine Siedlung am hohen Ufer des Jenisseis, an seinem Zusammenfluss mit der Unteren Tunguska gelegen. Entstanden aus einem Überwinterungsquartier, das 1607 gegründet wurde. Endgültig entstand es im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts. Damals gab es dort 120-130 Höfe. Dorthin kam, zu den Märkten im Juni, zum Kaufen und Verkaufen, beinahe die gesamte erwachsene Bevölkerung des Turuchansk-Taimyrsker Bezirks. Haupthandelsware war Pelzwerk. Jäger brachten es von der Unteren Tunguska, aus dem Mündungsgebiet des Jenisseis und von zahlreichen nördlichen Flüssen hierher. Zobel, Eichhörnchen, Blaufüchse, Hundewelpen, Bären, Vielfraße, Schwarz-, Grau- und Rotfüchse, weiße Wölfe. Von den Turuchansker Märkten kamen die Mangasejer Pelze zu den August-Märkten nach Jenisseisk. Hier wurden sie von Kaufleuten gekauft oder eingetauscht, die aus Tobolsk oder von der chinesischen Grenze gekommen waren.

Im 19. Jahrhundert verwandelte sich das Jenisseisker Gouvernement in einen Ort der Verbannungen. Innerhalb der ersten 50 Jahre wurden etwa 40000 Verbannte hierhergeschickt, unter anderem einige tausend polnische Aufständische. Mit den Jahren nahm der Strom der Verbannten immer mehr zu. Allerdings wurden sie hauptsächlich in die zentralen und südlichen Bezirke des Gouvernements geschickt. Lediglich ein unbedeutender Teil ließ sich am Unterlauf des Jenisseis nieder.

Insgesamt zählte man Ende des 19. Jahrhunderts in Russland 300000 Verbannte gleichzeitig. Unter ihnen befanden sich viele von denen, die «aus zwei Provinzen» vertrieben worden waren. Beispielsweise aus dem Tabowsker Gouvernement in den Orenburger und umgekehrt. Entsprechend der Lage, die zu Zarenzeiten bestand, wurden politische Verbannte nicht nur nicht zur Arbeit getrieben, sondern erhielten sogar Geld, das ihnen eine gewisse Existenz sicherte. Finanzielle Unterstützung erhielten auch all diejenigen, die auf administrativem Wege verbannt worden waren.

Die Situation änderte sich jäh Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, als ein Strom Enteigneter nach Sibirien floss. Zu Hunderttausenden trieb man sie, Männer und Frauen, Kinder und alte Menschen, über endlose Steppen-Wege, Waldpfade, über Knüppeldämme durch Sumpfgebiete, in die rauesten und unwirtlichsten Ecken Russlands geradewegs in die Taiga, in glühende Sandlandschaften, unersättliche Sümpfe, an die tödlichen, leblosen Ufer der nördlichen Flüsse.

1942 wiederholte sich die Geschichte. Allerdings wurden die Verbannten jetzt nicht durch ihre soziale Herkunft oder politischen Ansichten definiert, sondern aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit. Auf den gleichen Wegen, Pfaden, Flüssen transportierte man Deutsche nach Sibirien und Kasachstan. Keine Kriegsgefangenen, keine Faschisten, sondern die eigenen, vaterländischen Deutschen. Man brachte sie ohne Gerichtsentscheidung, ohne Ermittlungsverfahren dorthin. Man vertrieb Frauen., Kinder, alte Menschen. Im Gegensatz zum damaligen «Kulaken»-Strom, gab es in diesem keine Männer. Sie waren bereits zuvor, im Januar-Februar, von ihren Familien isoliert und in die Trudarmee geschickt worden. Viele kamen an den Unterlauf des Jenisseis, ins Taimyr-Gebiet. Ebenso wie die «Kulaken-Familie», transportierte man sie in den Frachträumen und an Deck von Leichtern und Barken, unter Wachbegleitung, in schrecklicher Enge. Genau wie damals wurden die Menschen an den leeren Ufern des Jenisseis abgesetzt, auf Inseln, sogar auf überfluteten Inseln.

Weitere sieben Jahre vergingen, und dann, im Jahre 1949, musste auch Nina denselben Weg gehen. Zuerst die übelriechende, erstickende Hitze im Güterwaggon, denn in der Luft hing noch der Geruch von zuvor transportiertem Vieh, dann der Gewaltmarsch bis zum Krasnojarsker Durchgangslager. Sie konnte nicht mithalten. Sie wurde angebrüllt, mit Gewehrkolben vorwärtsgestoßen, damit sie schneller ging, sie verlor das Bewusstsein. Sie wurde von einer Kriminellen gerettet, die sich auf den Wachmann stürzte. In der Nacht, als sie in der Zelle, unweit des Aborteimers, lag, fühlte sie mit einem schrecklichen Angstgefühl die Bewegungen des entstehenden neuen Lebens.

Schließlich, Mitte August, der Transport nach Turuchansk. Lastkahn. Frachtraum. Enge, aber wenigstens nicht so stickig. Besonders, wenn man an Deck geht. Aber sie wurden nur hinausgelassen, um zur Toilette zu gehen, und es war schwierig, auf der rutschigen Leiter zu gehen, die zudem über keinen Handlauf verfügte. Die Toilette befand sich achtern. In der Nähe der Wachposten. Und hinter dem Heck die erhabenen, bewaldeten Felsen, die den Jenissei wie in einem Schraubstock zusammendrückten. Was für eine Schönheit – stundenlang könnte man schauen, doch der Wachmann treibt zur Eile an. Und schon muss man sich wieder hinab in den Frachtraum begeben.

In Turuchansk trafen sie irgendwann nach dem 20. August ein. Dort wurden die Ankömmlinge von den Vorsitzenden der Fischerei-Kolchosen «geprüft», wie man es seinerzeit mit den Sklaven gemacht hatte, nur dass man nicht ihre Zähne untersuchte und ihre Muskeln befühlte. Nina wollte niemand nehmen. Wem sollte sie in ihrem Zustand auch nützen. Umso mehr, als die Schwangerschaft nicht nur ihre Figur ruiniert hatte. Die Augen sahen stumpf aus, die Haut ihres Gesichts hatte all seine Zartheit verloren und war voller Pigmentflecken, die Lippen rissig, ihr ungewaschenes Haar hing in Strähnen herunter. Ihr ganzes Ich war nach innen gerichtet, auf das neue Leben, das sich immer deutlicher bemerkbar machte.

Aber «Tschekisten» üben keine Nachsicht. Sie tippten den Vorsitzenden der Seliwanichowsker Fischerei-Kolchose an und zwangen ihn, Nina zu nehmen. Man brachte sie nach Seliwanicha – eine Siedlung (Stelle) zwei Kilometer den Jenissei flussabwärts. Erdhütten, einige windschiefe Hütten, ein Kontor. Sie wurde in einer Gemüsegärtner-Brigade geschickt, um Karotten zu ernten. In der Familie eines ortsansässigen Fischers kam sie unter. Seine Ehefrau, eine Deutsche aus den Reihen derer, die 1942 an den Ufern des Jenisseis ausgesetzt worden waren. In der Familie drei kleine Kinder. Mit großen rachitischen Bäuchen und den für Ortsbewohner charakteristischen Gesichtszügen. Von ihrer Mutter hatten sie nur die dunkelbraunen Augen geerbt. Sie verschwanden den ganzen Tag irgendwo am Jenissei, begrüßten die Boote mit den gefangenen Fischen und aßen die in ihren Händen zappelnden Fische.

Im Flur teilte man ihr einen Platz zu, eine Art Eingangsbereich, der die Erd-Hütte, in der die Familie hauste, von der Außenwelt abteilte, die voller Schmeißfliegen war. In der Nacht schützten sich die Wirtsleute und ihre Kinder mit Vorhängen, unter denen sie schliefen, und im Flur räucherten sie die Fliegen aus. Nina geriet von dem Qualm in Atemnot, aber ohne ihn hätten die Mücken sie aufgefressen. Am Morgen jagte der Vorsitzende, der Nina aus irgendeinem Grund nicht leiden konnte, zur Arbeit, und sie kroch durch die Beete und ernte Möhren. Obwohl sie noch Geld besaß, war es nicht möglich, irgendetwas käuflich zu erwerben. Die Hausherrin, die Mitleid mit ihr hatte, gab ihr, ohne es ihren Mann wissen zu lassen, täglich ein halbes Glas Milch.

