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Norilsker „Memorial“, Ausgabe 5-6, Oktober 2010

Erfahrung der Rekonstruktion der Geschichte der Familie von W.W. Ellerberg anhand von Materialien aus dem Familienarchiv.

Leningrader „Dekabristen“ in Norilsk

Unter den Gefangenen und Verbannten des Norillag gab es nicht wenige bedeutende Vertreter der Leningrader Intelligenz. Dazu gehörten auch der Erstentdecker der Norilsker Fundstätten N.N. Urwanzew, der Historiker und Poet L.N. Gumiljew, der stellvertretende Direktor der staatlichen Ermitage N. Kuranow, die Künstlerin O.J. Benois - Schwester des bekannten Künstlers aus der „Welt der Künste“ M.W. Dobuschinskij, der Violoncellist und Dirigent S.W. Djagilew, Neffe des berühmten russischen Impressario S.P. Djagilew, W.M. Wasnezow – Enkel des großen russischen Künstlers.
(A.N. Benois – Mitglied der russischen Künstlervereinigung „Welt der Kunst“)

Unweit von Norilsk, in Turuchansk, verbüßten Ariadna Efron, Tochter von Sergej Efron und Marina Zwetajewa ihre Haftstrafe, in Igarka der Theaterkünstler D. Seljenkow, der vor seiner Verhaftung an den Aleksandrinsker und Mariinsker Theatern in Leningrad gearbeitet hatte und den Familien des Künstlers Lansere väterlicherseits und den Benois mütterlicherseits entstammte; dort saßen auch der Regisseur des Leningrader Komödientheaters W. Jogelson und viele andere ein.

Zwischen beiden Städten – Leningrad und Norilsk – erstreckten sich „miteinander verknüpfte Fäden“ menschlicher Schicksale.

Die Vertreter der Intelligenz von Leningrad, Moskau und anderen Großstädten des sowjetischen Landes, die nach der Freilassung aus der Haft in freier (in Wirklichkeit war es eine erzwungene) Ansiedlung in Norilsk geblieben waren, bemühten sich darum, hier eine Analogie zu jener kulturellen Szene zu schaffen, aus der sie „herausgerissen“ worden waren.

Augenzeugen berichten von wunderbaren häuslichen Abenden in den Familien ehemals politisch-verfolgter Musiker. „Stellen Sie sich ein ganz gewöhnliches Zimmer vor, - erinnert sich A.A. Briljew, - in einer Ecke ein Klavier und zahlreiche Stühle und Schemel, die Begleitung, Sänger treten heran. Die Zuhörer nehmen Platz, die Oper „Fürst Igor“ beginnt. Eine derartige Aufführung am Wohnort der Familie Djagilew war keine Seltenheit. Manchmal wurden Artisten und Zuhörer müde, dann wurde eine Tee-Pause abgehalten. Danach ging die Oper weiter. Wir, die Kinder, kannten alle Partien daraus auswendig“. (A.A. Brilew: …Der wichtigste Reichtum der Norilsker Fundstätten sind nicht Kupfer und Platin, sondern die Menschen!". Zu lesen im Buch: „Über Norilsk, über die Zeit, über sich selbst“. Erstes Buch, Moskau 2001, S. 390).

Anatolij Lwow schrieb: „Die Intelligenten, die ins Norillag gerieten (nicht diejenigen, von denen man sagt sie seien „charakterlos“ und „unzuverlässig“, sondern gerade die, welche sich durch die Kraft des Geistes auszeichneten, nicht Aufgaben und es auch nicht zuließen, dass ihre eigene Seele und die Seelen der sie umgebenden Menschen zerbrachen) besaßen die gleiche Bedeutung für Norilsk, wie die Dekabristen – für Sibirien“.3 (von mir Kursiv gedruckt. – J.U.)
(A. Lwow. Talente und Bewunderer // „Polar-Wahrheit“, 1992, 23. April. S.S.)

Der Ehrenplatz unter diesen “Norilsker Dekabristen” gebührt dem Musiker und Pädagogen Viktor Wladimirowitsch Ellerberg. Im vorliegenden Artikel unternehmen wir den Versuch, das Schicksal des Musikers und seiner Familie anhand von Materialien aus dem einzigartigen Familienarchiv zu rekonstruieren.

Das Familienarchiv der Ellerbergs

Es ist nicht einfach das Bild der Lebensereignisse ehemaliger Repressierter wiederentstehen zu lassen. Man wird notgedrungen damit konfrontiert, dass sie es häufig vorziehen, überhaupt nicht über ihre Vergangenheit zu sprechen. Zeugnisse aus dem vorherigen Lebensabschnitt (Fotografien, Dokumente, Familien-Reliquien usw.) gingen unter den Bedingungen der Verhaftung und Verbannung zumeist unwiederbringlich verloren. Daher konnten viele Biografien dieser Menschen nicht vollständig rekonstruiert werden. Häufig besitzen sie keinen Anfang und bestehen außerdem aus einer Vielzahl „weißer Flecken“.

Unter den Norilsker Musikern, die im allgemeinen tragischen Schicksal vereint sind, nimmt Viktor Wladimirowitsch Ellerberg als Professioneller nicht den letzten Platz ein. Außerdem wurde jedoch das Interesse an diesem Musiker noch dadurch hervorgerufen, dass er es in diesen schwierigen Lebensumständen verstand, sein Erbe, sein einzigartiges Familienarchiv, dessen Materialien Grundlage für die vorliegende Forschungsarbeit wurden, sorgsam und akribisch für seinen Sohn zu sammeln, zu verwahren und es schließlich an ihn, Wadim Viktorowitsch Ellerberg zu übergeben.

