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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil III

Kapitel 19. Sondersiedlung

Bereits am Tag nach meiner offiziellen Einstellung begann ich mit meinen Buchhalterpflichten. Die Papiere waren in einem verwahrlosten Zustand, und die Karteikarten waren in den letzten drei Monaten nicht mehr geführt worden. Ich fing morgens um neun Uhr an und kam um acht oder manchmal um zehn Uhr abends zurück. Iwan Sergejewitsch selbst blieb auch lange dort sitzen, und wir sprachen gelegentlich miteinander. Er war ein gebürtiger Sibirer, irgendwo aus Keschma, Mitglied der Partei, und seine Frau war Ukrainerin, aus einer Familie von Enteigneten, was ihm, wie er sagte, gelegentlich sehr viel Ärger eingebracht hatte. Er interessierte sich, wie ich, für Politik, aber wahrscheinlich wegen seiner Parteipflichten. Neben ihm an der Wand befand sich ein Lautsprecher, den Iwan Sergejewitsch einschaltete, wenn wichtige Nachrichten gesendet wurden. Der Bericht von Malenkow wurde von allen Mitarbeitern der Buchhaltung gehört. Seine Ankündigung, dass die UdSSR eine Atombombe gebaut hatte, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Sie erörterten ausführlich den Bericht Chruschtschows über die Änderungen der Parteisatzung: Ersetzung des Politbüros durch das Präsidium, Vergrößerung des Sekretariats des Zentralkomitees und des Zentralkomitees selbst, dessen Mitgliederzahl sich verdoppelt hatte. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten sie Stalins kurze Abschlussrede und versuchten, deren wahre Bedeutung zu erfassen.

Bald erfuhr ich, dass im ersten Stock des Gebäudes, in dem sich das Holzunternehmen befand, der neu gegründete Trust "Yeniseiskles" (Jenisseisker Forstwirtschaft; Anm. d. Übers.) untergebracht war, der alle Holzunternehmen der Region nördlich der Transsibirischen Eisenbahn übernommen hatte. Der Hauptbuchhalter der Stiftung, Michail Michailowitsch Maschukow, kam am Ende des Arbeitstages oft zu uns ins Erdgeschoss und besprach seine Buchhaltungsprobleme mit Iwan Sergejewitsch. Natürlich blieb ich nicht außen vor, und tief in meinem Herzen hoffte ich, dass er mich eines Tages als Mitarbeiter in seine Buchhaltung aufnehmen würde.

Die Suche nach einer Unterkunft zog sich hin. Aber am Ende ging alles gut aus. Es gelang uns, ein Zimmer von "Tante Tanja", wie wir unsere neue Vermieterin nannten, zu mieten. Es befand sich am Ende derselben Babkin-Straße, in der die alten Leute wohnten, aber drei Blocks weiter vom Zentrum entfernt. Eine mittelgroße Hütte mit einem russischen Herd in der Mitte, der, wie sich im Winter herausstellte, eine enorme Menge an Brennholz verbrauchte und erstaunlich wenig Wärme abgab. Im Inneren der Hütte Bretterwände, die sie in drei Teile unterteilen: zwei Zimmer und eine Küche. Die Vermieterin bot uns ein großes Zimmer mit drei Fenstern an, zwei zur Straße und eines zum Hof. Der wärmste Platz war natürlich am Herd. Dort stellten wir Valeriks Kinderbett auf, das früher der Vermieterin gehört hatte. Wir bauten uns ein Bett aus zwei großen Sperrholzkisten und einer alten Haustür, die uns das fürsorgliche Frauchen aus der Scheune mitbrachte. Die Konstruktion war wackelig und die Kissen fielen nachts immer wieder herunter. Allerdings konnten wir damals nicht im Traum daran denken, ein echtes, fabrikgefertigtes Bett zu kaufen. Ergänzt wurde das Mobiliar durch einen recht annehmbaren Herrenspiegel, einen runden Tisch und zwei klapprige Hocker. Im Winter fror die hintere Ecke des Zimmers zu, und wir schaufelten Schüsseln voller Schnee von den angrenzenden Wänden.

Ein großes Problem stellte das Brennholz dar. Iwan Sergejewitsch half mir, drei Kubikmeter Abfälle aus dem Sägewerk zu holen. Aber sie waren feucht und wollten nicht brennen. Nina kochte auf einem Dreifuß, in der schwarzen, rauchigen Öffnung des Kochers, unter dem sie ein Feuer aus Holzspänen machte. Sie brannten stark, der Rauch fraß sich in ihre Augen, ihr Gesicht und ihre Hände waren mit Ruß bedeckt. Valerik hatte Spaß, aber ich fand das nicht zum Lachen. Ich war für das Wohlergehen der Familie verantwortlich, welches sich im Vergleich zu Ninas Situation in Turuchansk verschlechtert hatte. Von meinem kleinen Gehalt in Höhe von 450 Rubel musste ich neben der Einkommenssteuer und den nicht unerheblichen Ausgaben für Brennholz und Miete noch einen Pflichtbeitrag für Anleihen (etwa 10 %) leisten. Die Folge war eine sehr bescheidene Ernährung: Kartoffeln, Brei, seltener Nudeln. Auch die bevorstehende Rückkehr meiner Stellvertreterin aus dem Mutterschaftsurlaub stimmte mich nicht optimistisch. Ich musste mir wieder einen Job suchen? Aber wo?

Viele Probleme gab es auch mit dem Wasser. In Jenisseisk gab es kein fließendes Wasser, weil der Boden hier zu tief gefroren war. Die Einwohner holten das Wasser aus dem Fluss Jenissei in kleinen Fässern, die im Sommer auf Karren und im Winter auf Schlitten transportiert wurden. Der schwierigste Ort, besonders im Winter, war das Ufer. Der Aufstieg war zwar nicht sehr lang, aber steil. Wasser spritzte aus den Fässern, die Anhöhe verwandelte sich in eine Schlittschuhbahn, die Füße rutschten weg, besonders bei diejenigen, die wie ich Stiefel anhatten. Normalerweise gingen zwei Personen durch das Wasser, eine zog und die andere schob. Ich ging meist allein, denn Nina ging es in letzter Zeit nicht gut.

Die Wäsche war eine elementare Katastrophe für uns. Die Wäsche musste im Jenissej gewaschen werden. Im Sommer von speziellen Brücken aus, im Winter in Eislöchern. Meine Hände erfroren und die nasse Wäsche erstarrte zu einem Stück Blech. Aber alle machten das hier so, und Nina wagte nicht, mit dieser Tradition zu brechen. Ich stand neben ihr und wärmte gelegentlich ihre Hände, aber ich konnte sie nicht ersetzen. Sie war strikt dagegen; sie wollte nicht, dass die ganze Stadt über uns lacht.