Am Ende der Woche, völlig verzweifelt und am Boden zerstört, beschloss Nina ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ohne das Ende des Arbeitstages abzuwarten, begab sie sich zum Ufer des Jenisseis. Sie setzte sich auf ein umgedrehtes Boot. Direkt an ihren Füßen plätscherte das bleischwere Wasser des Jenisseis. Hinter ihrem Rücken trockneten auf Stangen gespannte Fischernetze. Über ihr schimmerte auf mysteriöse Weise der tiefhängende, düstere Himmel. Und keine Menschenseele, nur die Möwen flogen mit ihrem Geschrei dahin, und irgendwo in der Ferne kämpften Hunde.

Sie wusste, dass die Ufer hier steil zum Wasser hinab führten. Ein einziger Schritt und das war’s, und die vollständige Befreiung von all den Schrecken wäre erreicht. Sie war seit langem zu diesem Schritt bereit. Nur der Gedanke an das Kind störte dabei.

Besaß sie das Recht ihm das Leben zu nehmen?

Sie dachte nach, und dann besann sie sich: «es hat sich schon lange nicht mehr geregt! Sonst hatte er doch immer so oft und kräftig «getobt», besonders wenn sie nervös gewesen war! Erschrocken begann sie zu lauschen! Eine Minute, noch eine. Keinerlei Lebenszeichen. Sie bewegte sich, wartete auf die gewohnte Reaktion. Doch da war keine. Abergläubische Angst befiel sie. Wie konnte sie derartige Gedanken zulassen. Und nun bestrafte Gott sie, indem er ihr das Kind nahm! Sie selbst hatte dieses Unheil auf sich, nein, nein, auf das Kind gelenkt! Sie sprang auf und rannte wie eine Verrückte zurück in die Siedlung, zu den Menschen. Und in diesem Augenblick rührte «es» sich!

Eine ungeheure Schwäche ergriff Besitz von ihr, die Beine gaben nach, und sie sank taumelnd, keinen Halt findend, am sandigen Ufer zusammen. Hier wurde sie von der Hauswirtin, die über ihr langes Fortbleiben beunruhigt gewesen war, gefunden. Sie brachte sie nach Hause, gab ihr heißen Tee zu trinken und deckte sie mit ihrer Decke zu. Im Morgengrauen setzten die Wehen ein. Die Hauswirtin brachte sie ans Ufer, setzte sie ins Boot und lieferte sie, an einer Schnur festgebunden, innerhalb einer Stunde in Turuchansk ab.

Das Entbindungsheim, ein sauberes Krankenzimmer, eine fürsorgliche Schwester. Wie in einer anderen Welt. In der Nacht setzten starke Wehen ein, die von Spritzen angeregt worden waren. Unter Qualen gebar sie einen Sohn. Sie nannte ihn Valerik. Zu Ehren Valerij Ukalows, in den sie sich verliebt hatte als sie noch ein Mädchen gewesen war. Ein Telegramm an mich, ein Telegramm von mir und eine Überweisung von 600 Rubel.

Valerik hatte häufig Fieber, und er verbrachte viele Monate im Krankenhaus. Sie war sehr einsam. Die Nachbarinnen besuchten ihre Verwandten und Bekannten. Zu ihr kam, freilich, niemand. Nur einmal betrat in einem über seine Matrosenjacke geworfenen Bademantel der Vorsitzende der Seliwanichowsker Kolchose das Krankenzimmer. Er wollte sie abholen, doch der Arzt erlaubte es nicht. Besorgt hörte sie stundenlang auf das Weinen der Säuglinge im benachbarten Raum und versuchte Valeriks Stimme zu erkennen. Meine Briefe trafen Ende der zweiten Woche ein. Alle nacheinander, mitunter zwei Briefe am Tag. Ich schrieb sie morgens und abends; dicke Briefe, wenn sie nur bei der Post angenommen wurden. Briefe mit Fortsetzungen. Ein ebensolcher Strom war auch von Nina an mich gerichtet.

Doch alles geht einmal zu Ende, auch der vorübergehende Aufenthalt im Krankenhaus. Und da steht sie am Eingang des Krankenhauses und drückt den in eine dünne Decke gewickelten Sohn an ihre Brust. Düsterer Himmel, niedrige Wolkenfetzen, ein kalter und scharfer Wind vom Jenissei. Wohin gehen? Wo Unterschlupf finden? Eine der Krankenschwestern half ihr. Sie brachte sie zu einer Bekannten, die in der Krestjanskaja-Straße 24 wohnte. Die Hauswirtin – eine Ortsansässige in fortgeschrittenem Alter. Ein Zimmer, groß, kalt. Ein Ofen mit Herdplatte. Daneben das Bett der Hausherrin. Ninas Lagerstatt wurde an der kalten Wand, unweit des Fensters, aufgestellt. Daneben auf Stühlen, eine kleine Wanne, Valeriks Bettchen. Wenn die Tür geöffnet wurde, strömten die kalte Luft direkt dorthin.

Für die Wohnmöglichkeit musste sie 100 Rubel im Monat bezahlen. Aber woher sollte sie die nehmen? Das Geld, das ich Nina bei ihrer Abreise aus Solikamsk gegeben hatte, und auch das, welches ich ihr zu Valeriks Geburt geschickt hatte, war schnell ausgegeben. O viele Dinge mussten für den Neugeborenen gekauft werden. Aber wie sollte es weitergehen? Arbeit gab es nicht, und es gab niemanden, bei dem sie Valerik lassen konnte.

In meinem letzten Brief versprach ich, ihr jeden Monat 450-600 Rubel zu schicken. Sie begriff, wie schwierig das für mich war. Mein «Lohn» betrug 200 Rubel. Außerdem hatten sie mir, im Zusammenhang mit häufigen Dienstreisen, auch in der Zeit als Nina sich noch in Kuschmangort aufhielt, Geldzuteilungen zu erhalten. Das machte weitere 400 Rubel aus. Aber wovon sollte ich leben, wovon mich ernähren? Und wie sollte ich dieses Geld übermitteln? Das war kein Brief, den ich irgendeinem Mitreisenden zur Weiterleitung aushändigen konnte. In den umliegenden Dörfern von Kuschmangort, unter anderem auch in Koltschuga, musste man zum Versenden von Überweisungen einen Ausweis vorlegen. Demzufolge war es notwendig, einen zivilen Mitreisenden nach Tscherdyn oder Solikamsk ausfindig zu machen. Oder Fajerstejn um Erlaubnis bitten, eine Überweisung tätigen zu dürfen. Allerdings nicht so oft.

Nina wusste das alles und, weil sie begriff, was für eine unzuverlässige Existenzquelle dies darstellte, machte sie sich auf die Suche nach Arbeit. Jeden Morgen ging sie, mit Valerik auf dem Arm, in Turuchansk von einem der wenigen Betriebe zum nächsten, von einer Amtsstelle oder Lehreinrichtung zur anderen, aber ohne Erfolg. Sobald man erfahren hatte, dass sie eine Verbannte war, erteilte man ihr, verlegen wegschauend, entweder sofort eine Absage oder riet ihr, in einer Woche oder einem Monat wiederzukommen oder sich an eine benachbarte Einrichtung zu wenden.

Anfangs verhielt man sich ihr gegenüber als wäre sie eine Lager-Schlampe (vielleicht kam es ihr auch nur so vor), später, als bekannt wurde, dass sie regelmäßig Überweisungen erhielt, änderte sich die Einstellung ihr gegenüber zumindest bei der Post. Es roch nach Romantik. Durch die Siedlung verbreitete sich das Gerücht, dass diese kraftlose Frau mit den traurigen Augen und dem Kind auf dem Arm jeden Tag Briefe erhält, mitunter mehrere, und alle von ein und demselben Mann. Das war so merkwürdig und ungewöhnlich. Denn viele von ihnen wären schon froh gewesen, wenigstens einen Brief im Monat zu bekommen. Wenn jetzt Passanten ihr mit dem Kind auf dem Arm begegneten und an ihr vorübergingen, schauten sie sich um und tuschelten miteinander.

Zum neuen Jahr hin wurden die Beziehungen zur Hauswirtin schwieriger. Letztere ärgerte sich über alles: Valeriks Weinen, sein tägliches Baden, Ninas Reinlichkeit. Besonders unerträglich wurde sie, als sie erfuhr, dass ich Deutscher war. Mehrmals bezeichnete sie Valerik in Ninas Anwesenheit als deutschen Abschaum. Verurteilt sie dafür nicht. In jenen Nachkriegsjahren bluteten die Wunden noch. Doch Nina musste sich schleunigst eine andere Behausung suchen. Eine gutartige Frau gewährte ihr Unterschlupf. An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Nachname lautete Inosemzewa. Sie lebte ohne Ehemann, aber mit sieben Kindern. Das älteste war zwölf, das jüngste fünf Jahre alt. Sie lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen, aber in Würde. In einem einzigen Zimmer. Der Boden war mit einer Plane bedeckt. Entlang den Wänden die Betten. Immer ein Bett für zwei. Die Betten wurden auseinandergeschoben, um Nina und Valerik ein Platz am Ofen freizumachen. Sauberkeit, Ordnung, Herzlichkeit.

