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Magdalina (Magdalena) Andrejewna Muss. Erinnerungen

Magdalina Andrejewna Muss (geb.1919)
Krankenhausangestellte
1919 — Geboren in einer deutschen Familie im Dorf Gorelowo, Tschudowsker Bezirk, Gebiet Leningrad (nach heutiger Verwaltungseinheit).
1920 — Tod der Mutter.
1937, 5. September — Verhaftung und kurz darauffolgende Erschießung des Vaters in Nowgorod (Andrej Adamowitsch Muss, geb. 1881) und des Bruders (Jakob Andrejewitsch Muss, geb. 1904).
1938, 27. Juli — Verhaftung von Andrejs Bruder (geb. 1906). Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche (als «Tochter eines Volksfeindes» konnte man höchstens als Reinmachefrau angenommen werden).
1941 — Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Leningrader Blockade.
1942, 17. März. — Einbestellung zum Bezirksrat. Aushändigung eines Dokuments über die Aussiedlung aus Leningrad. Übersetzen über den Ladoga-See mit einem Auto, anschließend siebenmonatige Etappe mit der Eisenbahn.
1942, Oktober. — Ankunft der Etappe in Pawlodar. Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche. Reinmachefrau bei der Fabrikverwaltung der «Glawmuka». Bald darauf Versetzung zur Lagerleiterin, Bereitstellung von Wohnraum, Wohngenehmigung.
1946 — Entlassung aus der «Glawmuka» (es war bekannt geworden, dass der Vater ein «Volksfeind» war). Danach Arbeit im Krankenhaus.
1951 — Verhaftungen von Deutschen.
1951, 16. April. — Verhaftung durch die Organe der Behörde des Ministeriums für Staatssicherheit im Gebiet Pawlodar. Haussuchung. Abschied vom kleinen Sohn (4 Jahre). Nächtliche Verhöre, Beleidigungen, Erniedrigungen, Misshandlungen. Folter durch Kälte, Schlafentzug. Erklärung des Hungerstreiks. Drohungen des Untersuchungsrichters, den Sohn in einem Kinderheim unterbringen zu lassen. Karzer.
1951, 25. Juni. — Urteil des Gebietsgerichts Pawlodar: 10 Jahre Haft in einem Besserungs-/Arbeitslager sowie 5 Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte. Etappe nach Krasnojarsk. In den Lagern bei Erdarbeiten eingesetzt (immer nachts).
1953 — Etappe ins KarLag (Karaganda).
1955, 11. Oktober. — Freilassung. Etappe nach Pawlodar.
1958, 29. August. — Rehabilitierung durch das Oberste Gericht der Kasachischen SSR – wegen fehlender Tatbestände.


Muss, Magdalina Andrejewna
Repressionen ausgesetzt am 16. April 1951,
rehabilitiert am 29. August 1958.

Ich wurde 1919 in dem Dorf Gorelowo, Tschudowsker Bezirk, Gebiet Leningrad geboren. Nachdem ich früh meine Mutter verloren hatte (sie starb 1920), lebte ich beim Vater. Am 22. November 1937 wurden der Vater und die beiden Brüder Andrej und Jakob verhaftet und einen Monat später erschossen. Es begann ein Leben voller Entbehrungen. Es gelang mir mit großer Mühe eine Arbeit in Leningrad zu finden – und das auch nur als Reinmachefrau, weil ich in meinem Lebenslauf ehrlich geschrieben hatte: der Vater wurde 1937 verhaftet. Als Tochter eines "Volksfeindes" wurde ich nirgends mehr angenommen.

Dann brach der Krieg aus. Die Blockade. Am 17. März 1942 bestellten sie mich zum Bezirksrat ein und händigten mir ein Dokument über meine Aussiedlung aus Leningrad aus. Um neun Uhr morgens musste ich am Finnländischen Bahnhof sein und durfte nicht mehr als 30 kg Gepäck bei mir haben. Auf dem Ladoga-See setzten wir über brüchiges Eis über. Dann wurden wir sehr lange in Güterwaggons transportiert, erst nach sieben Monaten trafen wir in der Stadt Pawlodar ein.