Anfang November fühlte sich Nina unwohl. Ihr war übel, sie fühlte sich schwach und litt an Schwindel. Der Arzt verkündete: "Sie erwarten ein Kind." In der ersten Zeit warf mich diese Nachricht nieder. Ein zweites Kind zu bekommen, obwohl es keine feste Arbeit, kein Geld und keine angemessene Wohnung gab. Es war verrückt. Aber nach außen hin gab ich mein Bestes, um Freude zu zeigen. Ich umarmte und küsste meine Nina. Aber sie weinte, als sie die Sorge in meinen Augen sah. Ich beruhigte sie, indem ich ihr sagte, dass sie es geschafft hätte, Valerik unter noch schwierigeren Bedingungen allein zu gebären und aufzuziehen; wie sollte es uns da zu zweit nicht gelingen, diese Aufgabe zu vollbringen und unseren Romotschka groß zu bekommen.

- Welchen Romotschka denn? - Nina war überrascht.

- Den Romotschka, den Romuald, den du bekommen wirst und den wir gemeinsam aufziehen werden.

– Und wieso hast du entschieden, dass es ein Junge und kein Mädchen wird, Sonja, Sofuschka, zum Beispiel, oder Natascha?

– Sonja wird die nächste. Auf jeden Fall. Du wirst so lange Kinder gebären, bis Valerik und Romotschka ein Schwesterchen bekommen.

Ich versuchte sie zu beruhigen, aber mir war recht jämmerlich zumute. Es war in der Tat eine verzweifelte Situation. Ich konnte keine feste Arbeit finden, die Wohnung war kalt und feucht, es gab kein Geld für die Miete und auch kein Essen. Ich wurde auch zweimal in die Kommandantur gerufen, weil sie herausfinden wollten, wie ich es "fertiggebracht" hatte, bei meiner Entlassung einen Pass zu bekommen, und warum ich mich über ein Jahr lang nicht gemeldet hatte.


Jenisseisk
Ich, Nina und Valerik

Ich sagte Nina nichts von diesen Einbestellungen. Immer wieder quälte sie derselbe Gedanke: "Robotschka hat sich selbst geopfert, seine Zukunft, die Möglichkeit, ein Studium zu absolvieren, und das war meine Schuld". In solchen Fällen musste ich sie lange beruhigen, ihr versichern, dass ich ohne sie sowieso nicht leben konnte, ohne sie und Valerik, und mit Mathematik könnte ich mich schließlich auch hier befassen, wenn ich nur erst einen festen Job gefunden hätte.

Meine Beziehung zu Valerik verlief ohne Probleme. Er wuchs als gehorsamer, unabhängiger und ordentlicher Junge auf. Er war nicht unartig und bettelte nie um Geschenke. Nina fragte scherzhaft:

– Von wem hat er dieses Gefühl für innere Würde?

Valerik kannte viele Kinderreime, zählte bis zehn und freute sich, wenn er sein ABC-Buch "lesen" konnte, er malte gerne Bilder aus, aber er machte sein ABC-Buch nicht schmutzig. Abends las ich ihm Bücher vor und erzählte ihm Geschichten. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, brachte ich ihm und Nina immer ein paar Süßigkeiten mit, meistens "Poduschetschki" (mit Marmelade gefüllte Bonbons; Anm. d. Übers.), und nach dem Abendessen gingen wir drei spazieren und ich ließ ihn mit dem Schlitten fahren, den Tante Tanja irgendwo in den Tiefen ihrer verfallenen Scheune gefunden hatte. Es gab bei ihm nur eine Unzulänglichkeit: e bat nie um Verzeihung. Ich fand seine Hartnäckigkeit irritierend und fragte Nina:

- Ist das auch ein Zeichen von innerer Würde? Ist es so schwer, um Vergebung zu bitten? Wie wird er sein Leben führen, wenn er erwachsen ist? Das wird ihm das Leben sehr schwer machen.

Nina, die Valerik verteidigte, meinte:

- Natürlich sollte man ihm beibringen, sich zu entschuldigen, aber nicht so, wie du es machst, indem du dich entschuldigst, obwohl du dir nichts hast zuschulden kommen lassen. Das ist auch nicht gerade das Richtige.

Ich widersprach nicht, obwohl ich seit meiner Kindheit daran gewöhnt war, um Vergebung zu bitten, ohne das Ausmaß meiner Schuld eruiert zu haben, und ich fand daran nichts auszusetzen.

Diese Meinungsverschiedenheit über eines der Erziehungsprobleme war der Grund, warum ich Valerik einmal den Hintern versohlte, was ich immer noch bereue.

Am nächsten Morgen erzählte Nina lachend, dass sie in der Nacht hatten dummen Traum hatte: Sie wäre einem Stück Wurst hinterhergejagt, das ihr immer wieder entkommen sei. Als sie es schließlich erwischt und zu kauen begonnen hätte, sei sie aufgewacht und hätte festgestellt, dass sie an einer Ecke des Bettbezugs gesaugt hätte.

Nachdem ich mit ihr und Valerik über diesen symbolischen Traum gelacht hatte, bat ich Iwan Sergejewitsch um die Mittagszeit, eine Wurst vom Buffet des Bezirkskomitees zu kaufen, und brachte sie Nina sofort, ohne bis zum Ende des Arbeitstages zu warten. Aber sie wollte die Wurst nicht essen, bevor ich von der Arbeit kam. Sie gab Valerik nur zwei Scheiben. Als sie am Abend mit der Zubereitung des Abendessens begann, bemerkte sie, dass die Wurst verschwunden war. Es stellte sich heraus, dass Valerik sie genommen und sie seinen Freunden auf der Straße servierte hatte. Diese letzte Tatsache verärgerte Nina besonders:

- Hätte er sie wenigstens selbst gegessen, aber er hat sie verschenkt, ohne an seine Mutter zu denken! - erklärte sie mir besorgt die Situation.

- Vielleicht ist es gut so, er wird ein guter Junge", versuchte ich sie zu beruhigen, aber ich war mir da nicht so sicher. – Wir müssen ihn nur davon überzeugen, dass es nicht gut ist, so etwas zu tun.

- Freundlich zu sein auf Kosten anderer?! - rief sie weder fragend noch überzeugt aus. - Gut, du bist der Pädagoge, und ich gehe los und hole ihn.

Valerik kam herein, glücklich und mit roten Wangen, und fing an Nina etwas zu erzählen. Sie nahm ihm leise Mantel und Hut ab und ging mit den Worten "Übertreibe es nicht" in die Küche.

Wenn ich eine erzieherische Aktion vorhatte, schloss ich immer erst einmal die Tür.

- Valerik! Wie konntest du nur? Immerhin habe ich diese Wurst Mama gekauft. Sie wollte sie so gern haben, - begann ich.

- Ich auch, - widersprach Valerik.

- Aber Mama ist krank, sie braucht die Wurst", versuchte ich meinem dreijährigen Sohn die Situation zu erklären.
- Ist Wurst denn etwa - Medizin?

- Nein, keine Medizin, aber Mama muss sie essen.

- Ich auch.

- Und? Hast du das ganze Stück gegessen?

- Nein, ich habe meine Freunde auch probieren lassen.

