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Wladimir Pentjuchow. Gefangene eines traurigen Schicksals

Aus deutscher Gefangenschaft ins sowjetische Lager

Vieles wurde im Zusammenhangmit dem Thema GULAG in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebracht, und auch mein Roman handelt vom Leben der Gefangenen. Er besteht aus in natura gezeichneten Skizzen in Versform. Genauer wäre es zu sagen: ich habe davon gesungen, was ich mit eigenen Augen in den Lagerkolonien des MWD der UdSSR gesehen habe. Das Großbauprojekt N° 501 dieser Organisation befand sich entlang der Nord-Petschora-Eisenbahnlinie, zwischen den Stationen Petschora und Uchta, dir Großbaustelle N° 503 zwischen den Flüssen Ob und Jenisej im Abschnitt Salechard-Jermakowo-Igarka.

Das Bauarbeiter-Kontingent bestand im wesentlichen aus ehemaligen sogenannten Vaterlandsverrätern; dabei handelt es sich um Rotarmisten und Kommanduere der Roten Armee, die während der Kampfhandlungen den von ihnen geleisteten Eid brachen, der besagte, dass sie ihrer Heimat stets treu ergeben sein sollten, und die sich im kritischen Moment nicht selber eine Kugel durch den Kopf jagten, sondern sich vielmehr auf Gnade oder Ungnade den Faschisten ergaben und in deren Gefangenschaft gerieten.

Die zweite Gruppe bildeten die sogenannten „Volksfeinde“. Das waren jene Leute, die auf dem von den Faschisten besetzten Territorien zwischen der Westgrenze und Moskau lebten, in verschiedenen Unternehmen und Städten arbeiteten, um nicht vor lauter Hunger zu sterben, wodurch sie dieMacht der Hitlerleute nurnoch stärkten.

Die Dritten waren jene, die verurteilt worden waren, weil sie sich in den schwierigen Kriegsjahren mit Diebstahl, Betrügereien, Raub und Plünerungen abgegeben hatten - mit dem einfachen Ziel Profit zu machen. Bewacht wurden diese Häftlinge nach Kriegsende durch von den Kriegskommissariaten mobilisierte gerade erst siebzehnjährige Soldätchen, die man in den Lagerzonen zusammengetrieben und über die gesamten nördlichen und südlichen Randgebiete des Landes verstreut hatte.

Als am 22. Juni 1945 der Große Vaterländische Krieg begann, begab sich mein Vater am zweiten Tag zum Kriegskommissariat, um an die Front zu gehen. Hinter ihm – mein älterer Bruder Aleksander. Beide kamen kurz darauf ums Leben, aber wie ich danach mit meiner kranken Mutter und dem kleinen Bruder in dem Dorf Abalak, im Gebiet Irkutsk, lebte, werde ich nicht erzählen. Es geht nicht um mich, denn in der gleichen Lage befand sich auch die Dorfbevölkerung der gesamten Sowjetunion. Aber ich erfuhr, dass man, um ein Jahr lang beispielswiese ein einziges Infanterieregiment zu verpflegen (das sind 1500 Kompanien), nicht nur den Arbeitseinsatz der Ackerbauern des Dörfchens Abalak benötigte, sondern den Einsatz von 15-20 solcher Dörfer. Und außerdem mußte ja auch das Getreide für die viele tausend Mann zählende Armee von Vaterlandsverteidigern, für eine nicht weniger große Häftlingsarmee und die Millionen Menschen umfassende Bevölkerung der Städte, Ortschaften, Dörfer und Arbeitersiedlungen angebaut werden. So war also die Unterernährung der Gefangenen in den Lagern gar keine vorsätzliche Maßnahme, wie einige Autoren von Publikationen zum Thema GULAG dies immer wieder bekräftigen, sondern vielmehr das Ergebnis des Mangels an Getreidevorräten in der großen UdSSR, der sich auf alle Lebenden auswirkte. Hunger und nichts als Hunger trieb die Menschen zu Diebstahl, Raub und Überfällen in den besiedelten Gebieten. Wegen einer aus dem Boden ausgegrabenen Kartoffelknolle oder einer Handvoll auf den Saatparzellen aufgesammelter Roggen- oder Weizenähren gaben die Richter dem Schuldigen zwischen drei und fünf Jahre Freiheitsentzug, und nach dem Ukas von 1946 sogar zwischen fünf und fünfzehn Jahre.

