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Schaffung eines Stützpunktes für den Bau des Norilsker Bergbau- und Hütten-Kombinats. Das Norillag unter W.S. Matwejew

Norilsker „Memorial“, Ausgabe 4, Oktober 1988

Tatjana Wenzenoszewa, Studentin am Norilsker Industrie-Institut, Gruppe ÖK-90, 1990

Wir haben uns daran gewöhnt, dass das Jahr 1938 in Norilsk mit der Ankunft A.P. Sawenjagins beginnt, aber bis dahin waren es noch ganze vier Monate, in denen Matwejew Leiter des „Norilsker Bauprojekts“ blieb – ein Mann mit tragischem Schicksal. Unter ihm entstanden in der kahlen, leblosen Tundra die ersten zweistöckigen, aus Stein gebauten Norilsker Häuser, die ersten Straßen, die ersten Industrieobjekte, die erste Eisenbahnlinie. Sawenjagin legte Matwejew zur Last, dass er sich angeblich mit viel zu vielen „Kleinigkeiten aller Art“ befasste und dabei alle Entscheidungen über die vorrangigen großen Aufgaben ins Hintertreffen geraten ließ. Aber gab es denn damals Wichtigeres, als gerade die Kleinigkeiten, waren nicht gerade sie es, welche in Angriff genommen werden mussten, um die ganze, komplizierte Bautätigkeit nicht noch mehr zu erschweren? Wie viele Situationen gab es, die man in keinem einzigen Projektinstitut oder Konstruktionsbüro hätte im Voraus planen oder rechnen können, wie viele von ihnen mussten vor Ort entschieden werden, ohne dass wirklich qualifiziertes Personal vorhanden war? Aber Matwejews Schicksal war beschlossen. Sawenjagin war bereit, das Bauprojekt zu übernehmen.

Das Jahr 1938 begann mit großen Schwierigkeiten. Im Dezember 1937 wurde der Produktionsplan nicht erfüllt, der vielen „Spezialisten“ aus dem Zentrum zu niedrig angesetzt schien. Man fasste den Beschluss, einen Feld-Stab für den Bau eines Kombinats zu organisieren. (Das Wort „Kombinat“ als Bezeichnung für das Bauprojekt wurde von Sawenjagin zum ersten Mal im Mai 1938 verwendet).

Mit dem Ziel, für das Jahr 1938 den Bedarf des Bauprojekts an qualifiziertem Personal zu decken und der Ausbildung einen effektiveren Charakter zu verleihen, wurde der Beschluss über die Organisierung eines Lehr-Kombinats bei der 4. Abteilung beschlossen, das aus zwei Arten von Ausbildung bestehen sollte: eine mit Trennung vom Produktionsbereich (Befehl vom 17. Januar 1938), und drei Tage später begann per Befehl N° 39 die Weiter-Qualifizierung aller Häftlinge des NKWD-Norillag, die aus Fachberufen stammten.

Die Weiterbildung wurde mit dem Ziel durchgeführt, eine „vollständigere und genauere Anzahl Spezialisten und qualifizierter Arbeitskräfte aus den Reihen der Gefangenen aufzustellen sowie die Angelegenheiten hinsichtlich der Arbeitsstatistik in den Lagernebenstellen und der Registrierungs- und Verteilungsstelle der Häftlinge bei der NKWD-Norillag-Behörde zu regeln.

Ende Januar 1938 wird von Matwejew der Befehl N° 42 „Über die Durchführung einer Überprüfung des zahlenmäßigen Bestands der Lagerbevölkerung in der separaten (größten) Lageraußenstelle, dem Norilsker Lagerpunkt, herausgegeben. Die Kontrolle geschah mitten in der Nacht mittels persönlicher Befragung jedes einzelnen Häftlings und Vergleich der Angaben mit dem statistisch vorhandenen Material. Aufgrund den aus dieser Überprüfung erhaltenen Informationen schrieb Sawenjagin bereits im Juni 1938 an den Leiter des NKWD im GULAG: „Während der schiffbaren Zeit des Jahres 1938 sollen aus dem Norillag 2466 (unter ihnen Freizulassende, Invaliden, Schwangere) fortgebracht werden. Der Bedarf an Arbeitskräften ist auf 12000 Mann festgesetzt. Unter Berücksichtigung der abtransportierten Personen ist es erforderlich, 7000 Menschen hierher zu liefern. Ich bitte um Erteilung der Genehmigung für die Versendung von 5000 Umsiedlern und 2000 gewöhnlichen Kleinkriminellen“.

