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Anna Petrowna Panowa (Roschkowa). Erinnerungen

Unser Dorf Dworjets, Kreis Keschma, Gebiet Krasnojarsk, steht am Fluß Angara und gehört zu den Überschwemmungsgebieten, so wie viele Siedlungspunkte im Bereich des Bogutschansker Wasserkraftwerks. Heute sind diese Dörfer fast vollständig verlassen.

Dworjets war ein kleines Dorf – 60 Höfe gab es dort und nur eine einzige geradlinige Straße von mustergültiger Ordnung und Sauberkeit. Die Häuser sahen akkurat aus, ringsherum waren grüne Anpflanzungen, die Stakettenzäune der Vorgärten waren gestrichen. Der Weg führte hinter dem Dorf vorbei. Das Dorf war von einem Zaun begrenzt – mit Stangen, die wie Pfähle aufgestellt waren. Im Sommer, wenn die Wiesen mit Vergißmeinnicht blühten, die vom Flugzeug aus wie Wasser aussahen, erfüllte das Dorf ein feiner, zarter Duft. So war das damals, aber jetzt ist alles in einen Zustand der Verödung übergegangen. In diesem Sommer war ich dort: 5 oder 6 Wohnhäuser sind übriggeblieben, alles ist mit Gras zugewachsen.

Aus was für reichen Gegenden hatten sie uns vertrieben! In der Angara wurden Störe gefangen, manche bis zu 80 Kilogramm schwer, Sterlets, Grünlinge, Taimen-Lachse, Flußbarsche, Hechte und Lenok-Lachse. In den Wäldern konnte man hervorragend wilde Tiere jagen, und es gab alle möglichen Beeren in Hülle und Fülle; von den vorhandenen Pilzen sammelten wir nur Milchpilze und echte Reizker, alle übrigen galten als ungenießbar. Die Bauern betrieben hier immer Ackerbau, Viehzucht und Jagd. Noch vor der Revolution waren die jungen Männer für ein, zwei Jahre zur Lohnarbeit in die Goldgruben gegangen; mein Papa tat das auch, damals war er noch ledig (wir haben eine Fotografie vom Bergwerk aufbewahrt).

An dem uns gegenüberliegenden Ufer der Angara befand sich das Dorf Monastyr mit seiner großen Backstein-Kirche. Heute existieren sie beide nicht mehr, weder das Dorf noch die Kirche. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als die Kirche bereits geschlossen war, und Mama erzählte, daß früher, an religiösen Feiertagen, an Epiphanias, so viele Leute kamen, daß manchmal das Eis auf der Angara krachte und knackte, wenn das Wasser geweiht wurde und die Menschen über den gefrorenen Fluß gingen. Nachdem die Kirche geschlossen worden war verließen die Bewohner nach und nach Monastyr. Viele siedelten nach Dworjets um: bei uns gab es sowohl Ackerland und Wiesen, aber in der Umgebung von Monastyr gab es nur Wald. Die verlassene Kirche wurde nach und nach auseinander genommen: die Leute nahmen sich Backsteine weg, wenn sie welche brauchten; die Steine waren so hart, daß sie sogar klirrten, von heller Färbung und größer, als die heute verwendeten.

Während der Kollektivisierung wurde eine Kolchose organisiert; sie erhielt den Namen „Macht der Sowjets“. Auf den Kolchos-Ländereinen baute man Roggen und Weizen an; es gab Großvieh-Farmen, Schweine, und bis zum Krieg sogar Vogel- (Hühner) und Schafzucht-Farmen.

Im Rahmen der Kollektivisierung wurden bei uns, wie auch sonst überall, Entkulakisierungs-maßnahmen durchgeführt. Auch unsere Familie wurde enteignet, alles wurde konfisziert, wir mußten das Haus verlassen, wurden aber nicht irgendwohin deportiert. Die Ehefrau von Papas ältestem Bruder nahm uns bei sich auf. Papas Bruder war bereits verstorben, und Papa selbst war, glaube ich, zu dem Zeitpunkt nicht bei uns: sie hatten ihn verhaftet, später jedoch wieder freigelassen, Aber da ich damals noch so klein war, weiß ich nicht mehr, wann genau das war und in welchem Zusammenhang. Etwas später sagte Mama, daß der Vater zehn Monate nicht zuhause gewesen war. Und der Vetter erinnerte sich, daß er abgemagert, langhaarig und stoppelbärtig zufuß auf dem Tajscheter Trakt entlang kam – diese Straße führte über Dworjets zum Dorf Tscherwjanka im Gebiet Irkutsk. Wahrscheinlich hatten sie Papa als ehemaligen Partisanen freigelassen.

