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Wanda Janowna Pawljak. Erinnerungen

1. Arrest

Ich weiß nicht, wer der Schuldige an meinem Schicksal ist. Wie man so sagt : es ist zu hoch für mich. In Politik kenne ich mich schlecht aus, aber ich habe meine Vorstellung davon, wer ein Volksfeind ist und wer ein ehrbarer Sowjet-Mensch.

Die Repressionen der Jahre 1937 und 1938. Es gibt viele Leute, die nicht glauben wollen, daß es so etwas wirklich geben konnte. Sogar junge Leute, siebzehn oder achtzehn Jahre alt, geben auf den Zeitungsseiten ihrer Empörung Ausdruck und fordern, daß man endlich aufhört, die Staatsführung jener Zeit in Verruf zu bringen und auf ihr herumzuhacken. Na, was soll's, ich mache ihnen keinen Vorwurf. Wäre ich an ihrer Stelle – dann würde ich das auch nicht glauben.

Um zu glauben, muß man selbst die Erfahrung machen, zusehen, alles durchleben. Aber möge Gott uns davor bewahren! Ich will nicht, und wahrscheinlich will das niemand, daß sich so etwas noch einmal wiederholt. Leben Sie, seien Sie glücklich, lieben Sie die Heimat, tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht, damit immer Frieden herrscht.

Ich werde nicht über die großen Leute schreiben, die diese schreckliche Schule durchgemacht haben (ich sage es noch einmal: es steht mir nicht zu sie zu verurteilen). Ich schreibe von mir und meiner Familie.

Geboren wurde ich in Krasnojarsk. In unserer Familie waren sieben Kinder. Papa arbeitete seit der Kindheit bei der Jenissejsker Dampfschiffahrt. Eltern hatte er nicht. Anfangs war er Hilfsarbeiter, später Lehrling, Matrose, Bootsmann, Lotse, und die letzten 5-6 Jahre vor 1937 – erster Steuermann auf dem Dampfer „Maria Uljanowa“. Mitglied der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken seit dem Augenblick des Lenin-Aufgebotes (Masseneintritt in die KPdSU nach dem Tode Lenins; Anm. d. Übers.). Mama wurde in Odessa geboren. Der Großvater ging wegen Brandstiftung an dem Gehöft eines Gutsherrn in Ketten mit einer Etappe von Zwangsarbeitern in die ewige Verbannung. Mama, die Großmutter und der Bruder folgten ihm nach. Mama war 18 Jahre alt. Bei der Ankunft in Krasnojarsk wurde Mama als Kindermädchen in eine Familie gegeben, und Mamas Eltern ließen sich in Balachta nieder. Später arbeitete Mama als Hausangestellte in der Familie des Geistlichen Popow und als Zimmermädchen beim Kaufmann Gadalow. Sie heiratete Papa, und so lebten wir – eine ruhige, friedliche Familie. Die älteren Brüder heirateten und ich und meine Schwester blieben bei Mama und Papa.

Und dann das Jahr 1937.

Es war Nacht. Ich wurde von irgendeinem merkwürdigen Geflüster wach; Schwesterchen Galotschka schlief. Ich höre wie eine Frau Mama mit einer mir unbekannten Stimme befahl: „Wecken Sie das Mädchen!“ Die Frau trug einen schwarzen Pelzmantel und ein Tuch aus Ziegenwolle. Nach einer Minute tauchte ein Mann in Militär-Uniform auf und sagte: „Das Mädchen soll aus dem Schlafzimmer herauskommen!“ Wir sahen Mamas verschrecktes und verweintes Gesicht.

Auf die Frage „wo ist Papa?“ antwortete Mama: „Da in dem Zimmer“ (wo die Eltern schliefen). Wir gingen dort hin. In der Wohnung war alles durchwühlt und durcheinander geworfen; Papa stand schon in Hut und Mantel, und neben ihm – zwei Soldaten. Nachdem die Durchsuchung im Kinderzimmer beendet war, zog einer der Soldaten eine Nagan-Pistole hervor; dann führten sie Papa hinaus und ließen ihn in ein Auto einsteigen, das dicht bei unserem Hausvorbau stand. Meine Schwester und ich schrien, rannten hinter dem Auto her. Der Fahrer hielt an und die Frau rief aus dem Fenster heraus: „Weint nicht, Papa kommt morgen wieder nach Hause“.

Das geschah am 13. Februar 1937, aber Papa kam weder morgen, noch nach einem Jahr zurück – er kam überhaupt nie wieder.

Die ersten Tage wußte in der Schule niemand, was bei uns zu Hause geschehen war. Ich weinte den ganzen Unterricht über und erzählte es schließlich der Lehrerin. Am 18. Februar 1937 verkündete man mir: „Du bist aus dem Komsol (Kommunistischer Jugenverband; Anm.. d. Übers.) ausgeschlossen worden“, und mein Schwesterchen ersuchten sie, die Pionier-versammlung zu verlassen.

Das Schulleben wurde unerträglich: die ständigen Demütigungen, Beleidigungen von Seiten der Altersgenossen („Tochter eines Volksfeindes“, „Spionin“, sie konnten einen an den Zöpfen ziehen oder einen beliebigen Gegenstand ins Gesicht werfen).

Die Lehrer bemühten sich irgendwie alles zu schlichten, aber sie schafften es nicht, und auch einige Lehrer änderten ihre Haltung: sie hörten auf, mich an die Tafel zu rufen und die Erledigung meiner Hausaufgaben zu kontrollieren. Ich ging in die 8. Klasse der Schule Nr. 18 (Flußschiffer-Schule), meine Schwester in die 4. Klasse. Die Schule hieß „Flußschiffer-Schule“, weil in ihr ausschließlich Kinder von Mitarbeitern der Krasnojarsker Fluß-Dampf-schiffahrt unterrichtet wurden.

Nach einiger Zeit setzten in der Stadt Massenverhaftungen ein, und deswegen stieg auch an der Schule die Zahl der Kinder von „Spionen“, „Vaterlandsverrätern“, welche diese schreckliche Folter der Demütigungen und Kränkungen durchmachen mußten.

Ende Februar stellten sechs Kinder den Gang zur Schule ein, sie gaben das Lernen einfach auf. Es tauchten Gerüchte auf, daß unsere Väter im Gefängnis waren. Anstatt zur Schule zu gehen, begaben wir uns zum Gefängnisgebäude. Stundenlang standen wir dort, egal bei welchem Wetter, egal wie streng der Frost war, in der Hoffnung, daß irgendwer hinter den Gittern uns sehen würde. Wir schrien und weinten, aber niemand gab uns irgendeine Antwort.