- Aber das war Mamas Wurst. Wenn es deine gewesen wäre, hättest du sie essen oder deinen Freunden schenken können. Das ist nicht nett, und du musst deine Mutter bitten, dir zu verzeihen. Du bist ein großer und kluger Junge, also geh und bitte deine Mutter um Vergebung.

Er war still und starrte auf den Boden. Ich begann ihm zu erklären, dass ein Mensch, der einen Fehler macht und jemanden verletzt, sich bei ihm entschuldigt. Ich führte Beispiele aus Märchen an, aber es waren erstaunlich wenige. Zum Abschluss des Gesprächs sagte ich:

- Du wirst zu Mami gehen und sagen: 'Mami, es tut mir leid, ich werde es nicht wieder tun', okay?

Er schwieg, ohne den Blick vom Boden abzuwenden.

Seine Sturheit, seine mangelnde Bereitschaft, Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten, machte mich wütend. Um Strenge zu zeigen, gab ich ihm ein paar Mal einen Klaps auf das Hinterteil. Er weinte, hoffentlich nicht vor Schmerz, denn er hatte eine warme Hose an, sondern aus Unmut. Nina hörte ihn weinen. Sie kam herein. Schweigend zog sie Valerik an und schickte ihn hinaus, wobei sie mir vorwarf, ihn nicht zu lieben und ihn wie einen Fremden zu behandeln. Wir stritten uns, zum ersten Mal seit der Ankunft in Jenisseisk. Frustriert ging ich auf die Straße, stapfte mit meinen zerschlissenen Stiefeln durch den nassen Schnee und ging in Richtung Zentrum, während ich über die Irrigkeiten meiner Erziehung nachdachte.

Es wurde dunkel, und Jenisseisk versank in einen tiefen Schlummer. Das fahle Mondlicht durchflutete die Umgebung. Nachdem ich zwei Blocks gelaufen war, blieb ich schließlich vor einem Gebäude stehen, das mich schon lange fasziniert hatte. Es war ein rotes Backsteingebäude mit hohen Fenstern, wie die einer katholischen Kirche, und es überragte die baufälligen grauen Hütten, die sich an das Gebäude anschlossen. Obwohl ein Teil des Daches abgerissen war und die Fensterrahmen und die Tür erbarmungslos herausgebrochen waren, konnte ich mir gut vorstellen, wie das Gebäude früher ausgesehen hatte. Ein spitzes Dach, farbige Glasfenster, eine massive Eingangstür mit einem großen Bronzegriff, ein hohes Vordach aus Eisenguss.

Welche Macht und welcher Hass trieben die Menschen an, die dieses Gebäude so zerstörten und es dennoch nicht schafften, es vollständig zu vernichten? Es hatte etwas Geheimnisvolles an sich. In den schimmernden Glasscherben spiegelten sich die Reflexe eines rätselhaften vergangenen Lebens wider. Es war nicht das erste Mal, dass mir solche Häuser begegneten: das Asejew-Haus in Tambow, das Hotel in Tscherdyn, das Haus des Kaufmanns Gadalow in der Pariskaya Kommuna Straße (Straße der Pariser Kommune; Anm. d. Übers.) in Krasnojarsk. Und sie haben mir immer das Herz vor Schmerz schwer gemacht.

Ich konnte mich nicht erinnern, wie lange ich vor dem geheimnisvollen Haus gestanden hatte und mir den vernachlässigten Park, den Rosenstock und die graue Nachtigall aus meinem Lieblingsmärchen von Oscar Wilde vorgestellt hatte. Ich wachte erst auf, als ich Nina und Valerik neben mir fand. Er umarmte meine Beine und flüsterte:

- Lass uns nach Hause gehen, Daddy, sei nicht böse.

Ich war nicht wütend, meine Seele hatte sich beruhigt und war bereit für Versöhnung und Liebe.

Der November kam. Kaum waren die Plakate und Losungen zur Begrüßung der Teilnehmer des 19. Kongresses verblasst, begannen die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten im November. Die roten Tücher wurden gewaschen und gebügelt, und es wurden neue Losungen, Appelle und Grüße darauf geschrieben, deren Inhalt von den höchsten Parteiorganen speziell genehmigt und in der "Prawda" veröffentlicht wurde.

Die Feiertage verliefen wie üblich mit Kundgebungen, Demonstrationen und Festgelagen. Nina, die alle revolutionären Feiertage verehrte und feierte, bereitete auch ein festliches Essen mit Borschtsch und Bratkartoffeln vor und versuchte sogar, mich zu einem Glas Wein zu überreden. Aber ich hatte keine Zeit für Festivitäten. Es gab kein Geld, die Zeit für die Arbeit im Büro wurde immer kürzer, Maschukow schwieg, obwohl ich wusste, dass die freien Stellen für Buchhalter und Rechnungsführer im Trust erst in den letzten Tagen besetzt wurden. Außerdem stand der Winter vor der Tür, und ich war praktisch ohne Kleidung, und Valerik brauchte einen neuen Mantel und neue Stiefel. Unter diesen Umständen verdross mich Ninas festliche Stimmung. Durch das Lager zu gehen, so viel zu sehen und nichts zu verstehen. Und dann war da noch das Radio, das von morgens bis abends vom glücklichen Leben des sowjetischen Volkes erzählte. Ich war kurz vor dem Zusammenbruch.

Trotzdem aß ich den Borschtsch und die Kartoffeln, zumal Nina sie perfekt zubereitet hatte, aber den Wein lehnte ich ab:

- Ich werde deine Partei- und Komsomol-Feiertage nicht feiern", sagte ich leise und mit zusammengebissenen Zähnen.

Ich sagte es, und dann besann ich mich plötzlich. Was für ein kindisches Verhalten, was für ein Mangel an Beherrschung! Warum hatte ich Nina beleidigt? Warum hatte ich gesagt: "Das sind deine"? Doch es war zu spät. Nina, die mir sonst in allen anderen Fragen zustimmte, war jetzt entrüstet:

- Es ist überhaupt kein Komsomol-Feiertag, sondern ein nationaler, d. h. es ist auch deiner. Mein Vater kämpfte in der Tschapajew-Abteilung und starb dann einundvierzig an der Front. Wie kann ich diesen Feiertag also nicht feiern? - und nach einem kurzen Schweigen fügte sie mit Tränen in der Stimme hinzu:

- Und überhaupt, was hat der Komsomol dir getan, und warum hasst du mich so sehr?

Ich wusste, dass ich mit Nina nicht über dieses Thema sprechen durfte, vor allem nicht in ihrem derzeitigen Zustand. Ich musste die Situation in Ordnung bringen. Aber ich konnte meine Meinung nicht völlig ändern, und ich konnte nicht zugeben, dass ich etwas Dummes gesagt hatte:

- Ninok, Schatz, warum dachtest du, ich würde dich hassen, was hat das mit dem Komsomol zu tun? - Ich begann, mich zu entschuldigen. Und dann, bevor sie antworten konnte, fügte ich hinzu:

- Und ich wollte auch deinen Vater nicht beleidigen. Du weißt doch, dass ich den Tag des Sieges natürlich immer so gut es geht feiere. Man muss nicht notgedrungen Wodka bei der Gelegenheit trinken, - entschuldigte ich mich etwas unbeholfen.