Das Archiv beinhaltet eine hinreichende Anzahl unterschiedlicher Dokumente: Fotografien, Konzert- und Theater-Programme, zahlreiche Bescheinigungen vom Arbeitsplatz, Anfragen, Fragebogen, Briefe, Manuskripte musikalischer Werke und vieles mehr.

Ein bedeutender Teil der Dokumente zeigt die enge berufliche Verbindung der Oberhaupts der Familie Ellerberg mit dem Besitzer des renommierten Notengeschäfts in Petersburg – Ossip Iwanowitsch Jürgenson auf, bei dem W.G. Ellerberg arbeitete. Zu den einzigartigen historischen Dokumenten gehören auch eine Reihe handgeschriebener Schriftstücke: Notizen P.I. Tschaikowskijs, eine Federzeichnung auf einem Blatt Papier von Fjodor Schaljapin mit dem Vermerk: „Gezeichnet von F.I. Schaljapn, 1909“.

Die Arbeit an der Systematisierung der Archivmaterialien half dabei, nicht nur die Lebenslinie von Viktor Wladimirowitsch wieder aufzubauen, sondern auch die außerordentlich interessante Biografie seines Vaters, Woldemar Gustavowitsch Ellerberg (im weiteren Verlauf Wladimir Gustavowitsch).

Auf dem Weg zur Berufung

Viktor Wladimirowitsch Ellerberg wurde 1901 in Petersburg geboren. Sein Weg in den Beruf eines Musikers beginnt ziemlich spät. 1919 lernt der neunzehnjährige junge Mann an der P.I. Tschaikowskij-Musikschule. Und bereits 1922 beginnt er in Leningrad ein Studium am staatlichen Konservatorium in der Klasse des hervorragenden Pädagogen –Professor Samarij Iljitsch Sawschinskij.

In seinen Lehrjahren am Konservatorium erzielt Viktor Wladimirowitsch ernsthafte Erfolge als Spieler. Im Archiv ist das Programm eines der Konzerte verwahrt, das von der „Gesellschaft der Nacheiferer symphonischer Musik“ veranstaltet wurde (45. Konzert der XII. musikalischen Saison 1925-26, durchgeführt im Saal der Staatlichen Akademie-Kapelle im September 1926, wo wir unter den Auftretenden auch den Namen von W.W. Ellerberg sehen, der das Erste Konzert von S. Prokoffiew spielt).

Zu seinem Pädagogen unterhielt Viktor Wladimirowitsch eine freundschaftliche Beziehung. Das lässt sich aus einer im Archiv erhalten gebliebenen Fotografie C.I. Sawschinskijs schließen, auf der die Aufschrift zu sehen ist: „Dem lieben Viktor zur Erinnerung an eine lange Freundschaft. Mit besten Wünschen. Sawschinskij. 2. Juli 1941”.

Nach dem er 1928 das Konservatorium absolviert hatte, befasste sich W.W. Ellerberg mit pädagogischen Aktivitäten. Von 1930 bis 1937 arbeitete er in Staatlichen Musik-Kursen im Leninsker Bezirk von Leningrad als Lehrer in der Klavier-Klasse, ab September 1936 bis Juni 1937 an der Musik-Fachschule des Staatlichen Leningrader Konservatoriums als Pädagoge der allgemeinen Klavier-Klasse. Ab September 1937 bis Januar 1942 tritt er als Leiter der Lehreinheit in Erscheinung und führt die Sonder-Klavierklasse an der Kinder-Musikschule (einer „professionellen“ wie Ellerberg in einer der Autobiografien präzisiert) im Moskauer Bezirk.

Parallel zu seiner Arbeit erhält er eine zweite höhere Ausbildung. 1941 schließt er sein Studium am Musikpädagogischen Institut ab.

Äußerst wahrscheinlich ist es, dass W.W. Ellerberg einer der bekanntesten Musikpädagogen in Leningrad hätte werden können. Doch die Ereignisse in den 1930er und 1940er Jahren veränderten den Vektor der Ereignisse in seinem persönlichen Berufsleben.

Eine ganze Reihe gefälschter politischer Gerichtsprozesse gegen den „Volksfeind“, welche in Leningrad im Zeitraum 1927-1928 bis 1937 stattfanden, wurden zu Meilensteinen des „Leidenswegs der sowjetischen Gesellschaft nach Golgatha“. Sie zogen eine Welle der Repressionen in Bezug auf die Intelligenz nach sich. Der Große Vaterländische Krieg wiederum wurde zum Anlass für die Repressionen in Bezug auf die Bürger deutscher Nationalität, von denen eine ungeheuer große Anzahl verhaftet, hinter den Ural, nach Sibirien und in den Hohen Norden deportierte wurde.

In diese Kategorie fällt auch W.W. Ellerberg. Die estnisch-deutsche Herkunft von Viktor Wladimirowitschs Eltern bestimmte das „tragische Szenario“ des Lebens aller Mitglieder seiner Familie in den 1930er und 1940er Jahren. 1942 wurde er aus Leningrad mit dem ihm angehängten Staus eines Sondersiedlers zuerst in die sibirische Siedlung Karatus, dann nach Igarka und Anfang der 1950er Jahre nach Norilsk ausgewiesen.