Die Fensterverblendungen, die vor den Fenstern hingen, gaben ihnen nicht die Möglichkeit uns zu sehen.

Mama erfuhr, daß ich die Schule hingeworfen hatte, und das versetzte ihr noch einen weiteren heftigen Schlag. Aber trotz ihrer Belehrungen und Verweise nahm ich nicht mehr am Unterricht der gemeinbildenden Schule teil. Ich setzte lediglich meine Studien an der Musikschule fort. Ich versuchte arbeiten zu gehen, aber man nahm mich nicht an: ich war noch keine sechzehn Jahre alt.

Und dennoch heißt es nicht umsonst: „Es gibt keine Welt ohne gute Menschen“! Schließlich wurde ich im juristischen Büro der Krasnojarsker Verwaltung des Gebietskonsumgenossen-schaftsverbandes als Schriftführerin eingestellt. An der Abendschule für Musik studierte ich weiter.

So lebten wir: Mama nähte für irgendwelche Leute zuhause auf Bestellung, ich arbeitete und Schwester Galotschka ging zur Schule. Über Papa erfuhren wir nichts.

Am 10. Oktober 1937, um 8 oder 9 Uhr abends kehrte ich von der Musikschule nach Hause zurück. Am Tor stand eine alte Frau, unsere Nachbarin¸ sie weinte und sagte:

„Geh nicht nach Hause; zwei Militärangehörige haben deine Mama mit einem Auto weggebracht, und Galotschka haben sie auch irgendwohin mitgenommen. Gerade sind sie wieder zurückgekommen und warten auf dich. Lauf weg, Töchterchen!“

„Sie“ waren bereits in der Musikschule gewesen und hatten mich irgendwo unterwegs verfehlt. Aber das erfuhr ich erst neun Jahre später, als ich nach Krasnojarsk zurückkam, von einer Mitarbeiterin der Musikschule, die zu jener Zeit in der Garderobe tätig war.

Wohin sollte ich denn fliehen? Nirgends konnte ich hinlaufen: der älteste Bruder lebte in Jenissejsk und diente als Hauptmann auf dem Dampfer „Pionier“, der mittlere wohnte in Leningrad - er war bei der Baltischen Flotte, der Jüngste befand sich in den Reihen der Sowjet-Armee. Ich rannte nach Hause. In der Wohnung traten die Soldaten von einem Fuß auf den anderen – mit ihnen eine Frau und noch ein paar andere Leute. Mama und Galotschka waren schon nicht mehr da.

Nach der Situation zu urteilen, hatte in der Wohnung eine Durchsuchung stattgefunden. Alles war durcheinander geworfen, umgekippt, Sachen lagen auf dem Boden herum, aus den Schubladen der Kommode war alles auf den Boden gefallen, Bücher lagen verstreut herum. Auf meine Frage, wo Mama und Galotschka wären, antwortete mir niemand. Was dann geschah, weiß ich nicht, aber eine der Frauen wischte mir das Gesicht mit einem feuchten Handtuch ab und gab mir dann Wasser zu trinken. Anschließend wurde ich auf die Straße geführt, in ein Auto gesetzt und ins Krasnojarsker Gefängnis gebracht.

2. Gefangnis

Im Gefängnishof ließen sie mich beim Hauptgebäude aussteigen, und dort wurde ich auch hineingebracht. Ein langer Korridor, rechts eine Gefängnistür mit einem Guckloch, weiter am Ende des Korridors war noch eine Tür zu sehen – sie stand offen (es war ein Zimmer für die Wachmannschaften, Untersuchungsführer, usw.). Mich führten sie in das Zimmer auf der rechten Seite, das mit den Guckloch, und versperrten die Tür sogleich mit einem Schloß. In dem Zimmer gab es zwei vergitterte Fenster.

Es herrste tiefe Stille, es war so ungefähr 11-12 Uhr nachts. Einer der Begleitsoldaten fing an in das Guckloch hineinzuschreien: „Geh weg vom Fenster, geh zur Tür, und bleib da stehen, damit ich dich sehen kann!“ Ich tat wie mir geheißen, aber ich verstand nicht, wozu das gut sein sollte.

Dann, drei Monate später, als man mich zum Verhör rief, wurde mir unmerklich eine Notizt untergeschoben: „ Dein Papa hat dich am Tage deiner Verhaftung gesehen, und sie haben ihm gesagt, wenn er nicht unterschreibt, dann würde seine Tochter erschossen“. Und ich, in meiner Naivität, war schon zufrieden, daß ich im Gefängnis Papa sehen würde; und nach drei Tagen würden sie mich dann nach Hause entlassen (das hatte mir einer der Soldaten gesagt, die mich ins Gefängnis gebracht hatten).

In dem Zimmer stand eine Bank. Sie erlaubten mir, mich darauf zu setzen, nur schlafen durfte ich nicht. In der Nacht, etwa um 1 Uhr, begann sich der Raum mit einer Menge Frauen zu füllen. Es waren so viele, daß man nur noch ganz eng aneinander gedrängt stehen konnte. Es ertönten schreckliche, durchdringende Schreie – Mütter riefen die Vornamen ihrer Kinder, von denen sie nicht wußten, wohin man sie fortgebracht hatte. Viele fielen in Ohnmacht, und der Raum wurde immer voller und voller. Das dauerte bis zum Morgen an.

Eine der Frauen fragte mich: „Bist du zusammen mit deiner Mama verhaftet worden?“ Ich sage: „Nein, meine Mama ist nicht verhaftet worden, und ich auch nicht; die Mama haben sie zusammen mit meiner Schwester irgendwohin gebracht, und mich wollen sie nur etwas fragen und bringen mich wahrscheinlich auch dorthin; sie haben versprochen, mich innerhalb von drei Tagen freizulassen“. Sie sah mir in die Augen und sagte: „Du mein liebes Mädchen!“ – und strich mir über den Kopf.

Die Ausfertigung irgendwelcher Papiere dauerte die ganze Nacht; es wurden Fingerabdrücke genommen. Dann brachten sie uns gruppenweise irgendwohin, und eine neue Partie Menschen füllte den Raum.