Den Grund für unsere Entkulakisierung und wie sie durchgeführt wurde kann ich heute niemanden mehr fragen, denn alle meine Verwandten sind schon verstorben. Zum damaligen Zeitpunkt bestand unsere Familie aus: Mama – Jewdokija Gawrilowna ROSCHKOWA (1902-1982), mein ältester Bruder – Nikolaj Petrowitsch ROSCHKOW (1920-1963) und ich – Anna Petrowna ROSCHKOWA (geb. 1925). Eine große Wirtschaft besaßen wir nicht. Der Vetter erinnert sich, wie sie die beschlagnahmten Leinen-Läufer ausgeschüttelt haben.

1938, im Frühjahr, rollte in unserem Dorf eine Verhaftungswelle. Auch mein Papa – Pjotr Wassiljewitsch ROSCHKOW (1896-1938) - wurde spätabends oder bereits mitten in der Nacht zuhause festgenommen. Außer dem Vater verhafteten sie auch Iwan Konstantinowitsch POPOW, der etwas älter war als Papa und so um 1890 geboren sein muß; wo er gearbeitet hat, weiß ich nicht; seine Tochter – Maria Iwanowna Karnauchowna, lebt in Sajanorgorsk.

Pjotr Trofimowitsch PANOW, wohl ein Altersgenosse von Papa (geboren zwischen 1894 und 1896), war Wald-Arbeiter bei uns am Waldpunkt der Keschmaer Waldwirtschaft; Nikon Wassiljewitsch WERCHOTUROW, der etwas älter als Vater war, sein Sohn Stepan Nikonowitsch Werchoturow – er lebt in Krasnojarsk, Schtschors-Straße 51, Wohnung 4. Ich kann mich nicht an alle Verhafteten erinnern, aber ich weiß noch dies: in unserem Dorf lebten zwei politische Häftlinge als Verbannte, Angehörige der Intelligenz, aus irgendwelchen großen Städten im Westen; ihre Familiennamen wußte ich nicht, nur die Vornamen: Iwan Iwanowitsch, bereits etwas betagt, mit kahlrasiertem Kopf, und Anissim Nikolajewitsch, der etwas jünger war, der immer mit unseren Ehefrauen zusammen zum Beerensammeln in den Wald ging; sie lebten von dem, was die Verwandten ihnen schickten (Pakete, Geld), selber arbeiten taten sie nicht. Jedenfalls wurden Iwan Iwanowitsch und Anissim Nikolajewitsch auch verhaftet. Ich weiß das deswegen so gut, weil ich, ein 12-jähriges Mädchen, als sie alle vor der Abfahrt des Häftlingstransports nach Keschma in einem der niedrigen Zimmer eines zweigeschossigen Gebäudes festgehalten wurden, welches damals als Schule oder Club diente (und es waren so viele da), durch irgendeine Ritze des Rauchabzugs zum Vater hingeschlichen war, und als ich bei ihnen auftauchte fing Anissim Nikolajewitsch an zu lachen: „Na so was, Anjutka ist auch zu uns gekommen!“ Sie hatten ihren Mut keineswegs sinken lassen. Als ich dann anfing zu weinen sagte der Vater zu mir: „Na, warum weinst du denn, Kindchen? Ich habe doch nichts verbrochen, ich bin völlig unschuldig: wir fahren doch nur bis Keschma, und dort fahre ich wieder zurück“. Aber keiner von ihnen kehrte zurück. Es gingen Gerüchte, daß man sie mit Ilim-Booten (große überdachte Boote, die von einem Kutter gezogen wurden) die Angara hinuntergebracht und dann, als sie bereits auf dem Jenissej waren, versenkt hatte.