Wieder bekam ich keine Arbeit, denn in der Spalte "Nationalität" hatte ich „Deutsche“ geschrieben. Sie verlangten eine Erlaubnis des NKWD. Dort sagte man mir: "...ihr bekommt an der Front mit Raupenketten was verpasst, und du willst hier in der Stadt leben. Um 24 Uhr hast du die Stadt verlassen“. Aber ich fuhr nirgends hin, suchte weiter nach Arbeit. In der Fabrikverwaltung „Glawmuka“ hatte man Mitleid mit mir und nahm mich als Reinmachefrau an, denn Deutsche wurden in der Stadt nicht offiziell angemeldet. Bald darauf versetzten sie mich auf den Posten der Lagerleiterin, gaben mir ein Zimmer und meldeten mich an. Vier Jahre vergingen. Als sie erfuhren, dass mein Vater ein „Volksfeind" war, musste ich gehen.

Im Gebietskrankenhaus, wo man mich einstellte, waren bereits viele deutsche Frauen verhaftet worden. Daher erwartete ich jede Nacht auch meine Verhaftung. Und dann, am 16. April 1951 kamen sie, um mich zu holen, nahmen eine Durchsuchung vor, aber meine Schwester und ich lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen, so dass sie uns nicht hätten durchsuchen müssen; wir lebten in einer Erd-Hütte. Sie befahlen: "Anziehen und mitkommen!" Ich trat ans Kinderbett, nahm meinen schlafenden Sohn, er war vier Jahre alt, drückte ihn an mich, küsste ihn und legte ihn zurück ins Bett. In diesem Augenblick wurde mein Herz zu Stein, und ich konnte nicht weinen. Ich glaube, dass man kein Blut gesehen hätte, wenn man mir ein Messer ins Herz gestoßen hätte. Es ist schrecklich sich daran zu erinnern, wie sich mich ins Gefängnis brachten, das erste Verhör veranstalteten... Der Untersuchungsrichter sagt: "Offenbar bist du ein erfahrener Vogel; du hast nicht einmal geweint, als du dich von deinem Kind verabschiedet hast." Einen ganzen Monat lang forderten sie mich immer wieder auf: "Berichten Sie von Ihrer antisowjetischen Tätigkeit". Ich antworte: "Was wollen Sie von mir?" Später erfuhr ich, dass sie mich beschuldigten, weil ich angeblich wegen meiner Umsiedlung aus Leningrad mit der sowjetischen Regierung unzufrieden gewesen wäre, dass ich angeblich Hitler gepriesen und gesagt hätte, dass der nicht so schrecklich sei, wie er im Kino gezeigt wurde.

Die Verhöre fanden ausschließlich nachts statt, bekleidet von Kränkungen und Erniedrigungen. Tagsüber ließen sie mich nicht schlafen; wenn ich einnickte, wurde ich sofort geweckt, und man befahl mir aufzustehen und in der Zelle herumzugehen. Und die Nacht kommt, und wieder rufen sie mich zum Verhör, erlauben mir nicht, dass ich mich anziehe; ich trage nur ein Kleidchen mit kurzen Ärmeln. Ich sitze – die Zähne schlagen klappernd aufeinander, die Lüftungsklappe ist groß, vollständig geöffnet, und die Nächte im April sind sehr kalt. Der Untersuchungsrichter trägt einen Wollpullover, trägt darüber noch eine Tunika und einen Mantel. Ich beschloss, ebenfalls einen Mantel überzuziehen, aber er war dünn. Als ich am nächsten Tag das Amtszimmer im Mantel betrete, sagt er sofort: "Warum ziehst du dich an?" Ich antwortete: "Weil es kalt ist, und sie sind ja auch warm angezogen". Sie können sich vorstellen, wie er reagierte, und er schickte mich in die Zelle. Aber ich war so empfindlich, und als sich der Schlüssel im Schloss drehte, sprang ich sofort auf und ergriff schnell den Mantel. Und so war es drei-viermal in der Nacht. Wenn der Wachsoldat schneller am Kleiderhaken war als ich, durfte ich den Mantel nicht überziehen.