Am Morgen, um 9 oder 10 Uhr, brachten sie noch eine Gruppe Frauen, und da bin ich Mama begegnet. Sie hatte sich in der ersten Abendgruppe der Verhafteten befunden und die ganze Nacht im Frauentrakt des Gefängnisses gesessen, und jetzt wurde diese Partie auch zum Abnehmen der Fingerabdrücke hergebracht.

Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, diese Begegnung zu beschreiben. Ich glaube, daß jede Mutter auch so versteht, was es bedeutet, sein noch nicht volljähriges und völlig unschuldiges Kind in einer solchen Lage zu sehen. Und ich war die Jüngste von allen Gefangenen, die hier in das Frauengefängnis geraten waren (es gab Achtzehn- und Zwanzigjährige). Mama fragte: „Wo ist Galotschka?“ Ich antworte so, wie die Nachbarin es mir erzählt hatte: daß man sie fortgebracht hätte.

Einige Frauen, und mit ihnen Mama, wurden zurück in den Frauentrakt gebracht. Mama schrie: „Wenn sie dich ins Gefängnis bringen, bitte darum, daß du in Zelle 4 kommst – dort sitze ich!“ Es wäre besser gewesen, wenn Mama das nicht gesagt hätte ...

3. DIE ZELLE NR. 8

Der Frauentrakt erstreckte sich entlang dem allgemeinen Gefängnishof, auf einer Länge von etwa 200-250 Metern. Der einstöckige Holzbau mit dem kleinen Hof, auf den die Gefangenen zum Freigang geführt wurden, war von Stacheldraht umgeben. Im Trakt gab es acht Zellen – in einer davon saßen die Wiederholungstäter (Schwerverbrecher), in allen übrigen waren Politische untergebracht. Der neue Schub Häftlinge, darunter auch ich, wurde in diesen Trakt gebracht. Die Verteilung auf die einzelnen Zellen begann. Die diensthabende Aufseherin hieß Judina. Ich bat sie: „Tantchen, steckt mich in Zelle Nr. 4!“

„Und warum willst du in Zelle Nr. 4?“ Ich sagte: „Meine Mama sitzt dort“. Da fing sie mit böser, rauher Stimme an zu schreien: „Ich bin nicht dein Tantchen, du Ausgeburt einer Spionin!“ Alle wurden in ihre Zellen eingewiesen, nur mich allein ließ man im Korridor stehen.

Und dann stieß sie mich in die Zelle Nr. 8, in der sich Diebinnen, Prostituierte, Mörderinnen befanden. Dort saßen auch solche, deren Kasse  im Rechenschaftsbericht nicht gestimmt hatte, und andere. Ich erinnere mich noch bis heute an den Stoß, den ich mit der Tür in den Rücken bekommen habe – und dieses fürchterliche metallische Geräusch des Türriegels, - ich hatte den Eindruck, daß das Schloß nicht in den Türrahmen eingesetzt war, an den ich mich aus Angst vor all dem, was mich erwartete, anschmiegte, sondern geradewegs in meinem Rücken. Eine Frau begrüßte mich; wie sich später herausstellte war sie 35 Jahre alt, hieß Sina und wurde mit Spitznamen „Königin“ genannt. Sie wahr bereits mehrfach wegen Diebstahl und Mord vorbestraft. Überall hatte sie Tätowierungen, aber ihre Kleidung sah anständiger und sauberer aus, als die der anderen. Sie sprach im Verbrecher-Jargon. Der Menge, die sofort auf mich losstürzte, um mir meine Sachen wegzunehmen, befahl sie: „Geht auseinander!“

In der Zelle galt folgendes Gesetz: alle Neuankömmlinge mußten sich entkleiden, sofern sie nicht Diebinnen waren. Die Sachen nahmen sie für sich selbst, und dafür gaben sie ihnen irgendwelche zerfetzten Lumpen. Die Frauen sahen zerlumpt und schmutzig aus, und sie waren gezwungen, sich zu unterwerfen und zu schweigen. Eine dieser Bestohlenen beschwerte sich bei der diensthabenden Aufseherin. Und da, als zum Mittagessen ein voller Behälter mit heißem Brei gebracht wurde, fesselten die Diebinnen sie, wälzten sie auf dem Boden herum und übergossen sie mit dem Brei. Bewußtlos brachten sie sie ins Gefängnis-Krankenhaus. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.

Diese Zelle war sogar von den Wachmannschaften gefürchtet: da die Frauen Strafgefangene waren, wurden sie nicht zum Freigang hinausgeführt. Und ausgerechnet hier hatte die Judina mich hineingestoßen. Nach dem Kommando der „Königin“ ging die Menge auseinander. Sie trat zu mir heran. Auf ihren Armen hielt sie ein etwa zweijähriges Kind (später stellte sich heraus, daß sich in Zelle Nr. 4 Mütter mit Kindern befanden).

Sie fragte: „Weswegen bist du hier?“ Ich erwiderte, daß ich es nicht wüßte. „Welcher Paragraph?“ – „Weiß ich nicht“. – „Bist du eine Politische?“ – „Ich weiß nicht; meine Mama sitzt auch in Zelle 4. Sie haben mich nicht zu ihr gelassen“. – „Bist du eine Konterrevolutio-närin?“ – „Nein“, antwortete ich. „Ach, zum Teufel mit dir!“ sagte sie. „Na gut: du bist ein ordentliches Mädchen, wirst du dich um meinen Witja kümmern?“ – Und damit zeigte sie auf das Kind. Ich antwortete: „Wenn Sie mir vertrauen – dann werde ich es tun“.

Möglicherweise habe ich es Witalka zu verdanken, daß niemand mich kränkte oder beleidigte. Ich beschäftigte mich nicht nur mit ihm, sondern mit allen vier Kindern: ich badete sie, nähte. Ich gewann die Kinder sehr lieb. Zwei Monate verbrachte ich dort, sah Schlägereien und Morde, war auch Zeugin von Onanie und solchen Dingen, von denen man nicht einmal im Traum eine Vorstellung  haben würde.

Später drangen Gerüchte an unsere Ohren, daß angeblich der § 59-3 (Zellen-Banditismus) verabschiedet worden war, und ein Teil dieser Diebinnen wurde erschossen. Was aus ihren Kindern wurde, weiß ich nicht.