Nun verstärkte Nina ihre Suche nach Arbeit. Sie war besorgt über ihre ungewisse Situation, wenn das eigene Leben, und folglich auch das Leben ihres kleinen Sohnes, vollständig davon abhingen, ob ich, der ich mich im Lager befand, in der Lage war Geld zu schicken. Bisher hatten sie es regelmäßig erhalten, dreimal im Monat 150-200 Rubel. Aber was würde sein, wenn mir etwas passierte. Wenn plötzlich die Leitung wechselt und man mich zu allgemeinen Arbeiten schickt oder mir die Möglichkeit nimmt, Geldbezüge zu erhalten oder mir letztendlich verbietet, Geld zu überweisen. Was sollte sie dann tun? Schließlich hatten weder sie noch Valerik staatlichen Anspruch auf auch nur einen Pfennig. Und kein einziger Mensch, bei dem sie sich im Notfall Geld hätten leihen können. Allerdings gab es Bekannte, vorwiegend Nachbarinnen, die Mitleid mit ihr hatten, mit Interesse ihren Berichten über mich, über ihre Hoffnungen und Pläne für die Zukunft zuhörten. Ihre Erzählungen kamen ihnen unwahrscheinlich und ihre Hoffnungen unerfüllbar vor. Nina ereiferte sich, versuchte zu beweisen, dass ich ein guter Mensch sei, der bestimmt kommen würde, aber sie zweifelten daran und schürzten ihre Lippen. Doch sie alle waren ebenso arm, wie ihre Hauswirtin, und es war unmöglich, von ihnen Geld zu leihen.

Aber es gab immer noch keine Arbeit. Eigentlich gab es sie schon. Es gab sogar Werbung, in der Buchhalter, Schreibkräfte gesucht wurden. Nina lief dorthin, aber man versicherte ihr, dass gerade gestern erst ein Mitarbeiter eingestellt worden sei, und dass es nun keine freie Stelle mehr gäbe. Schließlich beschloss sie, sich, schon völlig verzweifelt, zum Bezirkskomitee zu begeben. Sie vereinbarte einen Ternin mit der ersten Sekretärin, ohne zu sagen, dass sie eine Verbannte war. Ihre Vorstellung von dieser Institution wurde weder durch die Widrigkeiten des Schicksals noch durch die Erfahrung der Kommunikation mit Menschen oder die Gespräche mit mir erschüttert.

Nina wurde angenommen. Hinter einem Tisch mit drei Telefonen (für Turuchansk war das ein wichtiges Zeichen der Macht), saß einer energischer, noch recht junger Mann in Lederjacke. Als sich herausstellte, dass sie Verbannte war, empörte er sich.

- Wie konnten Sie es wagen hierher zu kommen, - schrie er, wo bei er mit den Füßen aufstampfte und hinzufügte:

- Die Tatsache, dass Sie Sekretärin des Bezirkskomitees der Komsomolzen-Organisation und Mitglied der Partei waren, macht Ihre Schuld nur schlimmer.
Die naive Ninotschka, Valerik an sich drückend, versuchte ein Wort einfließen zu lassen:

- Aber ich erkläre ihnen doch, dass es sich um einen tragischen Irrtum handelt, dass man mich verleumdet hat. Und an wen soll ich mich jetzt wenden? Main Söhnchen und ich könnten sterben.

- Ich habe nicht die Absicht ihren Erklärungen zuzuhören, und ich habe auch nicht das Recht dazu. Wenn man Ihnen eine Haftstrafe aufgebrummt hat, dann heißt das auch, dass Sie schuldig sind. Und vergessen Sie den Weg, den Sie hierher gemacht haben. Und schleppen Sie Ihr Kind nicht mit sich herum. Was eine Arbeit betrifft, gehen Sie zu den Organen oder zum Bezirksexekutiv-Komitee.

Er stützte seine muskulösen Hände auf die Tischplatte und drückte auf die Klingel.
Eine hübsche, geschminkte Sekretärin trat ein und sah ihren Chef fragend an.

- Schauen Sie sich diese Frau aufmerksam an und merken Sie sich, dass diese Füße niemals das Bezirkskomitee der Partei betreten.

Das war‘s! Gebrochen, niedergeschlagen, vor Schwäche und Erniedrigung taumelnd, verließ sie die Behörde, die sich immer für das Symbol menschlicher Gerechtigkeit gehalten hatte.

Ein paar Tage später, nachdem sie wieder ein wenig zu sich gekommen war, beschloss sie, einen weiteren Versuch zu unternehmen und sich im Bezirksexekutiv-Komitee an die Vertreter der Sowjetmacht zu wenden. Ein betagter Mann mit gepflegt aussehendem Gesicht, zarten, etwas zittrigen Fingern und einer hellen Krawatte, an die sich auch später noch erinnerte, nahm sie dort in Empfang. Auf der geraden, schlanken Nase trug er einen goldenen oder vergoldeten Zwicker.

Ohne von ihm irgendetwas Gutes zu erwarten, begann sie zu sprechen. Und wunderte sich. Man hörte ihr zu, und, wie es schien, sogar voller Mitleid. Valerik saß still auf ihren Armen und betrachtete den Onkel. Froh darüber, dass man ihr zuhörte, hielt sie sich mit dem von ihr beabsichtigten, lakonischen Bericht zurück, ging ins Detail und verstummte plötzlich erschrocken.

Der Vorsitzende des Bezirksexekutiv-Komitees, denn das war, fragt:

- Ich habe alles verstanden! Womit kann ich ihnen helfen?

- Helfen Sie mir irgendeine Arbeit zu finden. Mein Ehemann unterstützt uns ein wenig, aber auch er befindet sich in einer äußerst schwierigen Lage. Ich war schon in der Schule, dort brauchen sie eine Sekretärin, ich war bei der Bezirkskonsum-Genossenschaft – dort wird ein Buchhalter gesucht, ich war in der Kantine – dort benötigen sie einen Rechnungsführer, aber alle erteilen mir eine Absage, weil ich Verbannte bin. Aber wovon soll ich leben? Ich selbst bin bereit zu sterben, aber ich habe doch meinen kleinen Sohn.

- Gut, ich habe von ihnen bereits gehört. Gehen Sie nach Hause, und morgen besuchen sie noch einmal die Institutionen und bringen in Erfahrung, wo wer gebraucht wird. Ich versuche Ihnen zu helfen. Aber gehen Sie nicht in die Schule, das ist gefährlich, da herrscht die Ideologie.

Von Hoffnung und der menschlichen Haltung ihr gegenüber beflügelt, ging Nina nach Hause. Einige Tage später stellte man sie als Buchhalterin der Kantine der Bezirkskonsum-Genossenschaft ein. Ihr Gehalt war nicht hoch - 350 Rubel im Monat. Janina Jossifowna Sakutilina, die Oberbuchhalterin, berichtete: “Ich habe diese abgemagerte Frau mit den grauen, traurigen Augen und dem Kind auf dem Arm schon lange bemerkt. Aber da ich wusste, dass sie eine Verbannte ist, konnte ich ihr nicht helfen. Mehrfach habe ich mich mit der Bitte an die übergeordneten Institutionen gewandt, sie einzustellen, aber ich bekam unverändert Absagen. Und erst gestern fiel dann plötzlich so eine Entscheidung.”

Janina Jossifowna wies Nina einen Tisch, ein Rechenbrett und eine Addierbuchungsmaschine zu, brachte ihr Listen und bat sie, sie sie zu berechnen und die Ergebnisse zusammenzufassen. Nina versuchte verzweifelt sich an das zu erinnern, was ich ihr beigebracht hatte, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Sie sah auf das mit Zahlen übersäte Blatt, das vor ihr lag, geschrieben mit violetter und roter Tinte, und wurde von Verzweiflung erfasst. Das war’s! Sie musste gehen. Aber sie ging nicht. Janina Jossifowna weckte in ihr sehr feinfühlig die erforderlichen Erinnerungen. Allmählich, Tag für Tag, taute sie auf, ihr Herz und ihr Gedächtnis wurden neu geboren. Sie machte sich an die Arbeit.

Valerik blieb Zuhause, bei der ältesten Tochter der Hauswirtin, die such auch vorher schon sehr freundlich ihnen gegenüber verhalten hatte. Und wenn die Umstände das Arbeiten am Abend erforderlich machten, nahm sie Valerik mit ins Büro, und er rollte begeistert die Rechenbretter über den Boden. Valerik war bereits 10 Monate alt. Bis zu meiner Freilassung waren es noch fast fünfhundert Tage.