In der entlegen nordischen Stadt, und nicht im heimatlichen Leningrad, war es ihm dann beschieden, sich als talentierter Pädagoge und vielseitiger Musiker zu realisieren. Nach jahrelangem Umherirren und der Unmöglichkeit im geliebte Beruf tätig zu sein, widmete sich W.W.Ellerberg, nachdem er nach Norilsk geraten war, mit unglaublicher Großmütigkeit der musikalischen Erziehung von Kindern, tritt vielfach als Spieler auf und schreibt selber Musik. Er wird einer der bekannten und in der Stadt geliebten Musiker.

E.I. Tarakanow (Sprecher des Norilsker Fernseh-Studios und Sänger) erinnerte sich: „Ins Haus der Pioniere kam ich nicht nur wegen des Unterrichts gelaufen, sondern um Viktor Wladimirowitsch Ellerberg ganz einfach nur „anzugaffen“. Stämmig, ziemlich klein, äußerst beweglich, an der Schwelle seines siebten Jahrzehnts, doch ohne sein sprühendes Temperament verloren zu haben, schuf er um sich herum ständig eine schöpferische Atmosphäre; in seiner Präsenz war es unmöglich, sich gleichgültig oder teilnahmslos zu verhalten. Damals stellte ich nicht die Frage, wie er mit seiner glänzenden pianistischen Technik nach Norilsk hatte geraten können. Ich vergötterte ihn einfach nur. Er war eine Legende, die irgendwie zwischen den Wänden des Hauses schwebte, wenn auch nur ganz klein und auch nur ein kleinwenig, und es war, als ob er Pjotr Iljitsch Tschaikowskij vor sich sah, ihn hörte, die gleiche Luft atmete und seinen Händedruck spürte! Leider weiß ich heute, dass diese Koryphäe der russischen Musik 1893 starb, so dass Viktor Wladimirowitch dem Urheber der „Pik Dame“ und des „Eugen Onegin“ niemals hatte begegnen können.

Man muss dazu sagen, dass die „schwebende Legendung“ nicht grund- und haltlos war. Nur war es Wladimir Gustavowitsch Ellerberg, der Vater von Viktor Wladimirowitsch gewesen, der die „gleiche Luft geatmet“ hatte, wie der große russische Komponist.

Woldemar August Gustavowitsch Ellerberg und die Jürgensons

Zu den Hauptquellen der biografischen Informationen gehören die zahlreichen Fragebogen, die von den Ellerbergs ausgefüllt wurden. Es ist bekannt, dass die endlosen Fragebogenaktionen, eingeführt vom Sowjetsystem, eine Form der politischen Kontrolle darstellten, eine Methode demütigender Überprüfung auf Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit.

Wladimir Gustavowitsch Ellerberg wurde 1864 in Estland in der Stadt Gaspal (heute Haapsalu) , Gebiet Reval, geboren. Es ist bisher nicht gelungen, Informationen über die Eltern des älteren Ellerbergs ausfindig zu machen. Im Alter von 15 Jahren (1879) kommt er nach Petersburg, wo er in die Dienste des Notengeschäfts von Josef Iwanowitsch Jürgenson tritt.

In J.I. Jürgensons Firma arbeitete er ohne Fehl und Tadel 39 Jahre. In einer Biografie schreibt Wladimir Gustavowitschs Sohn: „Mein Vater war der älteste Notenhändler in der Sowjetunion“.

Während ihrer Existenz nahm die Firma Jürgenson die führende Position auf dem Gebiet des musikalischen Notengeschäfts nicht nur in Russland, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus ein. Die sich rasant entwickelnde technische Ausstattung des Verlags, die Ausweitung des Laden-Netzwerks, das hohe Ansehen der Berufsmusiker und gewöhnlichen Musikliebhaber, welche Jürgensons Notenmaterial nutzten, erforderten eine hohe Qualifikation der Mitarbeiter aller Arbeitsgruppen in diesem Produktionszweig.

Es gibt wohl keinen Zweifel, dass die enorme Arbeitserfahrung in dem Notengeschäft der renommierten Firma die Erweiterung des Niveaus der beruflichen Komplexität Wladimir Gustavowitsch Ellerbergs begünstigte: vom gewöhnlichen Verkäufer von Notenblättern wurde er zu einem absolut Professionellen, der sich in den Funktionsprozess des Notengeschäfts in Russland hervorragend hineinversetzen konnte.

Begegnung mit P.I. Tschaikowskij

Die langjährige Beschäftigung bei J.I. Jürgenson gestattete es Wladim Gustavowitsch Ellerberg, mit den großen Musikern jener Zeit in Berührung zu kommen.

Viktor Wladimirowitsch Ellerberg erzählte dem Sohn (Wadim Viktorowitsch) mehrmals davon, dass sein Großvater Wladimir Gustavowitsch häufig mit P.I. Tschaikowskoj zusammen gekommen sei und einige seiner Anweisungen ausgeführt habe.