4. DIE ZELLE NR. 4

Die Zelle Nr. 8 wurde ausfgelöst, und man verlegte mich in Zelle 4, wo ich dann doch noch Mama antraf. 14 Tage blieben wir zusammen. Die Freude und die Tränen bei unserem Wiedersehen wollten kein Ende nehmen. Ich hatte ständig Angst, daß ich Mama erneut verlieren könnte. Nachts im Schlaf hielt ich Mamas Hände so fest, daß blaue Flecken auf ihnen zurückblieben.

Sie ertrug es, weil sie meinen Schlaf nicht stören wollte; ob sie selber überhaupt geschlafen hat – das weiß ich nicht. All diese Tage und Nächte weinte sie unaufhörlich, und sobald sie eingenickt war, begann sie wie wild Galotschkas Namen zu schreien.

Nach vierzehn Tagen riefen sie Mama zum Verhör hinaus, und danach habe ich sie bis zum Jahr 1947 nicht mehr gesehen.

Und das war sie also – die Zelle Nr. 4: ein quadratisches Zimmer, zwei vergitterte Fenster mit Blick auf den Zaun, mit dem das Gefängnis umgeben war. Links von der Tür – ein kleiner Tisch für den Empfang des Essens, rechts davon – der Latrinenkübel. In der Zelle konnte man auf den zweistöckigen Pritschen nicht mehr als zwanzig Menschen unterbringen. Aber die gewöhnlichen Holzpritschen waren nur einstöckig, U-förmig angeordnet, und wir waren dort mit 70-75 Menschen untergebracht.

Wir schliefen so, daß wir jeweils eine mit den Füssen am Kopf der anderen schlief, und so lagen wir auf den Pritschen, unter den Pritschen, auf dem Tisch, unter dem Tisch. Mit einem Wort: wir ließen uns überall nieder, wo man sich nur irgendwie ausruhen konnte. In der Zelle gab es nicht eine einzige Altersgenossin, alles waren  erwachsene Frauen. In dem gesamten Frauengefängnis war ich die Jüngste. Da war noch Tamara Dumtschenko, Tochter eines Krasnojarsker Parteimitarbeiters. Sie war 18 Jahre alt und wurde, wie ich und alle anderen, des Vaterlandsverrats und der Verdeckung antisowjetischer Handlungen ihrer Väter oder Ehemänner beschuldigt.

Die Verhöre wurden meist nachts durchgeführt. Sie riefen immer mehrere Gefangene gleichzeitig hinaus, und manche von ihnen sogar zweimal.Einige von ihnen wurden 16-18 Stunden lang festgehalten. Sie kehrten mit geschwollenen Beinen in die Zelle zurück, auch die Gesichter waren geschwollen, unter den Augen hatten sie blaue Flecken. Mitunter konnte man sie buchstäblich nicht wiedererkennen.

Menschen mit schwachen Nerven verloren den Verstand. Ich kann mich noch an eine gewisse Wera Wassiljewna erinnern, ich glaube ihr Nachname lautete Mamkina. Wenn ich mich nicht irre, war sie die Ehefrau des Leiters der Krasnojarsker Flußdampfer-Schiffahrt. Tag und Nacht klopfte sie an die Zellentür und schrie: „Gebt mir mein Kind!“ Die Aufseherinnen zerrten sie aus der Zelle, schlugen sie und stießen die so übel Zugerichtete dann wieder in die Zelle zurück. Das Resultat – langsam voranschreitender Wahnsinn. Sie kroch unter den Tisch, und es gelang mit keinerlei Kräften, sie von dort hervorzuziehen. Ihr Irrsinn war ganz offensichtlich. Aber die Gefängnisärzte erklärten das für Simulantentum. Später, in der Turuchansker Verbannung, als sie weder bespitzelt, noch bewacht wurde, konnte sie fliehen. Später wurden in der Tundra lediglich Stücke von ihrem Ledermantel, ihre Schuhe und ein Teil ihrer langen, fast bis zu den Fersen reichenden Zöpfe gefunden.

Dann war da noch die Kamarowskaja, die Tag und Nacht am Schreien war – sie rief nach ihrem Sohn Genotschka. Diese Schreie lösten ein solches Grauen aus, daß die Frauen in Ohnmacht fielen.

Ich kann mich nicht an eine einzige Woche erinnern, in der nicht irgendwer den Verstand verlor. Die Unglückseligen wurden irgendwohin fortgebracht, und wir haben nie erfahren, was aus ihnen geworden ist.

Wenn die Menschen von den Verhören zurückkamen, brachten sie meist irgendwelche Neuigkeiten mit. So kamen uns Gerüchte zu Ohren, daß sie viele Ehemänner erschossen hatten. In der Zelle wurde alles nur noch schrecklicher.

Und dann kam ich an die Reihe. Die Verhöre führte der Untersuchungsrichter Sinjuschin. Niemals werde ich diesen Nachnamen vergessen.

Frage: "Was für Freunde hatte dein Vater?"

Antwort: "Papa hatte keine Freunde, er war zu allen höflich und aufmerksam".

Frage: "Was hat dein Vater gegen die Sowjetmacht gesagt?"

Antwort: "Mein Papa ist seit 1917 Kommunist, ein Zögling des Staates, seit seinem 8. Lebensjahr wurde er in einer Sammelstelle für Kinder erzogen, uns brachte er bei, wie man zu wahren aufrichtigen Menschen wird, die ihre Heimat lieben. Er lehrte uns die Lieder "Meiner Heimat weites Land", "Unsere Dampflokomotive - flieg voran", "Mutig, Genossen,

im Gleichschritt. Und ich liebe es, diese Lieder zu singen, ich mag auch die Klassik sehr".

Da geriet der Ermittlungsführer in Wut und fing an mich anzuschreien: "Ich werde dir Lieder zeigen" - und schlug mir ins Gesicht. Aber zu meinem Glück klingelte das Telefon. Er wurde eilig irgendwohin gerufen. Er gab den Befehl mich abzuführen, und man brachte mich in die Zelle.

Nach einer Woche wurde ich zum zweiten Verhör bestellt, und diesmal schrieben sie sogar ein Verhör-Protokoll. Die Untersuchung führte ein gewisser Sinjuschin in Anwesenheit eines zweiten Ermittlungsrichters.