Doch Nina ignorierte meinen Versuch, das Gespräch auf ihren Vater zu lenken:

- Was soll das heißen, es gibt keinen Zusammenhang? Du weißt doch, dass mein ganzes Leben mit dem Komsomol verbunden, ihm gewidmet war.

- Aber, Ninotschka, meine Liebe, sieh nur, was sie dir angetan haben. Hast du denn gar nichts begriffen? - Ich konnte es nicht ertragen.

- Was soll ich denn verstehen? Ich liebte meine Arbeit, ich liebte die Menschen, ich wollte, dass ihr Leben mehr Freude und Sinn hat. Und die Tatsache, dass ich zur Sekretärin des Komsomol gewählt, dass ich in die Partei aufgenommen wurde, bin ich daran schuld? Hätte sich Malych nicht als so ein Schurke erwiesen, wäre alles anders gekommen.

- Dann wären wir uns nicht begegnet", sagte ich, um einen Witz zu machen, und versuchte, sie zu küssen. Aber sie wandte ihr tränennasses Gesicht ab und sagte:

- "Robotschka! Robotschka! Kränke 'uns' nicht!

Ich schaute auf das mir so lieb gewordene Gesicht, das schon pränatale Flecken hatte, und dachte: "Es wird ein Junge".

Am Abend, als ich bereits im Bett lag, dachte ich immer wieder an unser Gespräch. Wie unterschiedlich waren unsere Einstellungen zum Leben, unsere Wahrnehmungen dessen, was vor sich ging. Nina war entweder nicht bereit oder nicht in der Lage, das, was ihr persönlich widerfahren war, mit den Geschehnissen im Land in Verbindung zu bringen. Für sie blieben Begriffe wie der Komsomol, die Partei, die Revolution, der Führer heilig. Ihr Verhältnis zu ihnen glich dem einer Tochter zu ihrer Mutter, die ihr zwar vertraut war, die sie liebte, von der sie jedoch schwer und unverdient gekränkt worden war. Ich verstand sie, aber ich konnte diese Haltung nicht akzeptieren. Dieses Missverhältnis verkomplizierte unsere Beziehung, und die Streitereien waren schmerzhaft und sinnlos. Wir verstanden uns offensichtlich nicht und setzten unseren nun schweigenden Streit noch lange in der Dunkelheit der Nacht fort.

Zwei Tage vergingen. Ich ging die Leninstraße hinunter, die nach den Feiertagen immer noch nicht aufgeräumt war. Ich ging zur Arbeit. Plakate, Losungen, Porträts von Führern an den Gebäuden. In den Schaufenstern stehen zwei Zahlen: 19 und 35, sowie, für das Auge noch ungewohnt, die Abkürzung "KPdSU". Gesäumt von Dosen, Zigaretten- und Streichholzschachteln und sogar Süßigkeiten symbolisierten sie den 19. Parteitag und den 35. Jahrestag der Großen Oktoberrevolution. Die Stimmung war schlecht. Zu den zahlreichen und fast unlösbaren häuslichen Problemen gesellte sich nun der Gedanke an die Ursachen und möglichen Folgen meines Streits mit Nina. Oberflächlich betrachtet hatten wir uns versöhnt, aber tief im Inneren hatte jeder von uns seine eigene Meinung, und das Feuer konnte jederzeit wegen jeder Kleinigkeit wieder auflodern. Ich wusste nicht, wie es ausgehen würde. Meine Gedanken eilten hilflos umher und suchten nach einer Lösung für die Probleme, die auf mich zukamen, aber ich konnte sie nicht finden. Das Leben schien hoffnungslos, wie ein Tunnel, aus dem es keinen Ausweg gab.

Doch an diesem Tag erwartete mich eine angenehme Überraschung: Maschukow bot mir die Stelle des stellvertretenden Hauptbuchhalters des Trusts an. Das kam völlig unerwartet. Ich, ein ehemaliger Sträfling, der keine offiziellen Dokumente besaß, die meine Berufsausbildung bestätigten, nicht einmal einen Ausweis, wurde in eine derart hohe Position bestellt. Aber würde die Kommandantur etwas dagegen haben? Das war ein sehr wichtiger Punkt. Ohne die Zustimmung und Genehmigung des Kommandanten konnte niemand in eine verantwortungsvolle Position berufen werden. Meine Freude könnte also verfrüht gewesen sein. Aber Maschukow beruhigte mich, indem er sagte, dass die Entscheidung von Wstowsky, dem Leiter des Trusts, getroffen worden war, einem sehr erfahrenen und in der Region bekannten Partei- und Wirtschaftsmann, der einen solchen Beschluss nicht fassen konnte, ohne sie mit den notwendigen Instanzen abzustimmen.

Natürlich habe ich zugestimmt. Innerhalb einer Stunde war der Befehl für meine Ernennung unterzeichnet und ich konnte meinen Dienst antreten. Maschukow erläuterte den Aufgabenbereich der Gruppe:

- Sie haben sehr überzeugend dargelegt, wie man eine ökonomische Berechnung in der Holzwirtschaft organisieren kann. Ihre Ideen haben mir gefallen. Versuchen Sie, sie jetzt umzusetzen. Darüber hinaus müssen Sie die Quartals- und Jahresberichte der Holzunternehmen entgegennehmen und analysieren und einen konsolidierten Bericht erstellen.

Ich war glücklich. Ein besseres Angebot hätte ich kaum erwarten können. Die wirtschaftliche Rechnungsführung in der Forstwirtschaft war eines meiner Lieblingsthemen. Ich hatte Jerschow geholfen, seine Doktorarbeit darüber zu schreiben, als ich noch in Kuschmangort war. Ich habe die letzten zwei Jahre in der zusammenfassend-analytischen Abteilung des UsolLag des Innenministeriums verbracht. Dieses Werk war mir gut bekannt.

Ich war hocherfreut über meinen Erfolg und eilte noch vor Ende des Tages nach Hause. Nina nahm die Nachricht gelassen auf:

- Ich habe immer gewusst, dass dein Wissen und deine Fähigkeit zu arbeiten geschätzt werden.

Zuerst wollte ich sogar beleidigt sein, aber dann wurde mir klar, dass meine Freude das Ergebnis der Lösung von Problemen war, die unlösbar erschienen waren. Nina, die von meiner Autorität in Kuschmangort verwöhnt war, dachte, dass ich auch hier in Jenisseisk einen Job haben würde. Sie interessierte sich nun für das Gehalt. Aber ich war zu schüchtern gewesen, Maschukow danach zu fragen:

- Wir werden es herausfinden", sagte ich zweifelnd.