Die aufreibenden nächtlichen Verhöre und schlaflosen Tage trübten das Gehirn, es war unmöglich, die Gedanken zusammenzuhalten und zu Worten zu verbinden. Ich fühlte, dass ich nicht durchhalten und vollständig abstumpfen würde. Da sagte ich zum Ermittlungsrichter: "Sie wollen mich mit Schlaflosigkeit quälen, aber für jedes Gift gibt es ein Gegenmittel". Auf die Frage: "Und welches Gegenmittel haben Sie gewählt?" antwortete ich: "Den Hunger. Ich habe die Leningrader Hungersnot noch nicht vergessen. Damals haben wir wochenlang nicht geschlafen". "Na, dafür bist du viel zu schwach".

Von dem Tag an nahm ich keine Nahrung und auch kein Wasser mehr zu mir. Am fünften Tag musste ich mich schon an den Wänden festhalten, am siebten wurde ich zwangsernährt. Sieben Leute kamen, binden mir die Hände zusammen, brechen mir mit einem Mundspreizgerät die Zähne. Das war echte Folter. Zuerst wird die Mischung durch eine Sonde gegossen und dann lassen sie mich gehen. Kaum haben alle die Zelle verlassen, stecke ich zwei Finger in den Mund und erbreche alles wieder, nichts ist im Magen geblieben. Doch in der Kammer saß eine "Glucke", die den Ermittler darüber informierte, und von da an musste ich nach so einer "Fütterung" mehrere Stunden mit gefesselten Händen liegenbleiben. Während der Zeit konnte ich meine Hände nicht bewegen, und diese "Henne" rieb sie für mich und versuchte mich zu überreden: "Unterschreib alles und quäl dich nicht, ich habe auch alles unterschrieben". Aber ich erwidere: "Ich unterschreibe keine Lügen. Ich möchte vor Gott sauber dastehen. Ich will sterben, aber Lügen unterschreibe ich nicht. Du kannst deine Sachen ruhig unterschreiben. Es ist dein Wille, jeder ist für sich selbst verantwortlich." Danach ließ der Untersuchungsrichter mich in Ruhe. Aber davor hatten sie mich nach jedem Verhör in den Karzer gesteckt. Der Ermittler demütigte mich, wo er nur konnte. Ständig meinte er: "Der Apfel fällt nicht weit vom Baum." Aber ich wollte schon nicht mehr leben du antworte ihm scharfzüngig, dass ich mein baldiges Ende wünschte. Im Karzer versuchte ich ständig mir das Leben zu nehmen. Ich riss die elektrische Leitung aus der Decke und schnürte mir die Luft ab. Aber ganz tat ich es dann doch nicht, denn ich wollte weiterleben und alle Demütigungen erdulden. Aber im Karzer saß ich nur bis zum Eintreffen der Ärztin; sie kam am Morgen und schrieb mich aufgrund meines Gesundheitszustands aus dem Karzer frei.