Sie beschuldigten den Vater geheimer, konterrevolutionärer Aktivitäten, versuchten mich zum Unterschreiben solchen Unsinns zu zwingen, weil ich damals den Sinn der Worte nicht verstanden hatte, oder daß ich im Auftrag des Vaters nach Nowosibirsk gefahren war, um irgend-jemandem irgendwelche Dokumente mit antisowjetischem Charakter zu überbringen  -wem und was, das wußte ich doch gar nicht (bis 1954 bin ich überhaupt nie mit einem Zug gefahren). Und das sollte ich auf ihr Drängen hin unterschreiben. Ich unterschrieb nicht.

Schlagen taten sie mich nicht, aber sie hielten mich bis zum Morgen in einem völlig leeren Raum, in dem es nicht einen einzigen Stuhl gab. Morgens wurde ich dann zurück in das Zimmer des Untersuchungsrichters gebracht; wieder leistete ich keinerlei Unterschrift, woraufhin ich erneut in den Raum gebracht wurde, in dem ich auch schon die Nacht verbracht hatte. Dort bliebe ich bis 3 Uhr nachmittags. Hungrig, ohne Wasser - ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich zu Boden gefallen und eingeschlafen bin. Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Um 3 Uhr kam der Diensthabende und brachte mich in die Zelle.

Die Zeit verging. Bei vielen war das Ermittlungsverfahren abgeschlossen. Am 17. April 1938 wurde in der Zelle mein Geburtstag gefeiert (ich wurde 17). Ich bekam Geschenke. Einer überreichte mir einen kleinen Kissenbezug - es war eine bewundernswerte Arbeit (auf der dunkelblauen Seide befand sich eine kunstvolle Stickerei, im Plattstich aus Wolle gefertigt).  Sehr schön war auch die Puppe gemacht, sowie eine aus Kamelhaar gestrickte Frauenjacke. Diese Kamelwolle war an einen der Gefangenen geraten, als man zu Hause die Matratze beschlagnahmt hatte. Die Stricknadeln hatten sie aus kleinen Stöckchen hergestellt, die sie mit Glas vervollkommneten (glatt schliffen; Anm. d. Übers), das sie draußen während der Freigänge gefunden hatten, und die Wolle für die Stickereien bekamen sie zusammen, indem sie alte Sachen auftrennten und dann daraus neue machten.

Die Menschen in der Zelle wurden weniger, sie wurden irgendwohin weggebracht, und dann kamen sie nicht mehr zurück. In der Zelle herrschte folgende Atmosphäre: vom Verhör kamen verprügelte und erschöpfte Häftlinge zurück, nachts hörte man wilde Schreie, wodurch sämtliche Zellenbewohner im Schlaf gestört und wach wurden.

Ich wollte sie mit all meinen Kräften beruhigen, las Gedichte vor und versuchte sogar selber Gedichte zu verfassen:

Oh, diese schwarzen Tage
Bald wird das Ende kommen
Wir werden wieder freie Menschen sein                                          .
Zeigen wir unseren Kampfgeist,
Durch unsere beharrliche Arbeit.
Und wir werden die Heldinnen des
Stalinschen Landes sein.

Manche belächelten die Gedichte, andere sagten: "Schreib, schreib, es ist gut".

Zu essen bekamen wir: 600 g Brot, zum Mitagessen Suppe und den obligatorischen Brei, abends Tee (täglich), sowie einmal im Monat - ein Kilogramm Zucker, 150 g Butter und 1 kg gesalzene Fische.

Denjenigen, die Geld besaßen, war es gestattet, im Gefängnisladen durch Mitarbeiter der Wache ein Kilogramm Dörr-Kringel, ein halbes Kilo Tafelbutter und ein Kilo Zucker zu kaufen. Ich hatte zwar kein Geld, aber alle bemühten sich, mir von ihren Sachen etwas anzubieten; fast jeder gab mir einen Kringel ab, bis ich schließlich mehr Kringel besaß, als jede von ihnen selbst, und ich teilte mit denen, die auch nichts besaßen, womit sie etwas hätten kaufen können.

So verrannen die Tage, die Menschen hegten irgendeine Hoffnung, glaubten, daß alles in Ordnung kommen würde und sie bald wieder nach Hause zurückkehren könnten.

Am 25. Juni 1938 wurde ein Teil er Häftlinge aus der Zelle in den Korridor hinausgerufen, wo ihnen ihre Urteile verkündet wurden. Auf Beschluß der Moskauer Sonder-Beratung wurden ihnen ihre Haftstrafen mitgeteilt. Ich erhielt 5 Jahre Verbannung (im äußersten Norden).

Am 28. Juni bekam jeder zwei Laibe Brot, 3 kg Fische, ein halbes Kilo Zucker, und dann wurden Männer und Frauen auf einer streng bewachten Etappe zur Verladung auf den Dampfer "Maria Uljanowa" gebracht - auf den Dampfer, auf dem mein papa gefahren war, auf dem sich meine Kindheit abgespielt hatte (jeden Sommer hatte Papa mich und mein Schwesterchen mitgenommen, und mitunter war sogar Mama dabei gewesen).

Die Männer wurden in den Laderäumen untergebracht, und wir, die Frauen, im Bugteil des Schiffes - auf dem Boden. Unterwegs wurden immer wieder Häftlinge am Ufer ausgesetzt - in Worogowo, Jartsewo, Tschulkowo, Ermakowo, usw. Ich geriet nach Turuchansk.

UNFREIWILLIGER AUFENTHALT . NISCHNAJA TUNGUSKA

Zur Jenissejsker Flußschiffahrtsgesellschaft gehörten (vielleicht ist das auch heute noch der Fall, ich weiß es nicht) drei mächtige Bugsier-Motorschiffe: "Krasnojarsker Arbeiter", "Klim Woroschilow" und "Sowjet-Sibirien". Und eines davon, das Motorschiff "Sowjet-Sibirien", sollte im Jahre 1943 für die Bewohner des Nordens eine umfangreiche Fracht ausliefern: Lebensmittel, Industriegüter und technische Artikel.

Das Motorschiff hatte mehr als 30 Lastkähne im Schlepptau, vollgeladen mit Mehl, Fleisch, Fischen, Lachs, Balik (gedörrter Störrücken), Kaviar, Butter, eingeweckte und geschmorte Fleischkonserven, Schweineschinken, Alkohol, verpackt in kleinen Fässern aus rostfreiem Stahl und zahlreichen anderen Mangelwaren sowie Industriegütern (Kleidung, Schuhe, Textilien), d.h. alles, was die Bewohner des Nordens in hinreichendem Maße für ein Jahr versorgen würde. Es waren auch mit Chemikalien beladene Schleppkähne dabei (Ammoniak und Karbid).