Als Beweis dafür dienen eine Notiz und eine Visitenkarte mit einer Bitte Tschaikowskijs an J.I. Jürgenson, die in Ellerbergs Privatarchiv aufbewahrt wurde. Im Hinblick auf diese kostbaren historischen Dokumente sagt6e Viktor Wladimirowitsch seinem Sohn: „das hier musst du unbedingt aufbewahren!“

1990 übergab Wadim Viktorowitsch diese Dokumente ans Klinsker Museum. Wir führen den Text der Notiz an, der in der Zeitschrift „Sowjetische Musik“ /1990, N° 6) zusammen mit einer Information zur Übergabe der einzigartigen Dokumente an das Museum veröffentlicht wurde, und im Archiv verblieb eine Xerokopie der handschriftlichen Notiz:

„Lieber Ossip Iwanowitsch! Bemühen Sie sich dem Antragsteller 200 (zweihundert) Rubel in Silber auszuhändigen. Könnten Sie, da Sie kein Bargeld von mir mehr bei sich haben, es jetzt nicht aus der Theaterkasse nehmen oder es leihweise herausgeben und dann von der allgemeinen Summe abziehen, die sie für die zweite Hälfte der Saison nehmen? Ich bitte um Verzeihung für diese ewige Unruhe. Ihr P. Tschaikowskij.
Paris 10/22. Januar 92“

Auf der Rückseite – die Quittung des Bruders des Komponisten, I. Tschaikowskij, über den Erhalt der bezeichneten Summe, datiert den 14. Januar 1892.

Drei andere Dokumente sind Viitenkarten P.I. Tschaikowskijs mit kurz darauf skizzierten Bitten, ihm Partituren, Libretti der Werke Tschaikowskijs zu schicken – gerichtet an J.I. Jürgenson.

Eine ganze Reihe von Dokumenten bezeugt, dass Wladimir Gustavowitsch in den 90-er Jahren des 19. Jahrhunderts bereits zu den geachteten Leuten innerhalb seines beruflichen Umfelds gehört. Scheinbar ist die Tatsache nicht zufällig, dass er der persönlichen Einladung zu Totenmesse P.I.Tschaikowskijs für würdig befunden wird. Dieses Dokument, welches ein typographisches Formular mit Stempel des Sankt-Petersburger Kontors der Imperatoren-Theater darstellt, ist im Archiv vorhanden.

All diese Dokumente wurden zu Familienreliquien des Archivs, das sich bei Wladimir Gustavowitschs Sohn befindet.

Die Familie W.G. Ellerberg

Die Tätigkeit in J.I. Jürgensons Notengeschäft besaß für W.G. Ellerberg eine schicksalsträchtige Bedeutung. Noch als ganz junger Mann gerät er in eine Umgebung, die großen Einfluss auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit, seiner Professionalität sowie die Herausbildung des Lebensmusters seiner Familie ausübte.

Anfang des 20. Jahrhunderts lebt die Familie Ellerberg (was Wladimir Gustavowitschs Visitenkarte bezeugt) in der Kasansker Straße Nr. 52.

Wladimir Gustavowitsch war zweimal verheiratet. Das erfahren wir aus einem Fragebogen, in dem er auf die Frage „haben sie Verwandte im Ausland“ antwortet: „Eine Tochter aus erster Ehe, die, nachdem sie 1913 geheiratet hatte, mit in die Heimat des Ehemanns nach Sachsen fuhr. Seit 18 Jahren haben wir uns nicht mehr geschrieben, und ich habe von dort keine Nachricht erhalten“.

Das Datum der Eheschließung mit der zweiten Frau, der Nationalität nach einer Deutschen, kann unmöglich genau ermittelt werden. Aber aus Viktor Wladimirowitschs Autobiografie erfahren wir, dass seine Mutter Josefina Andrejewna Ellerberg 1873 in Petersburg als Bürgerliche geboren wurde; ihr Leben lang half sie dem Vater bei der Arbeit, war jedoch hauptsächlich im Haushalt und mit der Erziehung ihrer vier Kinder beschäftigt.

Die noch vorhandenen Familienfotos aus dem „vergangenen Leben“ helfen wenigstens annähernd dabei, sich die Lebensatmosphäre der Familie Ellerberg vorzustellen.

Auf einem der Bilder erstarren Sohn Viktor und Tochter Elsa in Matrosenanzügen in der finalen Pose eines Tanzes, der offensichtlich anlässlich irgendeiner häuslichen Feier aufgeführt wurde.

Auf der anderen Aufnahme tragen Bruder und Schwester eine Perücke, wunderschöne Kostüme aus dem 18. Jahrhundert und tanzen ein Menuett.
Das dritte Foto stellt die große einträchtige Familie Ellerberg am Tisch in Faschingskostümen dar. Alle tragen Theatermasken, ein wirklich lustiger Anblick. Obwohl die Gesichter wegen der Masken nicht sichtbar sind, nimmt man bei der Betrachtung des Bildes ein Gefühl des Vergnügens bei diesem Familienspiel wahr, den Geist des Schaffens und des Kreativen, der im Hause herrschte.

Im Zimmer stehen ein Klavier, gediegene Möbel, schöne Wiener Stühle, an den Wänden hängen Bilder; anhand der Fotos lässt sich vermuten, dass es sich hier um das Haus einer, wenn auch nicht reichen, aber doch vollkommen glücklichen Familie handelt. Der Lebensstandard der Familie Ellerberg lag wohl über dem Durchschnitt. Die erhalten gebliebenen Familienfotos sind wertvolle Dokumente, die es ermöglichen, jene Informationslücken zu füllen, die mit der Lebensperiode der Familie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verbunden ist.

Diejenigen, die das Glück hatten, mit Viktor Wladimirowitsch Ellerberg in Norilsk Umgang zu haben, berichten von seinem enormen Fleiß, seiner verblüffenden Organisiertheit, seiner tiefen inneren Kultur, seinen Respekt gegenüber den Persönlichkeiten seiner Zöglinge und Kollegen. Zweifellos wurden die Eigenschaften aus der Familie vererbt.