1947, unmittelbar nachdem die Russen die kriegsgefangenen Japaner in die Heimat zurückgeschickt hatten, wurde ich zum Arbeitsdienst an oben erwähntes Großbauprojekt in der ASSR Komi versetzt und erfuhr dort aufgrund meiner Fahrten dirch die Lagerzonen, welche Kategorien von Häftlingen in ihnen gehaten wurden und wofür sie dort ihre Strafe verbüßten. Meine besondere Aufmerksamkeit galt aus irgendwelchen Gründen den Menschen, die in den Kriegsjahren bereits die faschistische Gefangenschaft durchgemacht hatten und sich anschließend, gleich nach Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft im Mai 1945, in unseren Lagern wiederfanden, in der Verbrecher unterschiedlichster Schattierungen einsaßen.

Der Stab der Bauverwaltung 501 befand sich in der Siedlung Abes am Ufer des Flußes Usa. Man ließ mich als einzigen von insgesamt 160 eingetroffenen Soldaten hier, weil ich mich mit dem System der Organisation und Durchführung massenkultureller Tätigkeiten auskannte; außerdem schrieb ich Gedichte, was für die Mitarbeiter der politischen Abteilung der Bauverwaltung– diesen Liebhabern von Wandzeitungen, „Blitzausgaben“ verschiedener Schattierungen, völlig unerwartet kam. Außerdem schrieben sie gern Artikel für die Zeitung „Der Bauarbeiter“.

Was für Leuten ich in dieser Siedlung, dem Stab der Bauverwaltung und in den Lagerzonen begegnete, lesen Sie in den Gedichten. Sie spiegeln viel emotionaler die Stimmung jener Zeiten wider. In ihnen finden sich mein Mitgefühl gegenüber den Häftlingen, meine Besorgnis um ihre Qualen und Leiden, mein Bedauern ob der eigenen Machtlosigkeit – wo ich ihnen doch so gern in ihrem schweren Los wenigstens ein klein wenig Erleichterung verschafft hätte.

Ich kann nicht sagen, daß ich mit meinem Dienst in puncto Bewachungstätigkeiten unzufrieden war, denn an keinem anderen Ort, in keinen anderen Truppenverbänden und auch unter keinen anderen Umständen wäre ich denen begegnet, die mir dabei halfen, das Wesen meines Dienstes, meiner Beziehungen zu Menschen mit anderem Schicksal zu erkennen, was meinem Bewußtsein eine andere Richtung gab – hin zu einem ehrlichen, aufrichtigen, man kann wohl sagen nach religiöser Moral geführten Leben, von dem ich in meinem hinterwäldlerischen Dörfchen Abalak niemals hätte träumen mögen.

Im Abesker Theater begegnete ich Menschen, wie ich sie mir nicht einmal in meinen kühnsten Fantasien hätte ausmalen können. Es waren die talentiertesten Meister der Bühnenkunst, die aufgrund ihrer Schaffenserfolge dem gesamten Sowjetvolk bereits vor dem Krieg bekannt gewesen waren; zu ihnen fand ich geistige Annäherung und definierte daraufhin ganz entschieden meine Bestimmung im Leben. Den ersten Platz unter ihnen nahm für mich der Moskauer Dmitrij Aleksandrowitsch Krajnow ein – ein Operettenbaß, den zweten der Leningrader Literaturmeister Boris Fedorowitsch Bolchowskoj, der dritte – der Schauspieler und Regissseur Leonid Leonidowitsch Obolenskij, der zugleich auch einer der ersten Kinokoryphäen in der Sowjetunion war. Der vierte schließlich war der erste Begleiter des weltbekannten Geigers David Oistrach – der Pianist Wsewolod Wladimirowitsch Topilin.

Bei jeder Begegnung, bei jeder passenden Gelegenheit bemühten sie sich, mir ein kleines Teilchen von der Wärme ihrer Seelen abzugeben, ein Stückchen ihres allumfassenden Wissens. Und ich strengtemich nach kräften an, all das in mich hineinzusaugen, was sie mir vermittelten, weil ich so gern in irgendeinem Punkt ein bißchen wie sie sein wollte. Und ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich schon sehr bald in den Strudel der mich umgebenden Ereignisse geriet.