Mitte Januar 1953 wurde in Presse und Rundfunk von einer "terroristischen Ärztegruppe" gesprochen. Fünfzehn prominente Ärzte wurden beschuldigt, ihre hohe Stellung im Kreml ausgenutzt zu haben, um 1948 Schdanow zu töten und Anschläge auf das Leben anderer wichtiger politischer und militärischer Persönlichkeiten des Landes zu verüben.

Die Menschen waren bereits an solche Nachrichten gewöhnt. In den letzten Jahren gab es einen aktiven Kampf gegen den Kosmopolitismus, und die Zeitungen berichteten immer wieder über die neuesten Enthüllungen und Prozesse. Dort drückten die Leser ihre Empörung, ihre Wut über die Aktionen der obdachlosen Kosmopoliten aus, aber sie verwendeten dafür abstrakte, klischeehafte Formulierungen.

Es war eiskalt und windig. Auf der Promenade des zentralen Platzes befanden sich zehn Personen. Unter ihnen, den weißen Kitteln nach zu urteilen, mehrere Ärzte. Um sie herum eine Menschenmenge mit Transparenten. Arbeiter aus den wenigen Unternehmen der Stadt, Angestellte, Schüler. Einige von ihnen waren aus Patriotismus hierhergekommen, andere, wie ich, aus Zwang.

Am Mikrofon sitzt eine junge Frau mit einer Brille. Sie liest von einem Zettel ab und schreit etwas Wütendes über die "Auftragsmörder". Bei jedem Wort kommt eine Dampfwolke aus ihrem Mund und sie wischt immer wieder über die beschlagenen Brillengläser. "Glocken" keucht sie verschnupft. Die Worte sind schwer zu verstehen. Aber ihre allgemeine Bedeutung ist klar:

- Tod den Mördern, die den heiligen Namen des Arztes entehren! - forderte die Rednerin.

Es war beängstigend. Besonders bedrückend war, dass die Ärzte von Ärzten gebrandmarkt wurden, ohne etwas zu wissen, ohne etwas zu verstehen, mit fremden Worten, angestiftet von kriminellen Politikern. Und mit was für Ausdrücken, mit was für Worten! Ich schloss meine Augen und stellte mir eine mit Speichel sabbernde, fluchende Verkäuferin vor.

In der zweiten Dekade des Januar 1953 kamen die leitenden Buchhalter der Holzfirmen. Ich ließ mich im Büro von Maschukow nieder, wo ich die Jahresberichte erhielt. Ihre schlechte Qualität verblüffte mich. Die Daten in den Berichtsformularen stimmten weder mit den Bilanzzahlen noch untereinander überein. In den Erläuterungen wurden die Probleme nicht erläutert. In einigen Fällen konnten die Buchhalter die Gründe für die Unstimmigkeiten nicht erklären und hatten die Fehler nicht korrigiert. Sie versuchten, einen Zugang zu mir zu finden, und luden mich in ein Restaurant ein. Aber ich weigerte mit strikt. Maschukow berichtete mir später, dass sie eines Abends mit ihm gesprochen hätten und empört gewesen seien:

- Wie um alles in der Welt haben Sie es geschafft, einen Buchhalter zu finden, der nicht trinkt?

Aber es wurde bald besser: Ich blieb die ganze Nacht auf, um die Berichte zu korrigieren, während die Buchhalter zum Essen ausgingen. Diese Aufgabenteilung kam ihnen sehr entgegen. Nach Beendigung der Arbeiten schenkten sie Nina und mir auf Anraten von Maschukow ein breites Doppelbett mit einem damals modischen Panzernetz.
Nach und nach entstanden, wenn nicht Freunde, so doch gute Bekannte, die bereit waren, in Zeiten der Not zu helfen. Ich entwickelte eine besondere Beziehung zu Maschukow. Ein großes, knochiges, pockennarbiges Gesicht, geizig mit Worten und oft sogar unhöflich, schrieb er Gedichte für Kinder, kurz und zärtlich. Sie wurden gelegentlich in der Zeitung "Jenisseisker Prawda" veröffentlicht. Natürlich hatten er und ich eine Menge zu besprechen, und zwar nicht nur in Bezug auf Buchhaltungsfragen. Gelegentlich besuchten wir die Kulakows, meist in den Ferien.

Alles schien sich für mich zum Besten zu entwickeln. Ich begann sogar, meinen Lagerhintergrund und meine Nationalität zu vergessen. Ich begann, mich als gleichwertig mit den Menschen um mich herum zu betrachten. Plötzlich brach über Nacht alles zusammen. Am 28. Januar 1953 wurde ich in die Kommandantur vorgeladen und mir wurde gegen Quittung mitgeteilt, dass ich von nun an als Person deutscher Staatsangehörigkeit zur ständigen Ansiedlung in Jenisseisk verpflichtet wäre und mich zweimal im Monat in der Kommandantur zu melden hätte.

Obwohl Koljagin mich schon in Turuchansk vor dieser Möglichkeit gewarnt hatte, kam die Nachricht unerwartet. Bis dahin hatte ich gehofft, dass ich meinen Pass zurückbekommen würde. Die Passbeamtin in Solikamsk hatte mir gesagt, dass ich nicht der festen Anbindung an einen Ort unterläge. Sie muss eine entsprechende Anweisung gehabt haben. Warum also galt diese Anweisung hier in Jenisseisk nicht? Und es blieben weniger als anderthalb Jahre bis zum Ende von Ninas Exil, an dessen Ende wir an einen wärmeren Ort hätten gehen können. Nun sollten unsere Pläne nicht erfüllt werden. Und was würde ich jetzt zu Nina sagen. Sie war bereits im fünften Monat schwanger, und die Ärzte hatten sie gebeten, jeglichen Stress zu meiden.

Ich ging hinaus. Wie beim letzten Mal, als Nina und ich das Büro des Kommandanten aufgesucht hatten, knarrte die Tür mit ihrer festen Feder zu. Aber draußen war es nicht mehr Herbst, sondern es herrschte Winter, den ich am meisten hasste. Der Frost war in den Vierzigern. Der graupenartige Schnee knirschte unter meinen Füßen. Die kahlen Bäume, die in der Kälte so erbärmlich aussehen, knistern leicht im Frost. Gebeugte, unförmige Gestalten in ihrer Winterkleidung tauchen auf und verschwinden wieder im Dunst der Winterkälte. Und nur er, majestätisch in seinem weißen Marmorfleisch, grinst mich, wie vor vier Monaten, unter seinem schneebedeckten Schnurrbart an.

- Zur ewigen Ansiedlung", ärgerte ich mich in Gedanken, da wäre es doch besser, mich in die Verbannung zu schicken. Zumindest gibt es dort eine zeitliche Begrenzung. Aber hier heißt es "für immer", und was für Worte das sind. Ich frage mich, ob er sich wohl für ewig hält, - dachte ich und betrachtete die Gestalt des Führers.