Die neu in Norilsk Eingetroffenen besaßen zumeist nicht die notwendige berufliche Qualifikation, ihre Ausbildung fand während der Arbeit statt (ohne dass diese unterbrochen wurde). „Die Liste besonders defizitärer Berufe beinhaltete Zimmerleute, Betonarbeiter, Fachleute für Armaturen, Sprengmeister usw. Das Verhältnis von freien Mitarbeitern zu Gefangenen stand ungefähr bei 1:8. Im Schnitt betrug die Zahl der aufgelisteten freien Arbeiter 1072 Personen, davon arbeiteten 109 beim Bau und auf Montage, 129 in angeschlossenen Nebenwirtschaften, 39 beim Transport, 41 im Sanitätsdienst und 8 in der Kultur- und Erziehungsabteilung. Dagegen betrug die Zahl der Gefangenen im Listendurchschnitt 8180 (am Jahresanfang waren es 7927, zum Jahresende 11560). Davon arbeiteten 2499 beim Bau, 3450 in den Hilfs- und Nebenwirtschaften, einschließlich 1428 beim Transport, 142 im Sanitätsdienst und 113 in der Kultur- und Erziehungsabteilung. Beim ingenieurtechnischen Personal betrug die Relation 4:1 zu „Gunsten“ der Häftlinge (entsprechend 198:55)“. Die Ausstattung bei den Arbeitsgeräten bestand an vielen Objekten lediglich aus Schubkarre, Schaufel, Brechstange, Spitzhacke…

Das sogenannte „Zehner“-Mess-System fand bei Erd- und anderen Arbeiten des Baubereichs breite Anwendung: 10 Schaufeln = eine Schubkarre, 10 Schubkarren = ein Kubikmeter, 10 Kubikmeter = die Norm! Es versteht sich von selbst, dass die Schaufel sowjetischer Art sein musste, so dass sie von der Größe her dem Standard der Staatlichen Normenbehörde entsprach. Was nun die Lagerdisziplin betrifft, so muss diese besonders hervorgehoben werden. Erstens: jeder zweite Befehl des Bau-Leiters oder seines Stellvertreters betraf die Verletzung der Gesetzmäßigkeiten, und zwar sowohl seitens der Häftlinge, als auch der freien Siedler. Es waren sämtliche Formen von Gesetzesbruch vertreten: rowdyhaftes Benehmen, kleinere Diebstähle, Prügeleien, Diebstahl in großem Rahmen, Beschädigung und Zerstörung von Arbeitsgeräten, Arbeitsverweigerung, sexuelle Freizügigkeit und Ähnliches mehr. Auch die Arten der Bestrafung waren ganz verschiedenartig: Arrest (im Strafisolator), Entzug der Anrechnung von Arbeitstagen, administrative Verantwortlichkeit usw. – bis hin zu Erschießungen. Befehl N° 45 vom 21. Januar 1938: „Wegen Verletzung der Lagerdisziplin, die sich in Form von Fluchtversuchen, Rowdytum, Arbeitsverweigerung, Diebstahl, Banden-Tum und Terrorisierung der Lagerinsassen geäußert hat, sind folgende Personen zum Tod durch Erschießen zu verurteilen: ….“ – es folgt eine Liste mit 18 Familiennamen. Aber es gab auch Fälle, von denen wir erst heute erfahren. So nämlich beschrieb Eljan, der Gehilfe des Kombinatsleiters, die Tätigkeiten der Kommandantur am Lagerpunkt Dudinka: „Der ganze Kommandantur-Apparat besteht offenkundig aus verbrecherischen Elementen der Häftlinge, und sie treten gegenüber den Lagerinsassen mit einem spöttischen, beleidigenden Verhalten auf. In den Baracken sind systematische Trinkgelage und Diebstahl gang und gäbe. Die Kommandantur verletzt mit ihrem groben, verbrecherischen Verhalten die Revolutionsgesetzmäßigkeiten. In der Kultur- und Erziehungsabteilung sind Verfall und Zersetzung an der Tagesordnung.

Die Erzieher sind laufend betrunken und verhöhnen die inhaftierten Frauen, sie terrorisieren die Lager-Insassen, welche den Versuch unternommen haben, ihr illegales Zum aufzudecken. Die Mitarbeiter der Erfassungs- und Verteilungsstelle aus den Reihen der Gefangenen sind inzwischen so frech geworden, dass sie einen zwingen, für sie in der Küche Extra-Mittagessen zuzubereiten; außerdem versetzen sie unwillige Häftlinge von einer Arbeitsstelle zur anderen. Die Kommandantur-Vertreter spielen Karten und vertuschen kriminelle Delikte. Die Gefangenen erhalten keine Antwort auf ihre Beschwerden“.