Für mich war diese Zeit auch nicht leicht. Freilich litt ich keinen Hunger, musste nicht frieren, litt nicht unter kräftezehrender körperlicher Arbeit. Mehr noch, meine Lage war, nach Lagermaßstäben gemessen, mehr als günstig. Fajerstejn wertete mich als Spezialisten, in dem er mich zu Erörterungen über Produktionsfragen heranzog, insbesondere wenn sie die Interessen der Buchhaltung berührten. In den Sommermonaten beschäftigte ich mich mit seinem Sohn mit Mathematik und Physik und bereitete ihn auf seine Einschreibung an der Universität vor. Die besten, sogar freundschaftlichen Beziehungen kamen zwischen mir und Jerschow zustande. Er absolvierte ein Fernstudium am Institut, und wir studierten jetzt abends gemeinsam die Arbeiten der Klassiker des Marxismus-Leninismus.

Die Verbindung zur Zentral-Buchhaltung des UssolLag festigte sich, wohin man mich in letzter Zeit jedes Quartal einmal zur Mitwirkung bei der Erstellung des konsolidierten Rechenschaftsberichts bestellte. Schachanow, Ober-Buchhalter der Verwaltung hatte bereits mehrmals mit mir Gespräche geführt und mir vorgeschlagen, nach meiner Freilassung in Solikamsk zu bleiben. Er versprach gute Bezahlung und eine Wohnung. Sicher war das ein sehr verlockendes Angebot. Der Norden des Gebiets Molotow (heute Perm) gehörte zum Territorium der Ansiedlung von Sondersiedlern und Verbannten, so dass im Prinzip sowohl ich als auch Nina uns in Solikamsk niederlassen konnten. Aber ist Tarasjuk bereit, bei Ninas Verlegung behilflich zu sein, wir die Bitte Schachanows dafür ausreichen? Vieles hing von meiner Arbeit ab. Ich begriff das sehr wohl und arbeitete, ohne die Hände in den Schoß zu legen.

Jetzt, besonders nachdem es gelungen war, den «Archipel Gulag» durchzulesen, schäme ich mich, diesen Lebensstil zuzugeben. Es stellt sich heraus, dass ich nicht nur ein typischer «Schwachkopf», sondern auch ein Karrieremacher bin. Doch was sollte ich tun. Hunderte Male wendete ich verschiedene Varianten hin und her, auf der Suche nach einem Ausweg aus der Lage. Die näher rückende Freilassung erfreute und verängstigte mich zugleich. Ich hatte Angst vor der Verantwortung gegenüber dem Schicksal und möglicherweise auch gegenüber Valeriks und Ninas Leben.

Aber noch schwerwiegender, noch quälender verspürte ich die Trennung. Erst jetzt begriff ich wirklich, dass das Lager nicht nur eine Hungerexistenz bedeutete, nicht nur maßlos schwierige Lebensbedingungen, nicht nur Willkür und Demütigungen. Auch wenn du aus all diesem Grauen herausgekommen bist und im Lager ein vergleichsweise gutes Leben erreicht hast, findest du keine Ruhe. Da ist noch etwas, vielleicht das Wichtigste, das einen bis in den Wahnsinn treiben kann – die fehlende Freiheit, die Unmöglichkeit über sein eigenes Schicksal zu verfügen, mit den nahestehenden und liebsten Menschen zusammen zu sein. Bis heute hatte ich Glück. Durch den Preis beharrlicher Arbeit war es gelungen, die Gewogenheit der Leitung zu erlangen. Obwohl das ganze System sich dagegen auflehnte, dass der Mensch überlebte und wieder auf die Beine kam, doch auch da gab es Misserfolge: es fanden sich Menschen, die halfen, ohne Verrat zu verlangen. Das erlaubte es mir, ein gewisses materielles Wohlergehen zu erlangen. Doch nun erwies sich die Möglichkeit mich protegierender Leute als unerreichbar, und ich empfand mit ganzer Schärfe die unbarmherzige Grausamkeit der Staatsmaschinerie.

Jetzt waren Briefe das Bindeglied zwischen Nina und mir geworden, und die schrieben wir. Viele von ihnen sind bis heute erhalten geblieben. Ein Berg von Briefen. Es gab darin keine tiefgründigen Ideen, philosophischen Überlegungen, künstlerische Qualitäten. Dafür fanden sich darin Einzelheiten, Kleinigkeiten des Alltags, welche die Illusion der Anwesenheit schufen. In Ninas und Valeriks Leben war für mich alles von Interesse, alles wichtig.

Wie freute ich mich über die beigelegten Fäden, mit denen Nina seine Größe maß, die Umrisse seiner Hände, Abdrücke seiner Handflächen, seine Haarlocken und Krakeleien. Als er sich einmal in den Finger geschnitten hatte, beschmierte er den Brief mit seinem Blut und Nina kennzeichnete die Stelle mit einem Kreis. Ich küsste diesen kleinen Fleck lange. Seit der Zeit tauchte in jedem unserer Briefe ein Kreis auf, und wenn ich den Brief erhielt, küsste ich diese Stellen zuallererst. Abends, besonders bei Vollmond, wenn Moskau das Signal für die exakte Uhrzeit gab, schauten wir gleichzeitig auf den Mond, und es kam uns so vor, als ob unsere Seelen sich berührten.

Und dann die Erinnerungen! Ich fand sie überall: in Gegenständen, Ereignissen, Naturerscheinungen, Menschen. Ihre Suche führte mich nach Stabnaja, genauer gesagt zu dem, was von ihm nach der Schließung übriggeblieben war.

Wir schrieben Ende Juni 1950. Ein freier Tag. Ein herrlicher Tag, wolkenlos, Stille, Stille. Wasja Sereda und ich streiften durch den Wald, über die Felder, und das Herz zog sich an jeder bekannten Wegbiegung zusammen. Schomschino, der Brunnen, die lange schattige Allee mit den großen weitverzweigten Bäumen, dann der schmale Pfad. Wasja und ich entkleideten uns bis zur Gürtellinie, um wenigstens ein bisschen braun zu werden. Wir gingen langsam, atmeten genussvoll die frische, nach Fichtennadeln duftende Luft ein. Für Wasja war das alles neu, während mich alles an Nina erinnerte. Sie und ich waren hier nur ein einziges Mal gewesen, und doch erinnerte ich mich an alles ganz genau. Dort der Bach, der den Weg kreuzt, daneben der Baumstamm, auf dem Nina und ich uns manchmal ausgeruht hatten. Ich bog nach rechts ab, ging zwischen den Bäumen hindurch, wo uns einmal ein Eichhörnchen so sehr erschreckt hatte. Wasja sah mich verwundert an, bemerkte die Tränen in meinen Augen. Er wusste von nichts, und natürlich sagte ich ihm auch nichts.

Schließlich Stabnaja. Alles war zerfallen, von Gras überwuchert. Nachdem wir am Wachhaus vorbeigegangen waren, drehten wir nach rechts zum Kontor ab, betraten die ehemalige Planungsabteilung, Fajerstejns Kabinett, dann die Buchhaltung. Wir standen am Fenster, neben dem einst Ninas und mein Tisch gestanden hatten. Der Boden war jetzt an dieser Stelle eingestürzt, man sah die Bodenbalken, Fragmente von Brettern ragten heraus, und zwischen ihnen die Büschel von Brennnesseln.

Das gegenüberliegende Fenster – hier stand damals Pustowoits Tisch. Nun gab es ihn nicht mehr. Ein paar Kisten waren in sich zusammengefallen. Ein Stück Telefonleitung hängt von oben herab. Genau hier, in dieser Ecke der Buchhaltung hatte ich mit Nina zum ersten Mal scharf gesprochen. Wir waren zu zweit gewesen, längst war der Gong zur Bettruhe ertönt. Ich hatte ihre vollständige Trennung von David gefordert, sie litt und quälte sich. Verstand, Gewissen und Gefühl kämpften in ihrem Inneren. Olja war angelaufen gekommen, hatte versucht, sie von mir wegzuführen. Nina hatte den allerletzten Kuss von mir gefordert. Mein Gott, was war damals in meinem Herzen geschehen, aber trotzdem hatte ich sie zurückgewiesen. Meine Arme, Liebe, wieviel Schmerz und Leid hatte ich ihr damals zugefügt, aber anders hatte ich doch nicht vorgehen können. Wir hätten eine Wahl treffen oder zu weit gehen und den Rahmen unserer einfachen freundschaftlichen Beziehungen überschreiten sollen. Ich hatte mich damals viel zu grausam benommen, aber dieser anstrengende mentale Kampf musste beendet werden. Ich erinnere mich an Oljas Empörung, die mir Leichtfertigkeit und Unmenschlichkeit vorgeworfen hatte. Ich weiß noch, wie sie Nina zugeredet hatte sich nicht demütigen zu lassen und zu David zurückzukehren. Aber unsere Gefühle waren stark gewesen. Nina blieb.