Durch die Erziehung der Kinder wurde auch die gesellschaftliche Aktivität Wladimir Gustavowitschs als Gründer, Mitglied und Sekretär der „Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe für Angestellte in Buch- und Musikalien-Geschäften“ gefördert. „Für unsere Mitglieder und ihrer Familien, - schreiben Arbeitskollegen W.G. Ellerbergs Ende der 1930er Jahre in einer der Bescheinigungen, die im Archiv verwahrt sind, - wurden jedes Jahr öffentliche literarisch-musikalische Abende unter Mitwirkung renommierter Künstler organisiert; diese Abende rechtfertigten voll und ganz unsere Bemühungen und Ausgaben und waren gut besucht.

W.G. Ellerbergs berufliches „Umherirren“ nach 1918

Vor uns liegt die Kopie einer Bescheinigung aus dem jahre 1918, in dem wir lesen:

„Der Inhaber dieses Zeugnisses, Woldemar August Gustavowitsch (gemeint ist Wladimir Gustawowitsch) Ellerberg diente 39 Jahre in der Firma von J. Jürgenson und hat sich während der gesamten Zeit gegenüber seinen dienstlichen Pflichten mit beispielhafter Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit verhalten; er hat flink gearbeitet und dabei trotzdem stets akkurat und selbstlos, so dass ich ihn in jeder Hinsicht als nützlichen, geschäftigen sowie untadeligen und rechtschaffenen Mitarbeiter empfehlen kann“.

Wem die Unterschrift auf diesem Dokument zuzuordnen ist, ist leider nicht nachzuvollziehen. Bemerkenswert ist jedoch das Vorhandensein einer Art Kohlestempel in der linken Ecke, welcher maschinell gesetzt wurde: „J. Jürgenson, Kommissionär der Sänger-Kappelle der russischen musikalischen Gesellschaft und des Konservatoriums, Morskaja-Straße 9 (1871)“.

Das vorliegende Zeugnis fasst gleichsam die Merkmale zusammen, welche den Zeitabschnitt der gut verlaufenden, jahrelangen Karriere W.G. Ellerbergs als Notenhändler im berühmten Jürgenson-Verlag von der Zeit des beruflichen „Umherirrens“ trennt, dessen Gründe in den bekannten geschichtlichen Ereignissen liegen.

1918 wurden die Noten- und Musikalien-Geschäfte, Lagerräume sowie Notendrucke verstaatlicht und in die Zuständigkeit des Volkskommissariats für Aufklärung übergeben.

Bei den nachfolgenden Arbeitsplätzen Wladimir Gustavowitschs, die in seiner Arbeitsnachweisliste genannt sind, handelt es sich um völlig unerwartete Tätigkeiten, die keineswegs mit seiner langjährigen Berufserfahrung in Zusammenhang stehen. Nach allem zu urteilen, verhielt es sich so, dass er einfach irgendeine Arbeit annehmen musste, um zu überleben. In der Zeit von 1922 bis 1924 und 1924 bis 1927 war W.G. Ellerberg allerdings arbeitslos.

Erst 1927 erlaubte (!) man Wladimir Gustavowitsch wieder in seinen geliebten Beruf zurückzukehren. Nachdem er bereits auf ein Arbeitsleben von 39 Jahren in der renomierten Firma Jürgensons zurückblicken konnte, wird W.G. Ellerberg mit einer zweiwöchigen Probezeit als Verkäufer bei Lenotgis eingestellt. 1930 wird er sogar Assistent des stellvertretenden Leiters des Noten-Geschäfts. Doch im August 1932 wurde W.G. Ellerberg „von der Arbeit in der Musiknoten-Abteilung freigestelltl. Und von Mai bis Oktober 1932 arbeitet er als Rechnungsführer in der Aktionärsgesellschaft „Mologoles“.

Im Grunde genommen wird Wladimir Gustavowitsch die Möglichkeit seinen geliebten Beruf auszuüben praktisch seit 1918 verwehrt.

Jahre des Kampfes um den Vater (1936-1941)

Ab 1932 beginnt die dramatischste Zeit im Leben der Familie Ellerberg.

Wie weiter oben erwähnt, verlor Wladimir Gustavowitsch 1932 endgültig seinen Arbeitsplatz. Viktor Wladimirowitsch kann sich nicht damit abfinden, wie ruhmlos der Berufsweg seines Vaters endet, der sein ganzes Leben dem Dienst an der Musik-Kultur im lokalen, im „alten“ Russland jedoch ganz und gar geschätzten, Bereich gewidmet hat.

Wenden wir uns einem Dokument aus dem Jahre 1936 zu. Die erste Seite liest sich in Einzelheiten sehr schwer, aber der allgemeine Sinn ist verständlich und verblüfft durch einen für damalige Zeiten unerhörten Mut. Die Autoren des Briefes (Mitarbeiter des Musikalien-Verlage „Triton“) sind einer scharfen Kritik“ durch das Regionskomitee der Verlagsmitarbeiter ausgesetzt, welches einen bürokratischen Papierkrieg als Antwort auf ihr Ersuchen bezüglich der Verleihung des Titels „Held der Arbeit“ an W.G. Ellerberg entfachte, der „aufrichtig und gewissenhaft über fünf Jahrzehnte an der Kulturfront auf dem Posten eines Noten-Mitarbeiters tätig gewesen“ war.

Grundlage für das Gesuch war der Antrag des Sohnes Viktor Wladimirowitsch Ellerberg. Als Antwort auf sein Ersuchen verlangte das Gebietskomitee noch eine ganze Reihe weiterer Dokumente, die ebenfalls noch erhalten geblieben waren.