Der Dampfer und die Fracht kamen nicht bis an ihren Bestimmungsort, d.h. bis zum Hafen von Dudinka (wegen des frühen Herbsteinbruchs überwinterte die Schiffskarawane im Kreis Nischnaja Tunguska - das ist 70 km von Turuchansk entfernt). Die Beschaffung von Arbeits-kräften wurde schnellstens erforderlich, um die Karawane zu retten. Ihr Ziel: die Fahrrinne vom Eis zu befreien, um die Karawane hindurchzubringen, da sonst alles während des zu erwartenden Frühlingshochwassers vom Treibeis zerdrückt werden konnte.

Die Arbeitskräfte bestanden aus Häftlingen, die mit Flugzeugen aus Gefängnissen und  Lagern herbeigeschafft worden waren. Am 17. April 1943 brachte man auch mich, zusammen mit einer Gruppe von Gefangenen mit dem Flugzeug aus dem Turuchansker Untersuchungs-gefängnis dorthin. Bei unserer Ankunft wurden wir mit Spezialkleidung ausgestattet (Hosen, wattierte Matrosenjacken, Mützen, Filzstiefel, Handschuhe). Untergebracht wurden wir in einem der Lastkähne. Insgesamt kamen wir auf zwei Lastkähnen unter: auf dem einen die Frauen, auf dem anderen die Männer.

In den Schleppkähnen, die gewöhnlich für den Transport von Vieh genutzt wurden, befanden sich einfache Pritschen; ein eiserner Ofen war dort aufgestellt worden, und dort mußten dann die Gefangenen den ganzen Winter über hausen (ich kam im Frühjahr dort an, im April).

Das Häftlingskontingent war unterschiedlich zusammengesetzt - die Männer waren in der Mehrzahl wiederholt Verurteilte, bei den Frauen handelte es sich um solche, die nach irgendeinem Ukas (Erlaß; Anm.d. Übers.) verurteilt worden waren, in der Hauptsache junge Mädchen im Alter von 16-20 Jahren mit einer Haftstrafe von 5-10 Jahren (die eine hatten eine gefrorene Kartoffel vom Boden aufgehoben, andere hatten im Schmutz liegende Hirse gesammelt). Es gab auch Deserteure, die von der Front weggelaufen waren, sowie Wlassow- oder Bandera-Anhänger und Repressionsopfer aus den Jahren 1937-1938.

Jeden Morgen mußten wir antreten und wurden dann zur Arbeit geführt. Im wesentlichen bestand unsere Tätigkeit im Meißeln von Eislöchern, dem Auflockern von Eis, d.h. dem Freimachen der Fahrrinne, damit die Karawane hindurch konnte.

Es war eine schwere Arbeit 8-10 Stunden lang das Eis mit Brechstangen loszubrechen, und das bei einer Eisstärke von 2 Metern und mehr. Aber Jugend ist Jugend; die Mädchen ließen den Mut nicht sinken, immer gingen sie singend zur Arbeit - als hätten sie sich extra zusammengefunden - mit ihren schönen Stimmem und ihrem guten Gehör.

Da war zum Beispiel Dascha, ein Mädchen von etwa 23 Jahren (sie war nach einem Ukas verurteilt worden). So eine kräftige Rotwangige. Ihre Stimme ließ sich mit der der Sykina vergleichen. Sie war Solosängerin. Sie fang an zu singen: "Was verhüllst du dich im Nebel, du heller Sonnenaufgang" oder "Da sind Wald und Fluß, wo ich so gern spazierenging", und dann stimmten alle Frauen mit ein. Unser Lied erscholl über die ganze Tundra, über den ganzen Jenissej, und in unseren Herzen lagen sowohl Trauer als auch Freude. Trauer darüber, daß diese Mädchen eigentlich nicht in einer solchen Umgebung singen sollten, und Freude darüber, daß ihre Seelen nicht zerbrochen waren, daß sie menschliche Wesen waren und auch blieben.

An dem Schiffshalteplatz waren auch freie Angestellte (wie wir sie nannten) - die Mannschaft des Motorschiffes, der Kapitän und die Matrosen auf all den Lastkähnen, und die Mehrzahl der Kapitäne nahmen auf den Fahrten ihre Familien mit - Kinder, Ehefrauen, na ja, und die Wachen.

Wir arbeiteten jeden Tag ohne uns zu schonen. Wir waren bemüht uns zu beeilen, denn wir wußten, daß das nötig war - der Frühling forderte sein Recht. Am 25. April hatten wir die Hauptarbeit geleistet, aber niemand machte Anstalten, die Karawane wieder ins Fahrwasser zu führen. Auf dem Motorschiff war ständig Musik zu hören, Frauenstimmen, Gelächter (sie sagten, daß ein Teil der inhaftierten Mädchen schon zu Beginn des Halts auf dem Schiff als Bedienstete eingestellt worden waren).

Am 1. Mai 1943 um 6 Uhr morgens, als wir alle noch schliefen, denn der Weckruf ertönte immer erst um 6.30 Uhr, hörten wir Havarie-Sirenen des Motorschiffes, ein schreckliches Krachen am Rumpf, und der Lastkahn neigte sich heftig zur Seite. Das war der erste Eisgang. Allen Frauen gelang es fortzulaufen. Was mit den Männern geschah wissen wir nicht, denn ihre Schleppkahn befand sich weit entfernt. Was tun? Wir mußten uns retten, und da beschlossen wir, auf die Insel zu laufen. Das Eis geriet von Zeit zu Zeit in Bewegung, und die Insel lag 0,5-1,5 km entfernt. Es war früher Morgen, noch ziemlich dunkel, neblig. Jeder rannte irgendwie los, in Panik, Schreie ausstoßend, mit Tränen in den Augen, und uns entgegen kam eine Menge Männer - um uns zu retten. Alle kranken Männer hatten sie schon fortgebracht, und nun liefen sie zu uns. Es war eine Gruppe Gefangener, in der Hauptsache wiederholt Verurteilte. Sie liefen uns zur Hilfe, und kein einziger wurde im Stick gelassen. Sie halfen die Kinder und Frauen des Besatzungspersonals (d.h. die Kapitänsfamilien der Schleppkähne) in Sicherheit zu bringen.