Dort drüben die Krankenbaracke (wir nannten sie Krankenstation), wo ich Nina ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft ein Buch durch die Lüftungsklappe gereicht hatte und, nachdem wir zwei-drei bedeutungslose Sätze gewechselt hatten, verlegen fortgegangen War: Dort die Kabine der Sanitätsstelle, in der Musja Olejnik gearbeitet und wo mein letztes Gespräch in Stabnaja mit David Andrejewitsch stattfand, indem er von mir verlangt hatte, dass ich ihm Zutritt zu Nina gewährte.

Da drüben die Frauen-Baracke, an der ich mich, wenn ich Nina abends von der Arbeit begleitete, von ihr verabschiedete, anfangs durch Drücken der Hände, später mit einem zaghaften Kuss auf die Stirn. Wir traten ein. Und auch hier Spuren der Verwesung und der Zerstörung. Die Doppelstockbetten waren krumm und schief, auf allem lag eine dicke Staubschicht, und durch die Ritzen war das Gras hindurchgewachsen. Glasklar erinnerte ich mich an Neujahr, als ich, trotz unseres Streits, zu Nina hereingeschaut hatte, um ihr meine Glückwünsche zu übermitteln. Sie hatte krank darnieder gelegen, David an ihrem Fußende, gegen die oberen Pritschenbretter gelehnt, gestanden. Nachdem ich ihn beiseitegedrängt hatte, war ich zu Nina herangetreten und hatte sie, während ich ihr Glück für das neue Jahr wünschte, auf die Wangen geküsst.

Und dann schließlich betraten wir Jakob Jakowlewitschs und meine Kabine. Die Tür herausgerissen, der Ofen auseinandergefallen, das Fenster ohne Glas. Meine Liegestelle ist immer noch da, mit zerbrochenem Mittelteil. Ich weiß noch genau wie ich darauf lag, und Nina stand außen am Fenster, einen Birkenzweig in den Händen haltend. Die klare Herbstsonne spielte in ihren Haaren und den gelbverfärbten Blättern. Still lächelte sie mich an. Diese Blätter, die vertrocknet waren und bei jeder unachtsamen Berührung zerbröckeln konnten, habe ich noch viele Jahre aufbewahrt – als Zeugen des damals aufkeimenden Gefühls.

Wir verließen Stabnaja bereits am Abend, voller Erinnerungen und Trauer. Wir gingen bis Traktowaja und kehrten dann mit der Eisenbahn ins OLP zurück. Am Tag nach unserer Reise in die Vergangenheit begann die nächste Kalkulationsaktion. An dem Halbjahres-Rechenschaftsbericht arbeiteten wir unter neuen Bedingungen. Die abendliche Tätigkeit der Wachen wurde aus Sicherheitsüberlegungen abgeschafft. Alle, die keinen Ausweis besaßen, wurden um sechs Uhr abends in die Lager-Zone zurückgebracht.

Nur Wasja Sereda und ich blieben. Bis zu zwei-drei Nächten blieben wir auf. Während der Arbeit nagten wir am Hungertuch – es gab niemanden zum Kochen. Als wir in die Zone zurückkehrten, legten wir uns sofort schlafen. Ich wohnte jetzt in der Baracke des verwaltungstechnischen Personals. Die Kabine war für mich nutzlos, es gab nur überflüssige Sorgen und Erinnerungen an die Vergangenheit.

Mitte Juli die nächste Fahrt nach Solikamsk mit den Rechenschaftsberichten. Ich nutzte sie dazu, so viele Briefe wie möglich zu verschicken. Ninas Briefe kamen nach Kuschmangort, und ich konnte sie erst bei meiner Rückkehr bekommen. In den Tagen meiner Abwesenheit sammelten sich eine Menge davon an. Es ging darum vorwiegend um - Valerik. In einem von ihnen ein Foto: Nina und Valerik. Valerik mit zehn Monaten. Nina war sehr mager geworden, ihr Gesichtsausdruck traurig. Valerik pummelig, in einem kleinen Anzug, streichelt ihre Wange und sieht so aus, als ob er sagen will: «Mama, sei nicht so niedergeschlagen, mit mir wirst du nicht untergehen».

Ende August fuhr ich gemeinsam mit Wasja zu den oberen Lagerpunkten, um Jerschow bei der Heumahd zu helfen. Was war das für eine angenehme Zeit! Nach all den endlosen Zahlenreihen, dem Papierkram, den Akten aus den verrauchten, stickigen Räumen der Buchhaltung auf eine Wiese zu gelangen, die mit jungen, zarten Birken bewachsen war, die mit dem Duft von Blumen angereicherte frische Luft zu atmen, die körperliche Müdigkeit zu fühlen und zu sehen, wie mit jedem Sensenschwung das gemähte Heu zu den Füßen herniederfiel.

Am 19. September erhielt ich von Nina einen Brief mit einer weiteren Fotografie von Valerik. Er war nun ein Jahr alt. Auf dem Foto steht er in einem Samtjäckchen auf einer kleinen Truhe, die sich auf einem Stuhl befindet. Es sieht so aus, als ob der ganze Aufbau wackelt. Jedenfalls sieht Valerik angespannt aus und weint ein wenig. Vielleicht, weil er sich nirgends festhalten kann. Daneben auf einer Etagere eine Torte mit einer Kerze in der Mitte – eine Erinnerung an meine eigene Kindheit. Valerik sieht keineswegs schlecht aus: groß, wohlgenährt, pausbäckig und mit einem Band um die Stirn.

Anfang Oktober wieder der Quartals-Rechenschaftsbericht und die Fahrt nach Solikamsk. Jemand hatte eine Beschwerde geschrieben, dass ich im städtischen Gasthaus wohnte. Zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten wohnte ich dann in einem der Lagerpunkte des KOLP – «Garasch». Die Bedingungen erwiesen sich dort für mich nicht schlechter als im Gasthaus und es war dort zudem auch noch billiger. Erneut Unterredungen mit Schachanow. Aber nichts Bestimmtes. Nur Überzeugungsarbeit, aber keine Garantien. Anfang November kehrte ich mit Umnows eigenem Boot zurück. Er folgte uns nach Kuschmangort. Der mit Stahlblech ummantelte Rumpf bebte von den häufigen Schlägen des Senkholzes und, weiß der Herrgott, woher die Eisschollen kamen. Es wurde früh kalt. Vom Oberlauf der Kama und der Wischera treibt ein dichtes Eisschlamm-Feld heran, es reibt am Rumpf und bröckelt auseinander. Auf dem Boot ist es warm, gemütlich. Die Mannschaftskajüte und Umnows Büro sind mit Mahagoni-Holz abgeteilt. Eine heiße Dusche, gutes Essen.

Zuhause in Kuschmangort erwartete mich ein Haufen Briefe von Nina. Nach ihnen zu urteilen, hatte sich ihr Leben ganz gut zusammengefügt. An die Arbeit hatte sie sich gewöhnt, das Gehalt war nicht hoch, kam aber regelmäßig. Plus meine Überweisungen. Allerdings hatte sie auch hohe Ausgaben: die Miete für die Wohnung, das Kindermädchen, ein wenig für Valeriks Kleidung, denn er war gewachsen, und das recht schnell. Für Lebensmittel blieb nur wenig übrig. Und die waren doppelt so teuer wie bei ins im Ural: ein Dutzend Eier – 25 Rubel, bei uns - 10; Milch - 4 Rubel pro Liter, bei uns – 2. Zudem war die Belieferung des Nordens im Winter 1950 sehr schlecht. Die Geschäfte waren so gut wie leer. Nina bereitete einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu. Die übrige Zeit trank sie - Tee. Schon längst hätte sie Valerik abstillen sollen, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen. Sie hatte stark abgenommen. Der Polarwinter nahte und Nina war praktisch nackt. Sie brauchte einen Wintermantel und vor allem Stiefel. Aber für derartige Einkäufe reichte das Geld nicht.

Im Brief vom 23. November schrieb sie: «Mir ist traurig ums Herz, das letzte Schiff ist abgefahren, die Zeit der Schiffbarkeit auf den Flüssen ist zu Ende, der Winter ist hereingebrochen, bald wird es starken Frost geben. Valerik ist nun schon fast ein Jahr und drei Monate alt, er läuft gut, spricht aber schlecht. Er singt sehr gern Lieder mit dem Onkel aus dem Radio – er tanzt, wodurch er sein linkes Bein ausgerenkt hat und beinahe einen Monat im Gips gelegen hat. Jetzt ist es bereits fünf Tage her, seit sie ihm den Gips abgenommen haben, er geht wieder. Mein süßer kleiner Tänzer.