Doch der Titel „Held der Arbeit“ wurde W.G. Ellerberg verweigert.

1939 reichte das Leningrader Gebietskomitee der Arbeitervereinigung des Zeitungswesens bei den Organen der Sozialfürsorge ein neues Gesuch „über die Festsetzung einer persönlichen Rente für den Genossen W.G. Ellerberg als ältester aktiver Mitarbeiter auf dem Gebiet des Musiknotenhandels, als jemand, der mehr als 57 Jahre an dieser Front gearbeitet und in diesem Bereich eine Reihe von Mitarbeitern geschult hätte“ ein. Auch dieser Antrag wurde mit einem ablehnenden Bescheid beantwortet.

Traurig endete die berufliche Tätigkeit des „ältesten Notenhändlers des Landes“. Eintrag im Arbeitsbuch: „1939, 20.Mai, Leningrader Behörde für Einzelhändler … „Glawtabak“. Eingestellt als Kiosk-Verkäufer“ (von mir hervorgehoben – J.I.)

Die letzte Eintragung wurde buchstäblich 17 Tage nach der vorherigen vorgenommen, am 7. Juni 1939: „Auf eigenen Wunsch aus Krankheitsgründen entlassen“.

19955, nachdem er seine nächste Autobiografie (das Schicksal eines Verbannten) ausgefüllt hatte, schreibt Viktor Wladimirowitsch Ellerberg darüber, dass seinem Vater wegen seiner unbescholtenen langjährigen (62 Jahre) Berufstätigkeit und seiner erfolgreichen Arbeit 1940
die Ehrenurkunde des Zentral-Komitees der Vereinigung der Verlagsmitarbeiter in Leningrad… In demselben Jahr Starb Wladimir Gustavowitsch Ellerberg in Leningrad im Alter von 76 Jahren.

Der Sohn – die Stütze des Vaters

Beginnend mit dem Jahr 1922, als W.G. Ellerberg zum ersten Mal arbeitslos ist, wird Viktor Wladimirowitsch für viele Jahre zum praktisch einzigen Ernährer und Unterstützer der großen Familie Ellerberg.

Bereits 1918 wurde er Wirtschaftler, Buchhalter an der nichtkommerziellen Abteilung der ehemaligen Petropawlowsker Fachschule. Angefangen mit dem Jahr 1919 arbeitet Viktor Wladimirowitsch in verschiedenen Leningrader Fabriken und Werken als Rechnungsführer, technischer Mitarbeiter für Statistik, als Hauptwirtschafter in der Leningrader Isolatorenfabrik, Leiter der Abteilung Arbeit und Personal, Oberwirtschaftler usw.

Es ist verblüffend, dass er diese Tätigkeiten ausübte, während er gleichzeitig noch am Konservatorium studierte, bei Konzerten auftrat und in verschiedenen musikalischen Einrichtungen pädagogisch tätig war. Und all das fand schon vor dem Hintergrund der tragischen Familienverhältnisse statt, von denen wir indirekt aus einem der Archiv-Dokumente erfahren. Es handelt sich um eine Bescheinigung der Vormundschaftskommission vom 14.04.1932. „Vorliegende Bescheinigung wird Viktor Wladimirowitch Ellerberg darüber ausgehändigt, dass er auf Anordnung der Vormundschaftskommission vom 13.04.1932 zum Vormund und Nachlass-Verwalter des noch nicht volljährigen Garri Leopoldowitsch LISS, geboren am 26. Mai 1929, bestellt wird.

Der Nachweis wurde ausgestellt für den Empfang einer Rente und dem Erhalt von Alimenten, adressiert an den Namen von E.W.Ellerberg-Liss.

Garri Leopoldowitsch (Garrik) – ist der Sohn von Viktor Wladimirowitschs Schwester Elsa. Welches Schicksal seine Eltern ereilte, ist nicht zuverlässig bekannt, doch aller Wahrscheinlichkeit nach wurden sie politisch verfolgt. Viktor Wladimirowitsch hatte drei Schwestern, aber weder in den Fragebögen und Autobiographien der 1930er Jahre von Wladimir Gustavowitsch, noch in denen des Viktor Wladimirowitsch ist auch nur eine der Schwestern erwähnt.

Tragisch verläuft das Schicksal des geliebten Neffen von Viktor Wladimirowitsch. Er wurde zu Beginn des Krieges aus dem Kinderheim in Leningrad fortgebracht. Im Archiv sind einige Briefe des Jungen erhalten geblieben, die man nicht einfach kaltherzig lesen kann. Es sind wahrlich frappierende Dokumente aus jener schrecklichen Epoche.

Als Viktor Wladimirowitsch sich bereits in der Verbannung in Igarka befand, bat er mehrmals um die Erlaubnis, Garik zu sich holen zu dürfen. Diese Bitten wurden ihm abgeschlagen. Infolgedessen starb der Junge in einem sibirischen Kinderheim.

„Beweisen Sie, dass Sie kein Deutscher sind“

Die Gründe, aus denen die Menschen Diskriminierungen durch die Sowjetmacht ausgesetzt wurden, waren sehr vielfältig und zum größten Teil phantastisch absurd. Doch vielen Formulierungen lagen tatsächlich mehrere Hauptmotive zugrunde: Zugehörigkeit zur Intelligenz, zu den „ehemals Besitzenden“ oder die nationale Frage. Sie alle „trafen zu“ auf Ellerberg.