Um zu erfahren, was aus dem Vater geworden war, wandte ich mich im März 1990 mit einem Gesuch an die Staatsanwaltschaft und die KGB-Verwaltung der Region Krasnojarsk. Man antwortete mir: „Ihr Vater, Pjotr Wassiljewitsch Roschkow, geboren 1896 (Geburtsdatum unbekannt), geboren und zuletzt wohnhaft in dem Dorf Dworjets, Kreis Keschma, Region Krasnojarsk, Russe, Staatsbürger der UdSSR, parteilos, lese- und rechtschreibkundig, zweimal strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

Das erste Mal wurde er am 23.04.1932 verhaftet. Man beschuldigte ihn der antisowjetischen Agitation, welche sich gegen die Kollektivisierung richtete, und klagte ihn an, Drohungen gegen einzelne Kolchosbauern ausgesprochen zu haben. Laut Beschluß einer Trojka der Bevollmächtigten-Vertretung der OGPU der Region Ost-Sibirien vom 16.02.1933 wurde für P.W. Roschkow ein Strafmaß von 10 Jahren Freiheitsentzug festgesetzt.

Aufgrund der bestehenden Vorstrafe wurde P.W. Roschkow am 28.07.1989 von der Krasno-jarkser Staatsanwaltschaft, entsprechend einem Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 16.01.1989 „über ergänzende Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Zusammenhang mit den Opfern der Repressionen, die während der 1930er und 1940er sowie Anfang der 1950er Jahre stattgefunden haben“, rehabilitiert.

P.W. Roschkow wurde zum zweiten Mal am 24.03.1938 von der Keschemsker Kreis-Abteilung des NKWD verhaftet und strafrechtlich verantwortlich gemacht. Er wurde für schuldig befunden, als Mitglied einer konterrevolutionären, aufständischen Organisation in Erscheinung getreten zu sein und an illegalen Zusammenkünften teilgenommen zu haben, bei denen Fragen über einen bewaffneten Aufstand erörtert wurden; ferner warf man ihm vor, unter der Bevölkerung provozierende Gerüchte über den Krieg und den Sturz der Sowjet-Macht sowie Verleumdungen über die Parteiführung und die sowjetische Regierung verbreitet zu haben. Gemäß Beschluß einer Trojka der NKWD-Verwaltung der Region Krasnojarsk vom 14.04.1938 wurde das ausschließliche Strafmaß für P.W. Roschkow mit Tod durch Erschießen festgelegt. Das Urteil wurde am 28.10.1938 in der Stadt Jenissejsk, Region Krasnojarsk, vollstreckt.

In Zusammenhang mit dem Fehlen von Dokumenten ist es nicht möglich festzustellen, wo er begraben ist.

Auf Anordnung des Präsidiums des Krasnojarsker Gebeitsgerichts vom 21. Juni 1958 wurde der Beschluß der Trojka vom 15.04.1938 aufgehoben und das Verfahren eingestellt, da P.W. Roschkow die vorgeworfenen Tatbestände nicht nachgewiesen werden konnten. P.W. Roschkow wurde rehabilitiert. „In Zusammenhang mit der Heranziehung P.W. Roschkows zur strafrechtlichen Verantwortung in den Jahren 1933 und 1938 wurde sein Besitz weder beschlagnahmt noch konfisziert“.

Aus diesem Brief war mir nicht klar geworden, weshalb der Vater nach 10 Monaten bereits wieder nach Hause kam, nachdem er doch als Strafe für das erste Vergehen zu 10 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden war. Um das zu klären, ging ich zur Verwaltung für Inneres. Dort wurde mir gesagt, daß aus der Akte keine weiteren Angaben ersichtlich wären, außer jenen, über die man mich bereits in dem Brief informiert hatte. Ich glaube, daß sie Papa als Teilnehmer bei der Partisanenbewegung während der Koltschak-Herrschaft freigelassen haben: wir haben darüber eine Zeugenbestätigung vom 25.05.1932 vorliegen, die von ehemaligen Partisanen unterzeichnet ist und den Beglaubigungsstempel des Dworjetser Dorfsowjets trägt.

Bis heute haben wir über das Schicksal des Vaters nichts in Erfahrung bringen können.

Als der Krieg ausbrach, wurden etwa ein Jahr lang die Kinder von „Volksfeinden“ (zu denen auch mein Bruder gehörte) sowie Entkulakisierte nicht zum Feldheer eingezogen, aber ab 1942 fingen sie an alle zu nehmen, und damals kam dann auch meinen Bruder zur Armee.