Wenn ich nach Hause komme, begrüßt er mich mit den Worten «Ti-ti». Aber es ist, in der Tat, Zeit, ihn von der Brust zu entwöhnen, du hast recht, dass du schimpfst. Mir tut das alles leid. Ein sehr gescheites Jungchen; alles, wonach ich frage, findet er und bringt es mir. Ruhig und gelassen begibt er sich in die dunkelste Ecke, Hunde und Katzen liebt er über alles. Er ist ein guter Junge – er gibt allen etwas zu essen, teilt mit allen.

Er mag gern Schlitten fahren – man kann ihn den ganzen Tag herumfahren, und er hat nie genug davon. Er mag mit Kindern spielen, aber am liebsten geht er zu den Großmüttern. Zu den Onkeln – auf gar keinen Fall. Offensichtlich deswegen, weil der Onkel Doktor ihm in den Finger gepiekst hat – er hat Blut für eine Untersuchung abgenommen und ihn dann auch noch mit dem kranken Beinchen zum Röntgen gebracht, und da waren drei Onkel, und außerdem war es dort dunkel. Mit denen, die er kennt, spielt und lacht er, aber wenn ein Unbekannter ankommt – kannst du ihn nicht dazu bewegen zu lächeln. Da bleibt er sehr ernst».

Je näher die Zeit meiner Freilassung rückte, desto mehr quälte Nina sich mit Zweifeln. Ob ich überhaupt kommen würde, und wenn ich komme, ob ich dann Arbeit bekäme oder keinerlei Möglichkeiten hätte mich zu verwirklichen. Sie wollte, dass ich Valerik genauso liebhatte, wie sie selbst, und fürchtete doch gleichzeitig, dass ich nicht vorrangig wegen der Liebe zu ihr, sondern wegen eines Schuldgefühls gegenüber Valerik kommen würde. Ich versuchte sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn ich jetzt meine und Ninas Briefe durchblättere, bin ich verwundert über die Kleinigkeiten, die sie quälten. Sie zitterte vor allem aufgrund ihrer Liebe zu ihm, aber auch, weil sie glaubte, er sei das Wichtigste, was uns miteinander verband.

Das neue Jahr 1951 begrüßten Wasja Sereda, Wasja Schindin, Arkadij Fedossejewitsch und ich in einer Baracke des Lagerpunktes Golownaja. In den Bereich außerhalb der Zone ließen sie niemanden. Das Regime war, wie immer in jenen Tagen, verschärft.


Turuchansk, Winter 1950
Nina und Valerik in der Verbannung


 Turuchansk, September 1950


Turuchansk, September 1951
Valeik, 2 Jahre alt


 Turuchansk, 1952
Bis zum Wiedersehen waren es nur noch zwei Monate

Trotzdem hatte Wasja Schidrin es fertiggebracht, eine Flasche Wein zu beschaffen. Wir feierten das neue Jahr dreimal: um 20 Uhr Moskauer Zeit gemeinsam mit den Turuchanskern, um 22 Uhr – mit den Ural-Bewohnern und um 24 Uhr mit den Moskauern.

Die Stimmung ist schlecht. Alle Gedanken sind bei Nina und Valerik, dabei, wie schlecht es ihnen gehen muss in dieser einsamen Neujahrsnacht. Ich versuche mir Turuchansk vorzustellen. Am hohen, steilen Ufer des Jenisseis niedrige, schneebedeckte Häuschen mit kleinen, mit Eisblumen besetzten, Fenstern. Der Wind heult. Wolken von feinem Schnee klopfen knisternd an die Scheiben. Nina kann sicher nicht schlafen. Sie beugt sich über Valeriks Bettchen und küsst ihn. Er zuckt zusammen, reibt sich mit den Fäusten die Augen. Nina löscht das Licht aus Angst, dass er aufwachen könnte, und tritt ans Fenster. Unendliche Finsternis umfängt sie. Und die Gedanken sind weit jenseits der weißen Weiten der Tundra, jenseits der in der winterlichen Kälte erstarrten Wälder, den weißen Schneemützen der Berge.

Aber vielleicht ist Valerik krank und sie haben nichts zu essen! Ein Gedanke ist sorgenvoller als der andere; sie quälen mich. Die Vorstellungskraft malt die dunkelsten Bilder, und es scheint – je düsterer sie sind, umso besser geht es ihnen dort.

In Wirklichkeit war alles nicht so, wie ich es mir ausmalte, zumindest nicht so romantisch. Das neue Jahr begrüßten Nina und Valerik bei den Sakutilins. Es ging recht fröhlich zu. Man scherzte, lachte und tanzte sogar. Wie Nina mir später in einem Brief schrieb, verließen sie allerdings die Gedanken an mich keine einzige Minute. Valerik spielte den ganzen Abend mit Rita – Janina Josifownas ältester Tochter. Um Mitternacht küsste Nina ihn und fing an zu weinen, und alle versuchten lange Zeit sie zu beruhigen.

Am Morgen ging sie mit Valerik zum Tannenbaum, der für die Mitarbeiter in der Kantine aufgestellt worden war. Eine schöne Tanne, reich geschmückt. Die Kleinen alle drumherum. Nina und Valerik verspäteten sich, die Kinder tanzten bereits zur Bajan-Musik, stampften mit den Füßen, jedes so wie es konnte. Fröhliche, zufriedene Gesichter. Valerik trug einen weißen Mantel aus Hasenpelz und eine ebensolche Mütze. Als sie hereintraten, riefen die Kinder: «Väterchen Frost, Väterchen Frost» und platzierten ihnè, ohne dass er die Gelegenheit hatte sich auszuziehen, unter der Tanne. Valerik, der all dies zum ersten Mal sah und nicht begriff, was vor sich ging, erstarrte mit weit aufgerissenen Augen. Und die Kinder fassten sich bei den Händen und sangen ein Lied vom Tannenbaum. An jenem Abend betete Nina zu Gott, dass dieses Neujahrsfest das letzte sein möge, welches wir getrennt voneinander verbrachten. Aber es gab wenig Hoffnung dazu, und ihre Briefe waren voller Sorge über die Zukunft.

Und ich hatte immer noch keine Gewissheit. Werden sie unsere Ehe in Abwesenheit registrieren? Wenn sie es tun, werden sie Nina dann nach Solikamsk kommen lassen? Und wenn nicht, was sollte dann werden? Vielleicht wäre es sicherer, sofort nach Turuchansk zu fahren? Aber was sollte ich dort tun, würde ich Arbeit finden? Dieses Problem ließ mir keine Ruhe. In meinen Briefen beruhigte ich Nina, in dem ich sie davon überzeugte, dass wir auch in Turuchansk unser Leben einrichten könnten, dass ich ein Gewächshaus einrichten würde, damit wir das für Valerik so wichtige Gemüse zur Verfügung hätten. Glaubte ich selbst an das, was ich da schrieb? Scheinbar tat ich es. Schließlich war ich ein aktiver Mensch, der bisher, zumindest in kleinen Dingen, Glückgehabt hatte.

Am 25. Februar traf aus der Verwaltung ein Fernspruch ein, in dem verlangt wurde, über mich einen Fragebogen auszufüllen. Derartige Anfragen trafen für alle inhaftierten Deutschen ein, um die Siedlungsort für ihre Zeit nach der «Freilassung» festzulegen. Am schwierigsten war für mich die Frage zum Familienstand: sollte ich von Nina und Valerik schreiben oder nicht? Schließlich gab es keinerlei Dokumente darüber, dass wir eine Familie waren. Und außerdem – wenn ich sie hineinschreibe, würde es mir dann gelingen, in Solikamsk zu bleiben? In der Nacht wurde ich von zweifeln gequält und beschloss am Morgen es zu versuchen: wenn sie es erlauben, schreibe ich es. Sie erlaubten es. Was danach kommen würde, war unklar.

Und das Regime im Lager wurde immer härter. Die Trennung von Männern und Frauen wurde beendet. Alle Politischen, mit Ausnahme derer, die nach § 58-10 verurteilt worden waren, wurden in Sonderlager geschickt. Immer häufiger trafen Gefangenen-Etappen mit Haftstrafen bis zu 25 Jahren ein. Besonders viele Personen kaukasischer Nationalität: Aserbeidschaner, Inguschen, Tschetschenen. Letztere fielen auf. Sie waren hart, entschlossen, engstirnig und gnadenlos. In ihrer Anwesenheit wurden selbst unsere tollkühnsten Kriminellen kleinlaut.