Doch die Entwicklung der Ereignisse, die zu dem tragischen Höhepunkt in der Familiengeschichte, der Deportation von Viktor Wladimirowitsch mit den übrigen Familienmitgliedern (der Mutter, die unterwegs in sibirischer Verbannung starb, und Ehefrau Ella Reinowna) im Jahre 1942 führten, konkretisierten endgültig den Grund für die Verfolgung – es war die Nationalität, er war Deutscher.

Man muss dazusagen, dass die Frage der Definition eines bedeutenden Teils der Petersburger Einwohner, besonders jener, die aus den baltischen Ländern, insbesondere aus Estland, zugereist waren, nicht einfach war.

Als ich beispielsweise versuchte, mögliche „Spuren“ der Familie Jürgenson unter den Opfern des stalinistischen Genozids ausfindig zu machen, sah ich die Repressierten-Listen mit diesem Familiennamen durch. Unter den 67 Personen, die den Nachnamen Jürgenson trugen (in Wirklichkeit waren es noch viel mehr), entdeckten wir Esten, Letten, Deutsche und Russen. Sie alle verbindet eines: sie wurden aus Gründen ihrer Nationalität repressiert.

Kehrt man zu den Helden unserer Forschungsarbeit zurück, könnte man glauben, dass die Nationalität als solche für Ellerberg vor den Ereignissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum entscheidend war. Man zwang die Familienmitglieder in der Zeit der Verschärfung der „deutschen Frage“ in Russland zwischen der Zugehörigkeit zu den estnischen und deutschen Wurzeln – zuerst in den Jahren des Ersten Weltkriegs und dann zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges - hin- und her zu schwanken.

Wir entdecken in vielen Dokumenten der Familie Ellerberg das betont beharrliche Streben diejenigen, die gegen sie Anklage erheben (!), hinsichtlich der deutschen Nationalität davon zu überzeugen, dass sie Esten sind.

In einem der Manuskripte des Jahres 1955 vermittelt Viktor Wladimirowitsch Ellerberg ein 1946 mit dem Leiter des MGB in Krasnojarsk geführtes Gespräch: ich bewies, dass ich väterlicherseits Este war. Man stellte mir einen Pass aus. Der stellvertretende Leiter des MGB erlaubte nicht, dass man ihn mir aushändigte. IN der Kommandantur fragte er: warum nicht? Aus welchem Grunde? Er bekam keine Antwort, dann sagten sie: „Sie sind Deutsche! Beweisen Sie, dass Sie kein Deutscher sind – dann werden wir Sie unverzüglich aus der „Sonderansiedlung“ freilassen“ (von mir kursiv gedruckt – J.I.)

„… weil ich nicht verbittert bin“

Alle Mitglieder der Familie Ellerberg, unter ihnen auch Viktor Wladimirowitsch, litten unschuldig für ihren deutschen Nachnamen. Doch sein schwieriges Leben in Leningrad und Norilsk führte er, trotz aller Entbehrungen und Verluste ihm nahestehender Personen, in Übereinstimmung mit den Worten D.S. Lichatschews, der einmal schrieb: „Ich bin in die Presse der rauen Wirklichkeit geraten“, aber wenn es mir tatsächlich in der einen oder anderen Weise gelungen ist, meine geistige Gesundheit , mein seelisches Gleichgewicht zu bewahren, dann nur deshalb, weil ich nicht verbittert bin“.(Von mir Kursiv gedruckt – J.I.)

Anfang der 1950er Jahre, nach seinem Aufenthalt in Igarka, zieht Viktor Wladimirowitsch Ellerberg nach Norilsk um, wo es schließlich zur Wiedervereinigung mit der Familie kommt und ihm das Glück wiederfährt, in den geliebten Beruf zurückzukehren. (Von Ehefrau und Sohn war er mehrere Jahre getrennt, denn sie waren schon früher nach Norilsk geschickt worden, während Viktor Wladimirowitsch in Sonderansiedlung in Igarka blieb.

Erhalten geblieben sind zahlreiche Fotografien aus diesem Zeitraum. Sie stecken voller Leben! Überall ist Viktor Wladimirowitch von einer riesigen Kinder- und Kollegen-Schar umgeben. Seine Energie, sein Temperament – erkennt man an den vom Fotografen festgehaltenen Bewegungen. Das offene, gutmütige Gesicht wird von einem Lächeln erhellt.

Neben vielseitigen pädagogischen Aktivitäten schreibt Viktor Wladimirowitsch auch Musik. Zum größten Teil handelt es sich dabei um Kinder-Lieder. Doch es sind auch zwei Theater-Programme zu Aufführungen des Norilsker Dramaturgie-Theaters erhalten geblieben, wo Ellerberg als Urheber der musikalischen Gestaltung ausgewiesen ist, und im zweiten Fall, als Komponist der Musik zu einer Aufführung nach dem Stück von Konstantin Finn „Annas Irrtum“. Auf dem Spielplan gibt es eine Aufschrift, angefertigt vom Hauptregisseur des Theaters, dem Verdienten Künstler der RSFSR J.L. Gelfand: „An Viktor Wladimirowitsch Ellerberg. Wir gratulieren von Herzen zur Premiere. Wir danken für die emotionale Szenenmusik. 27/IX.1955“.

Jahrzehnte später hatte ich das Glück, einem der ersten Schülerinnen Viktor Wladimirowitschs zu begegnen – Ljudmila Markowna Pischtschik, die 2006 zusammen mit einem Kammertrio und der berühmten Geigerin, Professorin der Wiener Universität – Dora Schwarzberg sowie dem Violincellisten Jorge Bosso zu einer Gastrolle nach Norilsk gekommen war.