Ich war in einer schrecklichen Stimmung, schlimmer als vor vier Monaten, als Nina und ich das Haus verlassen hatten. Damals bestand jedoch die Hoffnung, dass ich meinen Pass zurückbekommen würde. Nun war diese Hoffnung dahin. Petja hatte Recht gehabt. Wir würden uns kaum wiedersehen. Meine Seele brannte vor Groll, und ich konnte die Kälte nicht spüren.

- Und warum sind meine Vorfahren nach Russland gekommen, was haben sie sich erhofft, warum sind sie während der Revolution nicht nach Deutschland zurückgekehrt oder nach Amerika gegangen, und wie habe ich es geschafft, als Deutscher geboren zu werden? - Ich kochte weiter. - Aber warum sind sie nicht in Deutschland sitzengeblieben, sondern aus irgendeinem Grund in den Osten gegangen?

Schon vor dem Krieg, als ich zahlreiche Fragebögen ausfüllte, stockte ich, sobald es nötig war, das Wort "Deutscher" zu schreiben. In der Folgezeit vervielfachten sich die Schuldgefühle wegen des Handelns meiner Landsleute und verfolgten mich viele Jahre lang. Aber ich konnte und wollte meine deutschen Wurzeln nicht aufgeben. Ich liebte meine Eltern, meine Schwestern, meine Verwandten, ich liebte die deutsche Sprache, ich las deutsche Bücher, ich genoss die Gedichte von Goethe, Schiller und Heine. Außerdem träumte ich davon, Nina und meine Kinder Deutsch sprechen und lesen zu lehren, und ich war verletzt, als Nina mich in einem Brief an Olga Fedotowna als Pole vorstellte. Obwohl ich verstand, dass sie in Otradowka mit der Bemerkung verurteilt worden war: "Nina hat einen Deutschen geheiratet", gefiel mir nicht, was sie getan hatte.

- Nun, sie haben die Deutschen vertrieben, das ist noch verständlich: Sie hatten Angst, wenn auch vergeblich, vor Verrat, rächten sich an den Gräueltaten der Nazis gegenüber unserem Land. Und im Allgemeinen sind für Russland Ausländer, selbst wenn sie von der obersten Macht eingeladen wurden, immer Fremde geblieben, die Russland nur Schaden zufügen. Aber warum wurden die Tataren, Kalmücken, Inguschen und Tschetschenen vertrieben? Sie lebten auf dem Land ihrer Vorfahren - entrüstet ich mich weiter.

In jenen Jahren war es in unserem Land noch gefährlicher, eine unpassende Nationalität zu haben, als eine unpassende Ideologie zu teilen. Die in jenen Jahren übliche Praxis, dass Kinder ihre politisch verurteilten Eltern verleugneten, um sich selbst zu retten, half im Falle einer Abschiebung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht weiter. Wer als Deutscher, Tataren, Kalmücke oder Tschetschene geboren wurde, musste auf unbestimmte Zeit in dem ihm zugewiesenen Reservat leben.

Ich verstand die Sinnlosigkeit und Gefahr solcher Gedanken und konzentrierte mich auf die Folgen des Geschehenen. Zunächst einmal hätte ich Nina die Wahrheit sagen und ihr erklären sollen, dass sie nichts damit zu tun hatte und dass meine "Umsiedlung" überall hätte stattfinden können, auch im europäischen Teil Russlands. Es war unklar, in welche Region Sibiriens ich deportiert worden wäre oder ob wir uns hätten vereinigen können. Das Wichtigste war, dass sie sich nicht schuldig fühlen sollte.

Aber die Dinge entwickelten sich nicht so, wie ich es geplant hatte. Kaum hatte ich mich ausgezogen, fragte Nina, die offenbar durch meinen Gesichtsausdruck alarmiert war:

- Was ist los, warum machst du so ein saures Gesicht?

Ich war nicht bereit, ein schwieriges Gespräch zu beginnen, also versicherte ich ihr, dass alles in Ordnung sei und dass mein Gesicht wahrscheinlich vom Frost säuerlich aussehe.

Aber es war unmöglich, Ninas Fragen so einfach loszuwerden. Sie strömten heraus wie aus einem Füllhorn, und ich war völlig verwirrt und gezwungen zu beichten, was geschehen war. Der halb scherzhafte Ton, mit dem ich ihr erzählte, dass ich als Deutscher in der Sonderansiedlung gemeldet war, machte die Sache nur noch schlimmer.

- Siehst du, ich hatte Recht, du hättest in Tambow bleiben, dich an der Graduiertenschule einschreiben und dein Schicksal in die Hand nehmen sollen, ohne auf uns zurückzublicken.

Ich wollte sagen, dass sie solche Vorschläge nie gemacht hatte, dass sogar Petja sie nie in dieser Form ausgesprochen hatte, aber stattdessen sagte ich den Satz, den ich im Voraus vorbereitet hatte:

- Wie kannst du nur nicht begreifen, dass meine "Sonderansiedlung" überall hätte stattfinden können, auch im europäischen Teil Russlands. Man weiß nicht, in welchen Teil Sibiriens ich deportiert worden wäre, oder ob wir wieder zueinander gefunden hätten.

- Bist du deshalb zu uns gekommen? Und wenn du dir nicht sicher warst, wärst du in deinem Tambow geblieben, oder? - fuhr Nina fort.

Die Dinge liefen nicht so, wie ich es geplant hatte, und hätten wahrscheinlich in Tränen geendet. Ich musste dringend die Richtung des Gesprächs ändern.

- Rede keine Dummheiten. Wie hätte ich wissen können, was sich unser Staat noch alles einfallen lassen und wohin er seine Russlanddeutschen schicken würde. Sie haben ja sogar früher als die anderen Völkern Russlands damit begonnen, Kommunen und Kolchosen zu organisieren. In der Tat waren es nicht die Deutschen, die die Idee einer sozialistischen Gesellschaft entwickelten. Und nun rächt sich der Staat, nachdem er die Hitlerhorden besiegt und die DDR geschaffen hat, an seinen eigenen unschuldigen Deutschen im eigenen Land. Sogar dir ist es peinlich, dass ich Deutscher bin, nicht wahr, gibst du es zu?

Nina schwieg einige Minuten und versuchte, all diese Verwirrung zu verdauen, dann sagte sie traurig:

- Robotschka, wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe, würdest du nie so dumme Dinge sagen.

- Aber gib es zu: Wären deine Gefühle tiefer, stärker, wenn ich Russe wäre?

Nachdem sie darüber nachgedacht hatte, sagte Nina zweifelnd:

- Wahrscheinlich hast du recht, obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass meine Gefühle für sie stärker und tiefer sind als die, die ich für dich empfinde. Würdest du wollen, dass ich Deutsche wäre? - Nina beantwortete Frage um Frage.

Jetzt war ich an der Reihe zu denken. Unser Gespräch hatte uns in einen zu tiefen und gefährlichen Bereich der menschlichen Beziehungen geführt.