 

Wir liefen alle auf die Insel hinaus; nach einigen Stunden der zweite Eisgang. Die Lastkähne zerbrachen durch das Eis, kippten um, alles krachte. Die mit Karbid und Ammoniak beladenen Schiffe loderten beim Eindringen des Wassers auf, ein Feuer brach aus, und auch die nebenstehenden Lastkähne fingen mitsamt ihrer Fracht Feuer. Das Motorschiff schlug leck, das Heck versank im Wasser, der Bug ragte nach oben. Die Menschen, die sich dort befanden, gerieten in Panik; man hörte Schreie. Und das Eis ließ die Lastkähne zerbersten und trug sie irgendwohin mit sich fort. Ein Teil der Schleppkähne wurde ans Ufer gespült, d.h. auf die Insel, der andere Teil versank - und mit ihm die Ladung - Lebensmittel im Wert von vielleicht einer Million Rubel. Und da, im Jahre 1943, als im Lande Hunger herrscht, als die Menschen vergessen haben, was Brot ist, da schwimmen zahlreiche große Säcke mit Mehl, Säcke mit Trockenmilch, Tafelbutter im Wasser, da versinken Büchsenmilch, Dosenfleisch, Fleisch, Speck usw. Die Ladung zu retten war unmöglich - es gab keinen Zugang.

Das Wetter änderte sich schlagartig, Wind kam auf, die Temperatur fiel. Das Eis schien mit seiner ungestümen Tätigkeit aufzuhören, aber es bewegte sich.

Durch Hubschrauber gab es eine Verbindung. Sie warfen kleine Päckchen ab: "Bringt die Menschen in Sicherheit, es wird ein Wasseranstieg um 5-7 m erwartet". Die Insel fiel zum Wasser hin leicht ab. Es gab nur einen Ausweg - den Fluß über das Eis bis zum anderen Ufer zu überqueren, wo sich das Dorf Nischnaja Tunguska befand.

Das Risiko: entweder auf der Insel im Wasser versinken oder während des Eisgangs ans andere Ufer gelangen. Man beschloß zu gehen. Man versorgte sich mit Tauen, Brettern, Äxten, und dann marschierte die ganze Menge los. Alle gingen sie, ohne Rücksicht auf Rang und Namen: Häftlinge, Wachmannschaften, freie Angestellte, der Leiter - und alle dachten nur daran, wie sie sich retten, wie sie am Leben bleiben konnten. Soweit es möglich war, halfen sie sich gegenseitig. Besonders bei der Überquerung halfen Iwan Kusnets, Michail Tschechlin, Michail Orlow und viele andere Jungs (deren Nachnamen ich nicht erinnere).

Sie alle gehörten zu den wiederholt Verurteilten. Sie bemühten sich, den Kranken, Alten und Frauen zu helfen. Iwan Kusnets band zwei Mädchen im Alter von 5 und 8 Jahren an sich fest (die Kinder des Kapitäns), eines auf dem Rücken, das andere vor dem Bauch. Und so ging er mit ihnen hinüber. Außerdem hatte er an dem Seil, das er sich umgebunden hatte, noch zwei freie Enden gelassen, und befahl nun mir und dem Häftlingsmädchen Martotschka sich daran festzuhalten. Auf diese Weise retteten wir uns und gelangten ans andere Ufer.

Aber nicht alle kamen an. Ein Teil der Menschen kam ums Leben.

Nachdem wir den Fluß überquert hatten, entschieden die Leiter, daß wir ins Dorf gehen sollten, um darüber zu verhandeln, wo die Leute untergebracht werden konnten. Die Leiter und die Wachmannschaften wurden aufgenommen, aber die Häftlinge lehnte man ab, aus Angst, daß sie die ganzen Dorfbewohner bestehlen könnten.

Gegen Abend war das Eis in voller Bewegung. Das Wetter änderte sich, ein heftiger, sehr kalter Wind setzte ein. Am Ufer gab es weder Wald noch sonst irgendeinen Schutz vor dem Wind. Die Leute waren durchnäßt, durchgefroren, Brennholz gab es in der Nähe nicht. Unsere durch das Mißtrauen gekränkten Häftlingsmänner, ihre Anzahl betrug etwa 30-40 Mann, gingen ins Dorf und machten sich daran, eine Scheune und Vorgartenzäune abzureißen (wobei die Wachen sich nicht einmischten). Dann verteilte der Kolchos-Vorsitzende Pferde und gab die Erlaubnis, das Holz mitzunehmen. Lagerfeuer wurden entfacht, wir begannen Gruben auszuheben, damit man sich irgendwo vor dem Wind verbergen und in diesen Gruben schlafen konnte. Am Feuer wärmten wir uns, trockneten unsere Sachen, aber trocken wurde nur die Oberbekleidung, unten blieb alles naß. In den Gruben schliefen wir jeweils zu mehreren.

So lebten wir zwei Wochen lang, so lange, bis der Jenissej vom Eis befreit und das Wasser wieder von der Insel abgelaufen war. Alle sahen schrecklich aus, die Gesichter verrußt, die Sachen vom Feuer versengt, die Wäsche auf der Haut war schmutzig, es tauchten Läuse auf dem Kopf und in der Unterwäsche auf. Einige Leute erkälteten sich, wurden krank, alle hatten Hunger. Brot brachte man uns aus dem Dorf, aber wir hatten doch das Jahr 1943. Was konnten sie uns schon groß geben? Und da wurde das Schneegrieseln seltener. Die Jungs nahmen die Boote, um im Dorf einen Sack Mehl zu erhaschen. Dann buken wir am Lagerfeuer in der Asche Fladen.

Das Schneegrieseln ging vorüber, das Wasser beruhigte sich, das Wetter wurde besser. Der Wind ließ nach, es wurde warm, und wir wurden mit den Booten zurück zur Insel gebracht.

Am Ufer der Insel lagen die zerstörten Lastkähne, verfaulte das schlecht durchgebratene Fleisch von ausgeweideten Tieren, zerbrochene Kisten, Butter, vermischt mit Dreck. Das wertvollste waren die gedörrten Störrücken - Beluga, Keta, Dosen mit Kaviar, Büchsenmilch, gehobene Sorten Wurst, Konditorwaren und Nudelerzeugnisse und vieles, vieles mehr. All das war mit Dreck vermischt, durchgeweicht und lag verstreut im Wasser oder am Ufer. Ein Teil der Lebensmittel in den zerborstenen Lastkähnen, in den Kisten, war von großen Eisschollen niedergedrückt worden. Auf dem Jenissej schwammen Säcke mit Mehl, Eipulver Trockenmilch und Rahm. Das Land litt Hunger, die Menschen starben vor Hunger, und hier ließen irgendwelche Tölpel so etwas zu, und kaum jemand übernahm die Verantwortung, im Gegenteil, einer der hauptverantwortlichen Leiter dieses unfreiwilligen Aufenthaltes war für einen sehr verantwortungsvollen Posten ernannt worden, wo er viele Jahre gearbeitet hatte.