Ljudmila Peschtschik beendete die Norilsker Musikschule in der Klavierklasse bei W.W. Ellerberg und studierte an der renommierten Schule des P.S. Stoljarskij-Konservatoriums in Odessa. Derzeit ist sie Dozentin am Petrosawodsker Konservatorium am Lehrstuhl für Kammermusik und gibt aktiv Konzerte als Pianistin. Sie teilte ihre Erinnerungen über den geliebten Pädagogen: „Schon damals begriff ich, wie großartig dieser Mann war, was für eine Persönlichkeit, dass er ein ganz großer Musiker war. Und alle musikalischen Eigenschaften, die bei mir zu Tage traten und die sich auch heute noch eröffnen, verdanke ich ihm.

Er hat praktisch das gesamte musikalische Leben von Norilsk organisiert (…). Ich studierte im Choreographie-Kurs, wo W.W. ebenfalls spielte. Aber wie er spielte! Es war die Musik der Balletts, Opern und Operetten. Er brachte Noten mit, spielte die Walzer und Mazurken von Chopin. Ich glaube das war eine Erziehung für den musikalischen Geschmack, für das Gehör, für die Erweiterung des Horizonts.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ein uninteressantes, primitives oder reines „Übungsstück“ studieren musste. Ich spielte die Choral-Präludien für Orgel von Bach, Mozarts Sonaten (und zwar vollständig, alle Teile!), die Etüden, Walzer und Mazurken von Chopin. Beim Abschlussexamen spielte ich Präludium und Fuge von Bach und ein Konzert von Grieg!

Das Wichtigste, das W.W. tat, war, dass er mir Vertrauen in meine Kräfte und Fähigkeiten einflößte. Als ich in Odessa ankam, um dort zu studieren, besaß ich nicht den Komplex einer Hinterwäldlerin; ich war dorthin gekommen, weil ich siegen wollte.

Er machte sich große Sorgen, weil er begriff, was für ein Niveau an der P. Stoljarskij-Schule herrschte, und immerhin warn meine technischen Grundvoraussetzungen ziemlich unzureichend (4 Jahre Unterricht – das war ein bisschen zu wenig). Aber nichtsdestoweniger nahmen sie mich damals als Einzige auf! Alle kamen gelaufen, um mich zu sehen – das Mädchen, das Wunderkind aus Norilsk. Ich glaube, W.W. lehrte mich, in Musik zu denken, sie zu fühlen und er brachte mir guten Geschmack bei, gab mir immer wieder Ansporn für die Entwicklung meiner Individualität“.

Der Umgang mit Vertretern der Klavierprofessur des Leningrader (Petersburger) Konservatoriums bildete die Grundlage des ihm innewohnenden strengen Systems, welches er bei seinen pädagogischen Aktivitäten beibehielt.

Am meisten ist allen Zöglingen W.W. Ellerbergs wohl seine unermessliche Liebe zur Musik und tu seinen Schülern in der Erinnerung geblieben.

Rückkehr nach Leningrad

Als schwerkranker Mann kehrte Viktor Wladimirowitsch Ellerberg 1960 mit der Familie nach Leningrad zurück. Die Wohnung war vor der Verbannung beschlagnahmt worden; daher ließ er sich bei Verwandten nieder. Sein Sohn Wadim studierte an der Musikschule in der Sadowaja-Straße, bei einer von Viktor Wladimirowitschs Schülerinnen – Faina Davidowna Brjanskaja.

1961, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, starb V.W. Ellerberg in der Siedlung Wolosowo bei Leningrad.

1967 schreibt Viktor Wladimirowitschs Ehefrau Ella Reinowa Ellerberg in einer Eingabe, gerichtet an die Adresse des Leiters der KGB-Behörde im Gebiet Leningrad: „ … Im Grunde genommen haben weder mein Mann noch ich jemals Gesetzesverletzungen begangen; wir wurden auf Grund der Tatsache ausgewiesen, dass mein Mann der Nationalität nach Deutscher war. Ich bitte den Beschluss über unsere Aussiedlung im Jahre 1942 zu revidieren und diese Verbannung als unbegründet angewandte Maßnahme zu annullieren. Für mich ist das absolut notwendig, und im Hinblick auf die Erinnerung an meinen Mann wäre das zudem nur allzu gerecht“. (Kursivdruck von mir – J.I.)

Im Archiv befinden sich Viktor Wladimirowitsch Ellerbergs Noten eines von ihm nicht vollendeten Klavierkonzerts, auf dessen Titelblatt geschrieben steht: „Gewidmet dem Gedenken an die lieben Eltern W.G. Ellerberg uns S. A. Ellerberg“.
Diese Tatsache scheint einen großen Symbolcharakter in sich zu bergen. Die Liebe zur Familie und den Eltern trug er durch sein ganzes Leben weiter. Ich glaube, dass er sich der Geschichte seiner Familie bewusst war – Als zwar kleine, doch recht wesentliche Seite in der musikalischen Geschichte Petersburgs-Leningrads. Daher auch die äußerst sensible Beziehung zu den dokumentarischen Beweisstücken dieser Geschichte und die Erklärung des unwahrscheinlichen Tatbestands der Aufbewahrung des Familienarchivs unter außergewöhnlichen Umständen.

Norilsker „Memorial“, Ausgabe 5-6, Oktober 2010.
Ausgabe des Museums der Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets und der Norilsker „Memorial“-Gesellschaft









 


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