Nach Sawenjagins Ankunft begann die Arbeit an einer Verschärfung der Disziplin, welche vor allen Dingen die Häftlinge betraf. In der Hauptsache ging es dabei um den Kampf gegen Arbeitsverweigerer, Saboteure und andere, die in großer Zahl den „kriminellen“ Teil der Lagerinsassen ausmachten. Der stellvertretende Leiter des Bau-Kombinats W.P. Busygin erteilt den Befehl: „Alle Lagerinsassen, die nicht mehr als 45% der Norm erfüllen, sind bei Fehlen besonderer Umstände als Arbeitsverweigerer anzusehen und erhalten nur noch Strafverpflegung“.

Am 17. Oktober 1938 unterzeichnete Sawenjagin den Befehl N° 409: „An den stellvertretenden Leiter des Norillag, Leutnant der Staatssicherheit Genosse Aleksejenko, binnen einer Frist von 5 Tagen die Einrichtung einer Baracke mit verschärftem Vollzug innerhalb der Lagerzone zu beenden. Ich befehle des Weiteren meinem Stellvertreter, dem Genossen Busygin, binnen einer Frist von 2 Tagen den Bau eines Karzers innerhalb der Lagerzone zu beenden. Alle Drückeberger und Saboteure sind nach Schichtende in die Baracke mit verschärftem Regime zu schicken. Die Verpflegung in der Baracke mit verschärftem Regime ist auf die übliche Strafration zu beschränken – mit Ausgabe von 300 g Brot und unbedingtem Ausmarsch zur Arbeit unter Wachbegleitung“.

Unweit von Norilsk befand sich eine Stelle, an der der Lebensweg zahlreicher völlig unschuldiger Menschen endete. Dieser Ort heißt „Norilsk-2“. „Bis auf den heutigen Tag füllt sich bei diesen Worten die Seele mit Hass gegenüber den Henkern“, - schrieb Aleksej Karawajew, einer der Gefangenen des Norillag. – Die vom Schicksal Gezeichneten wurden jeweils in Gruppen von 30-40 Mann fortgebracht, und niemand bekam sie danach jemals wieder zu sehen. Abtransportiert wurden sie immer nachts, per Verteilungsschlüssel. Und von diesen Nächten gab es in den Monaten Juli und August des Jahres 1938 nicht nur eine oder zwei“.

Das Leben vieler Norilsker endete tragisch, unter ihnen befand sich auch W.S. Matwejew. Ich möchte an dieser Stelle die Erinnerungen des alten Norilskers Nikolai Jermolajew an Wladimir Sosimowitsch Matwejew anführen: „In meinem Gedächtnis ist Matwejew ein Mensch im wahrsten Sinne des Wortes geblieben. Er machte zwischen uns in unserer Situation nie einen Unterschied. Wir hatten persönliche Gespräche, als ich nach dem großen Feuer das Elektrokraftwerk in Dudinka wieder mit aufbaute.

Viele Male hörte ich seine Unterhaltungen mit den Brigadeführern, wenn er deren Aufgaben erläuterte. Er benahm sich so, wie sich der Umgang mit Menschen gehört, mit denen er laut Befehl einen für das Land so wichtigen Metallurgie-Standort schaffen sollte. Er verstand es, den Tonus bei der Arbeit aufrecht zu erhalten und in schwierigen Situationen die richtigen Worte zu finden, Mut zu machen. Er erledigte die Entlade-Arbeiten genauso wie wir, die Gefangenen, und verpflichtete alle frei angestellten Mitarbeiter seinem Beispiel zu folgen. In den Raucherpausen konnte man ihm jede beliebige Frage stellen und bekam immer eine ausführliche Antwort. Er erzählte uns seine Biographie…“

Ganz anders hört sich die offizielle Bewertung der Tätigkeiten Matwejews an. So führte A.P. Sawenjagin in seinen Kontakten mit Jeschow die Bilanzen aus dem ersten „matwejewschen“ Zeitraum der Existenz des Norillag an: „Die Situation des Bauprojekts ist schlechter, als es im Rechenschaftsbericht geschrieben steht…

Es gibt keine Lagerleitung, starke Unterabteilungen wurden im Lager nicht geschaffen, es gibt keine Umzäunungen, keine Dienst- und Vollzugsordnung. Auf der Baustelle wurde offenkundige Schädlingstätigkeit aufgedeckt“.

Matwejew kostete dies die Freiheit und später das Leben.

Norilsker Memorial 4, Oktober 1998
Ausgabe des Museums für die Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets und der Norilsker „Memorial“-Organisation


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