- Weißt du, wenn es um das Bett geht, ist mir deine Nationalität wahrscheinlich ziemlich egal. Außerdem glaube ich nicht, dass ich wollen würde, dass du Deutsche bist. Aber wenn ich an Kinder denke, an die Familie, dann muss ich zugeben: ich möchte, dass ihr Deutsche seid, dass ihr so denkt wie ich, dass wir die gleichen Gewohnheiten und Wünsche haben.

- Was sollen wir tun, schließlich kann ich keine Deutsche werden", unterbrach Nina meinen Monolog mit einem Schauer in der Stimme.
- Das kannst du, aber es ist sehr schwierig. Man muss zumindest ein wenig Deutsch lernen, es als Kommunikationsmittel in der Familie akzeptieren, lernen, deutsches Essen zu kochen und sich an deutsche Bräuche gewöhnen. Katharina die Große hat das auch einmal erlebt. Aber für sie war es einfacher: Erstens war das Ziel groß, und zweitens war das Umfeld angemessen.

Das müssen wir nicht. Die Russlanddeutschen sind jetzt ohnehin zur völligen Assimilation verdammt. Das Einzige, worum ich dich bitte, ist, dass du dich nicht in meinen Deutschunterricht für Valerik einmischst, dass du mir nicht sagst, dass dich diese Sprache nach allem, was du durchgemacht hast, anwidert.

- Übrigens, vor dem Krieg mochte ich Deutsch in der Schule, und ich hatte nur Einsen darin, du kannst mein Zeugnis sehen", platzte sie heraus und ging in die Küche.

Es tat mir sehr leid, dass unser Gespräch diese Wendung genommen hatte, aber ich konnte es nicht verhindern. Es war zu schmerzhaft für mich, was geschehen war. Nina ging ein paar Tage lang grübelnd umher und begann sich zu fragen, welche deutschen Gerichte in unserer Familie gekocht wurden, und vor allem, wie sie gekocht wurden. Wie Sie verstehen werden, war es für mich nicht leicht, den zweiten Teil der Frage zu beantworten, und außerdem war ich mit Ninas Borschtsch ganz zufrieden. Später, während unseres Aufenthalts bei Ernotschka, lernte sie, einige deutsche Gerichte zu kochen, die sich aber in der Familie nie durchsetzten.

Anfang März kam im Radio die Nachricht von Stalins Erkrankung. Die Art der Nachricht ließ das Schlimmste vermuten. Nina war davon erschüttert. Sie verfiel in Verzweiflung und weinte leise. Ich redete auf sie ihn, versuchte ihr gut zuzureden, ärgerte mich. Aber sie sagte immer wieder:

- "Wenigstens hast du überlebt, wenigstens hast du überlebt!

Ich erinnere mich bis heute noch gut an diesen Tag, den 6. März 1953. Der Frost hatte etwas nachgelassen, die Schneeflocken fielen langsam vom Himmel. Wir gingen die Lenin-Straße entlang in Richtung der Kommandantur. Ninas Gesicht war abgemagert, ihr Gesicht zeigte die in der Schwangerschaft häufigen Pigmentflecken, ihr Bauch war deutlich sichtbar. Trauermusik ertönte aus an Masten befestigten "Glocken". Plötzlich, nach einigen Augenblicken der Stille, kam eine dringende Nachricht:

- Achtung, Achtung, hier spricht Moskau. Alle Radiosender der Sowjetunion sind in Betrieb. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Ministerrat der UdSSR geben in tiefer Trauer bekannt, dass Josef Wissarionowitsch Stalin am 5. März um 21.50 Uhr nach langer, schwerer Krankheit verstorben ist. Das Herz eines Mitarbeiters und brillanten Nachfolgers von Lenin, des weisen Führers und Lehrers der Kommunistischen Partei und des sowjetischen Volkes, hat aufgehört zu schlagen.

Lewitan las die offizielle Nachricht mit trauriger Stimme lange vor, und Nina, die meine Hand ergriff und sich dicht an mich kuschelte, flüsterte:

- Was wird jetzt passieren, wie werden wir jetzt leben?

Ich sah mich auf der Straße um, verlegen über ihr Verhalten. Nina war mit ihrem Kummer nicht allein. Hier und da konnte ich die Silhouetten von Menschen sehen, die wie in Trance erstarrt waren. Einige weinten hysterisch, andere waren angespannt still. Langsam näherten sich alle dem schneebedeckten weißen Marmordenkmal des Führers.

Nur mit Mühe konnte ich Nina nach Hause bringen. Meine Seele war ganz durcheinander. Verwirrung, Triumph, Scham über den Triumph und Sorge um Nina. Und sie bemerkte etwas in meinem Blick und platzte plötzlich heraus:

- Was, du bist glücklich?! - und brach in Tränen aus.

Stalin bedeutete ihr immer noch zu viel. In ihrer Seele tobte ein Sturm der Gefühle. Und ich hatte in diesen Gemütsbewegungen keinen Platz. In diesem Moment war ich ein "Fremder" für sie, ein freundlicher, liebevoller, aber dennoch ein "Fremder", ein "Deutscher".

Alles brodelte in mir. Von Trauer um den toten Anführer war keine Spur zu sehen. Ich hasste ihn und alles, wofür er stand. Und je mehr Nina litt, desto mehr wurde ich wütend. Worte, die Nina und alle ihre Komsomolzen und Parteivorbilder beleidigten, kamen mir über die Lippen. Aber ich hielt mich zurück und schwieg. Darüber war ich froh. Allmählich beruhigte sich Nina und wurde ruhiger. Ihr Drang zur Versöhnung war ebenso emotional wie der Wutausbruch, der mich gerade heimgesucht hatte.

In diesen Tagen war es nicht nur für diejenigen schwierig, die den Führer verehrten. Für diejenigen, die ihn hassten, war es nicht einfacher. Schließlich mussten sie ihre Gefühle verbergen und so tun, als wären sie schockiert über das Leid, das das Land und sie persönlich getroffen hatte. Ich musste mich nicht nur bei der Arbeit und auf der Straße verstellen, sondern auch zu Hause, und das war besonders schwierig.

In der Zwischenzeit spielten sich in Moskau geheimnisvolle und für Normalsterbliche unverständliche Vorgänge ab. Die Personen an der Spitze des Staates wechselten: Malenkow, der nach Stalins Tod die Macht in Partei und Staat gefestigt hatte, teilte sie mit Chruschtschow, der Sekretär des Zentralkomitees geworden war. Stalins Sekretariat wurde aufgelöst, und am 27. März folgte eine Amnestie für Gefangene, die nicht mehr als fünf Jahre abgesessen hatten. Es versteht sich von selbst, dass es sich dabei hauptsächlich um Kriminelle und nur in geringem Maße um politische Gefangene handelte. Schließlich wurden die meisten von ihnen zu Haftstrafen zwischen zehn und fünfundzwanzig Jahren verurteilt.