Bei Ankunft auf der Insel bestand unsere Arbeit darin, die verbliebene Fracht in Sicherheit zu bringen: die Lebensmittel einsammeln und zu lagern, die übriggebliebene Ladung aus den Frachträumen der zerstörten Schleppkähne herausziehen, im großen und ganzen alles zu tun, um irgendwie wieder Ordnung zu schaffen.

Aus den Brettern der noch vorhandenen Lastkähne bauten wir Behausungen, ließen uns darin nieder; sogar eine medizinische Betreuungsstelle wurde eingerichtet, in der die Kranken lagen. Auch Ärzte gab es. Mit einem Dampfer schickte man uns eine neue Wachmannschaft, sowie einige neue Häftlinge. Es wurde auch ein Stacheldrahtzaun errichtet, mit dem unser Lager umgeben wurde - die Zone! Zur Arbeit führten sie uns aus der Zone hinaus.

Die neue Wachmannschaft bestand aus einer Selbstschutztruppe - das waren ebenfalls Häftlinge, die während des Krieges verhaftet worden waren, Ukrainer, Osseten. Es waren richtige Henker. Wie sie ihren Spott trieben mit den schwachen, kranken Menschen! Sie schlugen sie, setzten sie an einem zugigen Platz dem Wind aus, und ähnliches mehr.

Die Arbeit war schwer, gefährlich, weil sich ein Teil der Schleppkähne zur Hälfte im Wasser befand; man mußte in die Frachträume hineinklettern (und dort war Wasser), um irgendwelche Kisten herauszuziehen. Die Menschen stürzten, gingen unter, manch einer wurde von der Fracht und den Eisschollen zerquetscht, die in den Frachträumen zurückgeblieben waren.

Die Leute weigerten sich, die Arbeiten auszuführen, aber sie wurden geprügelt, geprügelt, geprügelt ...

Wie ich bereits zu Beginn geschrieben habe, gibt es im Polarsommer keine Nächte. Sie machten sich diesen Tatbestand zunutze und gaben uns nicht die Möglichkeit zum Ausruhen. Wir arbeiteten Tag und Nacht; wer konnte, schlief dort, wo er sich gerade befand. In die Zone wurden wir nur zum Mittagessen geführt, was für uns überhaupt nicht notwendig war - denn die Lebensmittel standen uns ja alle zur Verfügung. Die Menschen waren vor lauter Müdigkeit und Schlaflosigkeit so erschöpft, daß einige auf dem Weg hinfielen, woraufhin sie mit dem Gewehrkolben Schläge auf den Rücken, ins Gesicht und auf den Kopf erhielten.

Irgendwie wurde ich einmal krank, mal war ich todmüde, mal quälte mich Schlaflosigkeit. Martotschka und ich warteten, bis der Wachmann sich entfernt hatte, und beschlossen dann uns hinter einem Busch zu verstecken, um wenigstens eine halbe Stunde zu schlafen. Wir dachten, daß er unser Fehlen nicht bemerken würde, es waren ja so viele Leute da. Na und dann stahlen wir uns davon. Wir ließen uns zu Boden sinken und schliefen ein. Ob er uns selbst plötzlich vermißt oder ob uns jemand verraten hatte - jedenfalls fand er uns. Wir schreckten von heftigen Fußtritten und wüstem Geschimpfe hoch. Er führte uns weiter in die Tundra hinein, d.h. noch weiter als die Stelle, wo sich die Brigaden befanden, hieß uns mit dem Gesicht zu einem Baum gewandt Aufstellung nehmen und schrie: "Ich erschieße euch wegen versuchter Flucht" und begann Schüsse abzufeuern. Ein Schuß ging an meinem Ohr vorbei, der zweite - an Martotschka. Und so ergötzte er sich ein paarmal, während wir mit dem Rücken zu ihm standen und auf den Tod warteten. Ich erinnere mich nicht an meine Verfassung, ich hörte erneut Schüsse und beobachtete mit einem Auge Marta. Sie schrie, weinte. Ich höre noch ihre Worte: "Ich werde Mama nicht wiedersehen", und dann fiel sie zu Boden. Ich wartete auf den nächsten Schuß, mit dem auch ich nun sterben würde. Aber nichts geschah, es folgte kein weiterer Schuß. Mit groben Schimpfworten trat er auf sie zu, packte sie an der Joppe und wollte sie auf die Füße stellen; aber sie stand nicht auf, sie hatte das Bewußtsein verloren. Marta war 18 Jahre alt. Er schickte mich zur Brigade, damit jemand herkam, um sie fortzubringen.

Nach zwei Tagen war der Begleitsoldat (sie nannten ihn Wassil) verschwunden. Jegliche Suche von Seiten der Aufseher und des Lager-Kommandos verlief ergebnislos. Die Häftlinge erklärten, daß, sofern nicht die Wachen ihr eigenmächtiges Handeln unterließen, sie das gleiche Los ereilen würde. Man entfernte sie; lediglich unsere alten Wachmannschaften blieben dort, die sich den Gefangenen gegenüber so verhielten, wie das Gesetz es verlangte, zumal ein Teil von ihnen auch schon diese schreckliche Überquerung des Flusses mitgemacht hatte. Übrigens, zwei von ihnen, junge Leute, waren während der Überquerung untergegangen und von Mischa Tschechlin gerettet worden.

Im Sommer 1943 wurden alle inhaftierten Männer unseres Lagers bis zum Alter von 40 Jahren an die Front einberufen (ich weiß nicht, inwieweit das stimmt, aber angeblich wurde Iwan Kusnets im Jahre 1944 der Titel eines Helden der Sowjetunion verliehen). Die übrigen Häftlinge mit unterschiedlichen Paragraphen wurden mit Lastkähnen in die Stadt Dudinka überstellt, zur 2. Lagerabteilung des Norilsker Kombinats.

      


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