Während des Krieges, 1942, wurden Rußlanddeutsche zur Zwangsansiedlung zu uns nach Dworjets verschleppt. Ihre Kinder lernten an unserer Schule zusammen mit all den anderen. An ein paar Deutsche kann ich mich noch erinnern: die Famile BAUER (aus dieser Familie ist mir nur Mitja in Erinnerung geblieben), die Familie SCHMIDT, Alexander KRIN (geb. etwa 1920); Andrej Iwanowitsch ANDREAS (geb. um 1926), seine Schwester Frieda Iwanowna ANDREAS (geb. etwa 1927) und eben jene Ehefrau von Alexander Pewtrowitsch ANDREAS (geb. um 1926), sie tragen zufällig den gleichen Familiennamen; die Schwestern von Alexander Petrowitsch – Maria Petrowna ANDREAS (geb. um 1929) und Emma Petrowna ANDREAS, Ehename Pawlowa (geb. ca. 1927). Von der Familie Andreas leben Alexander, Emma und Frieda in Krasnojarsk. Die Familien der Brüder Martin Christianowitsch und Robert Christianowitsch FLEJSCHMAN, sie leben beide in Krasnojarsk, kauften eine Genossenschaftwohnung und verließen dann wegen der Überflutungen das Gebiet.

1948 trafen an der Angara, in der Siedlung Bolturino, die etwa 1946 gegründet worden war und dem Dworjetser Dorfsowjet zugerechnet wurde, dort, wo der Flößereibetrieb stattfand, Litauer und Georgier ein. Sie lebten zunächst in Baracken, später bauten sie Häuser. Bolturino wurde eine große Siedlung, hier befand sich das Kontor des Bolturinsker Waldpunktes der Prospichinsker Waldwirtschaft des Kreises Keschma. Ab 1954 arbeitete ich als Sekretärin beim Dworjetsker Dorfsowjet und kann mich daher an vieles erinnern.

Von den Litauern sind mir noch in Erinnerung geblieben: Iwan NAUJOKAS (geb. etwa 1927), Konstantin LANKUTIS (geb. ungefähr 1927), Regina Antonowna ANDREUSKAJTE (geb. etwa 1940), vor zwei Jahren lebte sie noch in Krasnojarsk, arbeitete in der regionalen Apotheken-Verwaltung und wohnte mit dem Vater zusammen. Ihre Schwester DANUTE lebte in Lessosibirsk, und dann hatte sie noch eine Schwester – Viktoria, über ihr Schicksal weiß ich nichts. In Bolturino starb an der Zuckerkrankheit ein junges Mädchen namens Jura BABARSKENE (oder Babarskite), eine dunkelhäutige Schönheit. Sie liegt auf dem Bolturinsker Friedhof begraben (in der Siedlung gab es einen Friedhof, auf dem alle Verstorbenen beerdigt wurden).

Von den Georgiern, die in Bolturino wohnten, erinnere ich mich noch an: Tit Kalistratowitsch NAPITWORIDSE (geb. etwa 1915), Ismail SCHARASCHINIDSE (geb. um 1915), Taras Georgiewitsch OKRASCHIDSE (geb. ca. 1917) – verurteilt nach §58; er war Parteimitglied und wurde rehabilitiert und wieder in die Partei aufgenommen (nach dem Tode Stalins); bei uns wählte man ihn zum Deputierten des Dorfsowjets. Taras Georgiewitsch fuhr Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre fort nach Tbilissi; er korrespondierte mit den Bolturinern und kam auch einmal zu Besuch. Seine Ehefrau war Russin – Anna Wassiljewna, er heiratete sie in Bolturino. In Tbilissi lebten sie unter der Adresse: Tbilissi 90, in der 3. Querstraße

A. Zulukidse Nr. 4, Wohnung 19. Taras Georgiewitsch starb in den 1970er Jahren. Außerdem habe ich noch Erinnerungen an die Georgier: LORDKIPANIDSE (eine Frau), MAMIJA und GWILIJA (Männer). Die Kinder der Georgier lernten ebenfalls an der russischen Schule; sie lernten gut sauberes Russisch zu sprechen.

Nach ihrer Freilassung fuhren die Litauer und Georgier zurück in ihre Heimat, und die Deutschen fuhren auch irgendwohin fort, viele blieben auch bis zum Bau des Wasser-kraftwerks dort. Heute ist die Siedlung Bolturino auch überschwemmtes Gebiet. Es gibt eine neue Siedlung mit demselben Namen, aber sie liegt 6 km von der Angara entfernt in der Taiga.

Aufgezeichnet mit den Worten von A.P. Panowa durch K.A. Dsjuba,
„Memorial“-Gesellschaft, Krasnojarsk

April-September 1990


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