Am 4. April 1953 verkündete die Prawda, dass die "Arztmörder" Opfer einer Provokation gewesen seien und dass ihre "Geständnisse" in Wirklichkeit durch die Anwendung "unzulässiger und nach den sowjetischen Ermittlungsgesetzen streng verbotener Mittel" erlangt worden seien. Die Ereignisse wurden durch einen Erlass des Zentralkomitees der KPdSU "Über die Verletzung der Legalität durch die Sicherheitsorgane" noch weiter publik gemacht. Sie erklärte, dass der Fall der "mörderischen Ärzte" kein Einzelfall sei, dass die Staatssicherheitsdienste durch die Aneignung exorbitanter Rechte Gesetzlosigkeiten begangen hätten und dass die Partei durch die offene Bloßstellung dieser Methoden diese ablehne und die Allmacht der politischen Polizei verurteile.

All diese erstaunlichen Entwicklungen waren ermutigend. Überraschend war jedoch, dass der Kampf um die Wiederherstellung der "sozialistischen Legalität" von Beria selbst geführt wurde, der sich nach Stalins Tod auf mysteriöse Weise in den "Chef-Liberalen" des Landes verwandelte.

In der Zwischenzeit hielt der Frühling Einzug in Jenisseisk. Der Schnee schmolz schnell und legte Schlamm und Geröll frei. Das Eis auf dem Jenissei begann sich zu bewegen. Stromabwärts von Jenisseisk, in der Nähe des Dorfes Podtjossowo, bildete sich ein Stau, der dem Jenissei den Zufluss zum Meer hin versperrte. Der Wasserstand begann schnell zu steigen. Die Mjelnitschnaja, die in den Jenissei mündete, trat über die Ufer und überflutete die Stadt von hinten. Das Wasser kam aus den Gemüsegärten zu unserem Haus. Auch ein Teil der Babkin-Straße wurde überflutet. Unternehmungslustige Jungen bauten Flöße und transportierten die vom Zentrum abgeschnittenen Städter gegen ein geringes Entgelt. In der Stadt brach Panik aus, vor allem in den unteren Stadtteilen. Man erinnerte sich an das Jahr 39, als sogar Boote die Lenin-Straße hinunterfuhren. Einige zogen, ohne die Überschwemmung abzuwarten, zu Verwandten und Bekannten in den höher gelegenen Teil der Stadt.

Am nächsten Morgen, als die Situation kritisch wurde, waren dumpfe Explosionen zu hören. Man sprengte einen Eis-Stau. Das Eis war in Bewegung. Es Eis brach und bröckelte, während es sich übereinander schob. Der Wasserstand fiel schnell und hinterließ am Ufer riesige, blubbernde Eisschollen. Aus dem bläulichen, im Frühlingssonnenlicht funkelnden Bruchstücken tropfte Wasser. In der feuchten Luft war das Geräusch von berstendem Eis zu hören. Das ganze Ufer war voller Menschen, denn die Eis-Drift ist ein alter Feiertag der Nordländer. Nina und ich befanden uns auch unter ihnen. wir mochten die ungeahnte Kraft des Flusses.

Ein paar Tage später fand unser Umzug in eine neue Wohnung statt. Die Siedlung liegt am Rande der Stadt, nicht weit vom Stadtgefängnis entfernt. Sie ist deutlich hinter einem spärlich gewachsenen Tannenhain zu sehen, besonders morgens in der aufgehenden Sonne. Ein riesiges Backsteingebäude aus der Regierungszeit Katharinas II., umgeben von einer hohen Steinmauer mit traditionellen Wachtürmen. Im Vergleich dazu wirkten unsere Schildhäuser wie Spielzeug. Sie wurden aus speziellen, schmalen und dünnen Brettern hergestellt, die mit Nuten ineinandergesteckt wurden und im Alltag als "wagonki" bekannt sind. Zwischen die Bretter wurde eine Schicht aus Holzspänen gelegt, die durch dickes schwarzes Papier von den Brettern getrennt war. Obwohl die Dicke dieser Platten nicht mehr als 8 Zentimeter betrug, konnten sie nach Ansicht von Experten die ersten Jahre warmhalten. Um zu verhindern, dass die Bewohner dieser Häuser erfrieren, mussten die Bauherren zunächst die Zwischenfugen abdichten und Erdaufschüttungen vornehmen. Letzteres wurde jedoch in der Regel nicht getan. Die Häuser standen auf Pfählen, wie auf Hühnerbeinen, und wurden nicht nur von den Seiten, sondern auch von unten belüftet. Die Fußböden waren kalt, weshalb Nina sie mit selbstgesponnenen Matten auslegte.

Jedes Haus war in vier Zweizimmerwohnungen unterteilt. Trotz der geringen Größe und des Mangels an den grundlegendsten Annehmlichkeiten waren Nina und ich überglücklich. Wir hatten nun eine Ecke, in der wir uns verstecken konnten, wenn schon nicht vor den Behörden, wie die Engländer, die sagten "my house is my fortress", so doch zumindest vor Fremden. Wir waren froh, dass wir einen Brunnen im Dorf hatten, so dass wir nicht mehr zum Jenissei gehen mussten, um Wasser zu holen. Zwar hatte sich nun der Weg ins Stadtzentrum und damit zum Arbeitsplatz fast verdoppelt, und ich hatte keine Möglichkeit mehr, zu Hause zu Mittag zu essen. Aber ich war jung und ging gern zu Fuß.

Dort, im Dorf, trafen wir Erna Andrejewna Seidel, Krankenschwester im städtischen Krankenhaus. Die Patienten liebten sie über alles. Auch zu Hause kam jeder in unserem Dorf zu ihr und bat um Hilfe. Unsere Häuser standen einander gegenüber, und sie besuchte uns oft. Ihr Mann, ein guter Tischler, arbeitete in einem örtlichen Handwerksbetrieb und verdiente nicht schlecht. Deutscher, wie ich, war er ein starker Trinker. Nicht nur ein Trunkenbold, sondern ein skandalöser Trunkenbold. Jeden Monat, wenn er sein Gehalt bekam, trank er es bis auf den letzten Pfennig aus und zerhackte im Suff alles in der Wohnung, was ihm in die Finger kam. Am nächsten Tag wurde er wieder nüchtern und begann, die Wohnung mit Hilfe seiner goldenen Hände neu einzurichten. Mehr als einmal musste ich ihn als Stammesbruder beruhigen, was Nina dazu veranlasste, mir das Leben schwer zu machen:

- Hast du den Verstand verloren? Er hat eine Axt in der Hand! Ich weiß nicht, was er sich in den Kopf gesetzt hat, - und nach einem Moment des Schweigens fügte sie hinzu:

- Hast du vergessen, dass wir Romotschka erwarten, willst du zwei Waisenkinder hinterlassen?

Trotz Stalins Tod und der Verurteilung vieler Maßnahmen der Staatssicherheitsorgane schrumpfte die Armee der unterdrückten Bürger des Landes nicht.

Vor allem an Ninas und meinem Status änderte sich nichts: Nina blieb Verbannte und ich Sondersiedler.

Ich war damals 32 Jahre alt, Nina 30, Valerik 4. Es war nur noch ein Monat bis zu Romochkas Geburt.

 

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