Schließlich fing der Ermittler an mich zu erpressen: "Wenn du nicht unterschreibst, stecken wir deinen Sohn ins Kinderheim". Ich antworte: "Meine Schwester wird ihn nicht herausgeben". "Und wir werden nicht lange fragen!" Bereits nach meinem Hungerstreik (ich war freilich nur noch Haut und Knochen) lässt er mich holen, nimmt den Hörer vom Wandapparat (Telefon), sieht mich an und prüft meine Reaktion. Dabei spricht er in den Hörer: "Sagen Sie, haben Sie den kleinen Arthur Muss schon ins Kinderheim gebracht?" Und am anderen Ende wird angeblich geantwortet: "Ja." Er zu mir: "Na also, du wolltest nicht unterschreiben – das Kind ist nun im Kinderheim." Ich stehe stolz da und antworte: "Vielen Dank für Ihre „väterliche Fürsorge“, das wollte ich vor Gericht beantragen, denn meine Schwester schafft es nicht, drei Kinder großzuziehen, aber nun haben Sie es ja schon getan." Er wusste nicht, was er erwidern sollte; er hatte erwartet, dass ich hysterisch werde und dann wohl alles unterschreiben würde, wenn sie nur das Kind nicht anrühren würden. Aber ich saß ruhig da uns sage zu ihm: "Und nun sagen sie mir, wer von uns ein Volksfeind ist? Sie sind es, der die Sowjetmacht kompromittiert, die Leute mit einem sowjetischen Kinderheim erschrecken!" Er konnte nur noch sagen: "Das ist nicht so." Eine Woche später lässt er mich erneut holen und sagt: "Setzen Sie sich und schreiben Sie eine Vollmacht für ihre Schwester, damit sie Geld für ihren Sohn bekommt." Ich hatte ihm kein Wort von meinem Sohn gesagt, aber er hatte auch so verstanden. Aber ich saß wohl ungefähr zwei Stunden da und konnte nicht anfangen zu schreiben, so sehr zitterte meine Hand. Schließlich schrieb ich. Einen Tag später durfte ich meine Schwester und meinen Sohn wiedersehen. Im Büro des Gefängnisleiters. Und danach ließen sie mich nicht noch einmal holen.

Ich hatte bereits beim ersten Verhör gesagt, dass ich lieber sterben, aber keine Lügen unterzeichnen würde. Darauf hatte der Untersuchungsrichter geantwortet: "Ihre Haftstrafe kriegst du, auch wenn du nicht unterschreibst." Und so kam es auch. Ich bekam 10 Jahre Haft und 5 Jahre Entzug der Rechte, aber diejenigen, die ihre Unterschrift geleistet HATTEN; WURDEN FÜR „% Jahre weggesperrt.

Das schlimmste im Lager sind – die Etappen, und davon gab es mehrere. Ich arbeitete im Lager bei Erdarbeiten, die Frauen gingen immer nachts zur Arbeit, die Männer am Tage. Ich erfüllte die Norm stets zu 200 Prozent. Ich habe meine Haftstrafe abgearbeitet, aber sie haben mich trotzdem nicht nach Hause gelassen. Als Stalin starb brachten sie uns aus den Krasnojarsker Lagern ins KarLag. Und als die Freilassung kam, schickten sie mich mit einer Etappe nach Hause. Ich wurde am 11. Oktober 1955 in die Freiheit entlassen, aber Zuhause traf ich erst im Dezember ein; erst musste ich noch im Gefängnis von Palodar übernachten und warten, bis sie mich als Deutsche registriert hatten.


M.A. Muss [Erinnerungen] // Unterliegt nicht dem Vergessen / Archiv- und Dokumentationsbehörde Gebiet Pawlodar; verantw. Red.: A.K. Schakina, A.M. Imantajewa; Verf.: J.K. Afanassjew, O.W. Bobreschowa, W.D. Boltina [u.a.]. – Pawlodar: EKO-Verlag, 1997. – S.119–122.
Computer-Datenbase „Erinnerungen an den GULAG und seine Urhebern, erstellt vom Sacharow-Zentrum

Regionale öffentliche Organisation «Öffentliche Kommission zur Wahrung des Erbes des Akademikers Sacharow» (Sacharow-Zentrum) laut Beschluss des Ministeriums der Justiz der Russischen Föderation vom 25.12.2014, ¹1990-r, eingetragen im Register der Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen. Gegen diese Entscheidung wird vor Gericht Berufung eingelegt.


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