Ich erinnere mich an einen Vorfall, der unser OLP erschütterte. In der Arbeitszone verletzte einer der Kriminellen durch einen Messerstich einen Tschetschenen an der Hand. Seine Landsleute stürzten ihm zu Hilfe. Die Wachen leisteten der Bitte des Banditen Folge, brachten ihn in die Wohnzone und steckten ihn in die Isolationszelle. Als die Tschetschenen am Ende des Arbeitstages in die Lagerzone zurückkehrten, drangen sie in die Baracke der Kriminellen ein, wobei Letzteren weder ihre zahlenmäßige Überlegenheit noch ihre geschärften Messer und Schlagringe halfen. Die Tschetschenen verprügelten sie und warfen sie aus dem Fenster. Hinter ihnen hoben Sanitäter die kaum noch lebenden Banditen auf Tragen und brachten sie in die Krankenstation. Als die Tschetschenen den Urheber nicht ausfindig machen konnten und schließlich erfuhren, dass er sich im Isolator befand, schleppten die Tschetschenen Matratzen herbei und versprachen, nachdem sie die Isolationszelle mit Stroh ausgestreut hatten, diese in Brand zu stecken.

Fajerstejn, dessen Dienstreise abgesagt wurde, rettete die Situation. Er sicherte zu, dass der Bandit, der den Tschetschenen verwundet hatte, verurteilt würde und man die übrigen Kriminellen aus dem OLP entfernen wolle.

Ende März wurde Jerschow als stellvertretender Leiter der Finanzabteilung der Verwaltung nach Solikamsk versetzt. Für uns in Kuschmangort wurde der zivilangestellte Buchhalter des Amborsker OLP, Balakirew, zum Oberbuchhalter ernannt. Obwohl ich ihn schon lange aus der Verwaltung kannte, war er doch nicht so wie Jeschow. Die Rechnungslegung für das erste Quartal wurde bereits mit Balakirew vorgenommen. Bis nach Tscherdyn mit Pferden, und von Tscherdyn bis Solikamsk in einem kleinen zweisitzigen Flugzeug. Wir flogen die 100 km in drei ein Viertel Stunden. Es schaukelte fürchterlich. Um mich nicht übergeben zu müssen, biss ich mir in die Hände. Das bei diesem Flug erworbene Syndrom blieb mir für viele Jahre erhalten. Dafür kehrten wir per Schiff in einer Zwei-Mann-Kajüte zurück.

Zuhause erwartete mich ein Haufen Briefe. Nina schrieb, dass es ihr gelungen war, Valerik im Kindergarten unterzubringen, obwohl er noch nicht einmal zwei Jahre alt war. Er kam vollständig allein zurecht. Die Kindergärtnerinnen konnten sich nicht rühmen, und Nina war sehr stolz auf ihn. Doch eines Tages ließ er sie im Stich. Im Garten schaufelte der Ofensetzer, als er den Ofen reparierte, einen Haufen Ruß und Asche in die Badewanne. Valerik kletterte, so wie er war, im schneeweißen gebügelten Hemd und kurzen Hosen, in die Wanne und fing an zu «schwimmen».

Einer meiner Mai-Briefe ist Faber gewidmet. Ich habe seine Familie immer bewundert, so friedlich und umgänglich, und plötzlich stellte sich heraus, dass seine Ehefrau ihn schon lange betrog. Die Familie fiel auseinander: zwei Söhne, einer zehn, der andere sieben Jahre alt, waren nun ohne Vater. Dabei schien es, als wenn sie alles Glück der Welt hatten. Und vor allen Dingen waren sie zusammen, konnten jeden Tag miteinander reden, man ließ sie beisammen – nicht so wie wir, tausende Kilometer voneinander getrennt. Aber wie wird sich Ninas und mein Leben gestalten, wenn wir endlich zusammen sein werden? Welche neuen Probleme werden sich vor uns aus den Höhen des erlangten Glücks eröffnen?

Der Wurm des Zweifels baute sich in den tiefen meiner Seele sein Nest. Wieder die Eifersucht. Eifersucht gegenüber den Leuten, welche Nina umgaben. Schließlich waren wir bereits seit fast zwei Jahren getrennt. Wahrscheinlich gab es dort nicht wenige interessante Männer. Und Nina liebte doch das Tanzen so sehr. Vermutlich gibt es dort auch einen Klub. Sicherlich wird sie nicht jeden Abend zu Hause sitzen. Er verjagte diese Gedanken aus meinem Inneren, aber sie tauchten immer wieder in meinem Bewusstsein auf. Aber trotzdem war meine Liebe stärker als die Eifersucht. Hier mein Brief vom 8. Juni 1951.

«Heute Morgen, als ich zur Arbeit ging, habe ich zum ersten Mal in diesem Jahr die Blumen gesehen, erinnerst du dich, jene wilden keinen Stiefmütterchen, die ich dir damals jeden Morgen mitgebracht habe. Was waren das für gute wenn auch beunruhigende Tage. Jeden Morgen hatte sah ich mit dem neuen Tag auch ein Ziel vor Augen, Anstrengungen, Freude und Sorgen, aber jeder Tag war von dir erfüllt.

Wenn ich ins Kontor ging, lief ich bewusst nicht den Weg entlang, sondern durch die Felder; meine Augen wanderten über das Gras, auf der Suche nach Stiefmütterchen, die hier und da schüchtern hervorschauten. Sie nickten und lächelten mich an, und mit ihnen lachte die gesamte Natur. Im Egoismus meiner Liebe pflückte ich sie, entzog ihnen erbarmungslos ihr Leben, und die Möglichkeit dir Freude zu geben rechtfertigte in meinen Augen alles.

Das ist schon so lange her, und so lange habe ich keine Stiefmütterchen mehr gepflückt, nicht die fröhlich lächelnde Sonne bemerkt, denn du warst nicht bei mir und der Morgen verhieß mir keine Begegnung mit dir. Die Tage waren eintönig und leer, und deine Gedanken sind fern, so fern.

Und nur bisweilen, so wie heute Morgen, als ich für einen Moment aus der Hektik des Lebens erwachte, bemerkte ich voller Verwunderung, dass die Natur, gleichgültig gegenüber den menschlichen Problemen, immer noch das gleiche unveränderte und schöne Leben führt.

Es war früh am Morgen, die ersten Strahlen der zarten nordischen Sonne beleuchteten die Gipfel der Kiefern; ihre schrägen Strahlen wärmten noch nicht, und die Luft war noch erfüllt von der nächtlichen Kühle. Ich ging, wie damals, langsam, nach Kräften bemüht, die mich umgebende Schönheit und die Erinnerungen in vollen Zügen zu genießen. Alles um mich herum erinnerte mich so stark an die Vergangenheit, dass ich unfreiwillig wieder mit meinen Augen das Gras absuchte, und die Stiefmütterchen mir wieder, genau wie damals, zunickten und mich anlächelten.

Oh, wie sehr ich mich über meine alten Bekannten freute. Ich blieb stehen, setzte mich nieder, streckte meine Hand einem der großen, zarten Blümchen entgegen, meine Finger ergriffen den Stengel weit unten, direkt am Boden, zerknitterten ein zartes Blütenblatt. Das Blümchen erzitterte, sein samtenes, violett-gelbes Kränzchen sah mir traurig entgegen und blieb leblos in meiner Hand liegen.

Früher einmal hatte es mir Freude gemacht, aber jetzt! Ich setzte mich aufrecht, in meiner Hand lag die tote, leblose Blume, und alles um mich herum erschien farblos und nutzlos. Denn es gab niemanden, zu dem man hineilen wollte, niemanden, für den man die Blume hätte pflücken wollen, denn du warst nicht bei mir.

Missgestimmt begab ich mich zum Kontor, wo mich die üblichen Sorgen und Akteien erwarteten. Erst jetzt, am Abend, wenn ich schon niemanden mehr um mich habe, bin ich erneut bei dir – und schreibe dir. Neben mir auf dem Tisch liegt sie verwelkte Blume, und sie erzeugt Traurigkeit. Ich schicke sie dir. Wenn sie getrocknet ist, verliert sie ihr Aussehen, wird faltig und verblasst. Doch sie wird von mir sein, und ich hoffe, du freust dich darüber

Seit dieser Zeit sind 45 Jahre vergangen. Viele mir nahestehende Menschen weilen schon nicht mehr unter den Lebenden, auch Nina gibt es nicht mehr. Die einst in den Brief eingeheftete Blume ist erhalten geblieben.

So rannte die Zeit mit Kummer und Sorgen dahin. Immer weniger nicht angekreuzte Termine blieben in meinem Kalender, immer näher rückte die Zeit der Freilassung.

Eigentlich endete meine Lagerzeit laut Gerichtsbeschluss am 9. März 1952. Doch während meiner Inhaftierung dort hatten sich etwa 150 Anrechnungstage bei mir angesammelt und somit hätte ich am 17.Oktober 1951 entlassen werden sollen. Wir Nina und mich bedeuteten diese Tage vieles, und wir fürchteten, dass sie in den Kalendern des UssolLag verloren gehen könnten. So etwas war schon vorgekommen. Später, nach der Freilassung, hatte ich nicht nur einmal den gleichen Traum: ich gehe zu meiner Freilassung, aber dort verkünden sie mir: “Privilegierten Gefangenen steht keine Anrechnung zu, warten Sie bis zum 9. März!”.

Schließlich traf am 4. Oktober ein Fernspruch mit der Anordnung ein, mich auf Etappe ins KOLP zuschicken, um dort die Formalitäten für meine Freilassung zu erledigen.


Solikamsk, 1951
Während der Abgabe der letzten Jahresbilanz

Und das bedeutete einen Fußmarsch auf ausgetretenen Wegen mit Übernachtungen in a Rande gelegenen Lagerpunkten und Begegnungen mit dort lebenden Kriminellen. Das war ordnungsgemäß. Egal welchen hohen Posten ein Gefangener eingenommen, egal welche Unterstützung er genossen hatte, mit welcher Art von Ausweisen er unterwegs war – seinen allerletzter Lager-Weg (in die Freiheit oder ins Grab) sollte er in Begleitung einer Begleitwache gehen. Deswegen überließ ich, als ich die Vorbereitungen für die Etappe traf, alle mehr oder weniger wertvollen Sachen (Mantel, Anzug, Halbschuhe) und Bücher Faber. Ich wollte die Kriminellen nicht provozieren und mich der Gefahr aussetzen ausgeraubt zu werden. Für einen alten Lagerinsassen wäre das viel zu erniedrigend gewesen.

Allerdings hatte ich wieder Glück. Fajerstejn traf mit der Verwaltung die Vereinbarung, dass ich nach Abschluss der Quartalsbilanz nach Solikamsk kommen sollte, und begleiten würde mich Balakirew, der, ebenso wie Jerschow, Leutnant des MWD war. Ich hatte nichts dagegen. Theoretisch hatte ich zwei Möglichkeiten: entweder im Gebiet Molotow zu bleiben, in der Hoffnung, dass mir die Leitung dabei behilflich wäre, Nina hierher zu holen, oder mit einer Etappe in die Region Krasnojarsk zu fahren und dort die Zusammenführung mit Nina und Valerik zu erwirken. Fajerstejn schlug vor im OLP zu bleiben – als Leiter der Planungsabteilung. Ich gab vorsorglich meine Zustimmung. Die Angelegenheit wurde mit der Verwaltung vereinbart, und man wartete nur noch auf die Ergebnisse aus Moskau bezüglich Ninas Verlegung. Aber sie waren nicht da.

Am 13. Oktober, nachdem ich die Bilanz abgeschlossen hatte, fuhr ich mit Balakirew nach Solikamsk. Noch ein paar Tage, um den Bericht einzureichen, und dann bin ich in der Abteilung, durch die alle müssen, die ihren Weg in die Freiheit machen. Ich warte, bis ich an der Reihe bin und betrete das Kabinett. Hinter der Absperrung, an ihren Arbeitsplätzen - Mädchen. In der Ecke, an einem massiven Schreibtisch, eine streng dreinblickende Frau – vermutlich die Leiterin.

- Nachname, Paragraf, Haftzeit? – fragt mich das unmittelbar an der Absperrung sitzende Mädchen.

Die für den Lagerinsassen übliche Frage tut dem Ohr unangenehm weh. Ich möchte herausschreien: “Ich bin kein Gefangener mehr!” Aber folgsam und wie ein Gebet gebe ich ihr die geforderten Informationen. Und plötzlich die Frage:

- Wohin wollen sie fahren?

Ich erstarrte. Ich hätte alles erwartet, aber mit einer derartigen Frage habe ich nicht gerechnet.

- Wie – wohin? Ich bin doch Deutscher, - quetschte ich halb fragend, halb bejahend aus mir heraus.

Das Mädchen, ein wenig unwirsch:

- Sie können fahren, wohin sie wollen, mit Ausnahme aller Regions- und Gebiets-Hauptstädte. Haben Sie sich denn immer noch nicht entschieden, wohin Sie wollen? Dann gehen Sie und denken Sie nach, ich habe zu tun.

- Aber ich bin doch Deutscher und unterliege der Anbindung, - versuchte ich mich zu rechtfertigen.

Die Leiterin mischte sich ein:

- Aus Tambow und dem Tambowsker Gebiet wurden keine Deutschen ausgesiedelt. Deswegen brauchen Sie einen Ausweis. Darin gibt es nur eine Einschränkung: sie dürfen ihren Aufenthaltsort nicht in Unions-, Regions- und Gebiets-Hauptstädten haben, der sogenannte Punkt 39. Also wählen Sie, und zwar schnell, denn wir haben keine Zeit, vor der Tür steht eine Schlange Menschen. Das sehen Sie doch selbst.

Leicht gesagt – wählen Sie. Für mich kam all das gesagte völlig unerwartet. Eigentlich war es die zweite Freilassung. Die erste – aus dem Lager, und dafür war ich bereit, die zweite – aus der Sonderansiedlung, und das war wirklich ein Geschenk des Schicksals.

Die Entscheidung hinauszögernd, erkläre ich:

- Und wenn ich nun einen Ort benenne und es mir dann anders überlege und mich an einen anderen begeben möchte?

- Das ist Ihr Recht, wir müssen nur wissen, bis zu welchem Ort wir Ihnen Geld für die Fahrt zuweisen sollen.

- Dann schreiben Sie: Turuchansk, Region Krasnojarsk. Dort leben meine Frau und mein Sohn, - verdeutliche ich aus irgendeinem Grund.

Und dann stehe ich an der Wache des KOLP, in meinen Händen halte ich den Ausweis, der, ungeachtet on Punkt 39, derartige Möglichkeiten eröffnet, von denen ich niemals zu träumen gewagt hätte.

Ein Ausweis! In jenen Jahren brachte der Besitz eines solchen erhebliche Vorteile mit sich: die Möglichkeit, verhältnismäßig leicht durchs Land zu reisen, den Wohnort und den Arbeitsplatz zu wechseln und die Lebensweise zu ändern. Allerdings besaßen nur Angehöriger der Arbeiterklasse und der Intelligenz einen derartigen Ausweis. Der größte Teil der Bevölkerung besaß keinen Ausweis. Keinen Ausweis erhielten Landbewohner und vor allen Dingen Kolchosbauern, Angehörige der Trudarmee, Sondersiedler, Verbannte und selbstverständlich Gefangene. Ohne diesen Ausweis war der Mensch in jenen Jahren im Grunde genommen ein Leibeigener.

Das Vorhandensein eines Ausweises eröffnete mir breite Perspektiven. Ich konnte, und das sollte ich auch tun, unverzüglich in die Region Krasnojarsk fahren und dort, nachdem ich mir Arbeit in einem Forstbetrieb gesucht hatte, Ninas und Valeriks Umzug zu mir zu erwirken. Ich konnte zu Lalja nach Bolschije Pady, im Tambowsker Gebiet, fahren und Mamas Grab besuchen. Ich konnte mich auch zu Ernotschka nach Sdwinsk aufmachen. Wann kann ich das sonst noch machen? Ich konnte mir ernsthaft Gedanken über eine höhere Ausbildung, höhere Qualifikation, die Wahl einer interessanten und gut bezahlten Arbeit machen und vieles, vieles mehr.

Nach langen und quälenden Überlegungen beschloss ich, zu Lalja nach Tambow zu fahren. Ich hatte Angst, dass man mich in der Region Krasnojarsk als Deutschen zur ewigen Ansiedlung anbinden könnten, und dann würde ich mich von den Hoffnungen auf Weiterbildung, ein Wiedersehen mit Lalja und Ernotschka verabschieden können. Und vor der Möglichkeit einer solchen festen Anbindung hatten mich zahlreiche sachkundige Menschen gewarnt. Zudem würde ich sowieso nicht rechtzeitig nach Turuchansk gelangen. Die schiffbare Zeit auf dem Jenissei war Anfang Oktober zu Ende gegangen. Und ob ich nun einen Monat früher oder später in Krasnojarsk einträfe – was machte das schon für einen Unterschied? Nur ein Zweifel blieb. Konnte Nina diese Zeit ohne meine materielle Unterstützung durchhalten und würde das nicht ihr Vertrauen zu meinem Bestreben nach unserem Wiedersehen untergraben?

Es siegte der Wunsch nach Tambow zu fahren, in die Vergangenheit, in meine Jugend einzutauchen.

 

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