Der Dienst der Soldaten im Kommandantenzug, zu deren Reihen auch ich zählte, hatte mit der Bewachung von Gefangenen nichts zu tun. Vielmehr war es ihre Aufgabe, die staatlichen, genauer gesagt – die alltäglichen Objete zu bewachen: die Stabsgebäude der Bauverwaltung, die Wachstäbe, Staatsanwaltschaft und Gericht, die Bank, die typographischen Anstalten, die Funk- und Radiostation sowie andere Objekte. Die Offiziere dienten vom Unterleutnant bis hin zum Hauptmann als Zugkommandeure, Abteilungsinspektoren, Instrukteure verschiedener Dienststäbe oder einfach als technische Spezialisten. Sie waren schon nicht mehr ganz jung, denn sie standen bereits lange im Dienst, und weil sie zur Reserve gehörten, kamen sie während des Krieges auch nicht an die Front. Das Führungspersonal der Behörde, ab dem Majorsrang oder höher, waren noch älter, arbeiteten jedoch aufgrund ihrer Erfahrung offenbar gut, denn während meiner Zeit dort schickte Moskau nicht einen von ihnen in den Ruhestand.

Der Behördenstab der Bauverwaltung nahm den Mangel an Offizierskadern sehr wohl wahr, aber es gelang ihm auch nicht ihn aufzustocken. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich den Leiter der Bauverwaltung, Oberst Barabanow, kein einziges Mal zu seinen Abteilungschefs sagen hörte, daß sie in ihre Kanzeleien lese- und rechtschreibkundigere Soldaten für dringende Dienstbelange holen sollten. Wohl genau aus diesem Grund berief man mich auf den Offiziersposten, um die Pflichten des Leiters und Organisators der Laienspielgruppen im Haus der Kultur wahrzunehmen.

Lediglich zwei Lagerzonen gehörten nicht zu den aufgezählten Objekten in Jermakowo: die Frauen- und die Männerzone, aber sie befanden sich faktisch schon hinter der Siedlung, und die Zahl der Häftlinge darin braucht man nicht in die Reihen der freien Bauarbeiter einzubeziehen. Jetzt, wenn man auf die Liste der Objekte und den Grundriß der Siedlung schaut, kann man denken: können die denn in diesen Häusern und öffentlichen Gebäuden, die insgesamt weniger als einen Quadratkilometer ausmachen, außer freien Menschen auch noch 15000 Gefangene unterbringen, von denen „kompetente“ Schmierfinger immer wieder schreiben?

Die allgemeine Bevölkerungszahl von Jermakowo . Ärzte, Lehrer, Beamte verschiedener Organisationen und Militärpersonen machte zusammen mit deren Frauen und Kindern nicht mehr als tausend Personen aus.

Und außerdem: Leute, die gern die schrecklichen Geheimnisse um das Bauprojekt beschreiben, bestätigen in ihren Formulierungen, daß beim Bau des Schienenweges mehr als hunderttausend Menschen ausgebeutet wurden, daß sich innerhalb eines Jahres diese Zahl um ein Drittel verminderte und daß das Ministerium für innere Angelegenheiten zum Austausch der Verstorbenen neue, tausende Menschen umfassende Häftlingszüge schickte. Und vor meinem gesicht liegt das Buch des Museumskomplexes für Heimatkunde der Stadt Igarka, „Das Museum des ewigen Frostes“, über das Großbauprojekt N° 503, in dem dokumentarisch in Rechenschaftsberichten bestätigt wird, daß im Jahre 1949 an diesem Bau insgesamt 36.265 Personen arbeiteten, unter ihnen 674 frei angestellte Arbeiter, 30.000 Häftlinge und 2.561 bewaffnete Wachmänner. In der Nordverwaltung des Großbauprojektes N° 501 wurden 28.774 Gefangene gehalten, darunter 24.995Männer und 3.779 Frauen. Und am 1. Januar 1952 waren von den dort in den Kolonien inhaftierten Männern lediglich noch 12.661, von den Frauen 1.500, registriert. Das Sinken der Arbeitskräftezahlen geschah aufgrund der Verringerung der grundlegenden Bauarbeiten in Zusammenhang mit der vollständigen Einstellung des Bauvorhabens.

Ein paar Worte darüber, unter welchen Bedingungen die gefangenen Bauarbeiter gehalten wurden. Ich wollte mit meinen eigenen Augen sehen, wie der Lagerdienst sie hungern läßt, bis sie schließlich an Ruhr erkrankten, wie die Wachen bei 50° Frost die Häftlinge einfach am Eisenbahndamm erfrieren ließen.

Aber wenn ich dienstlich in der sechsten Lageraußenstelle zu tun hatte, fand ich natürlich nichts derartiges vor. Die Gefangenen lebten dort, wie auch an anderen ähnlichen Orten, materiell besser, als die einfachen Menschen in Freiheit. Dies sagte der Häftling Karimow, der früher in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen war:

- Ich geriet im Jahre 1944 in Gefangenschaft; vor meiner Einberufung war ich Kolchosarbeiter. Ich führte ein Leben wie alle – ein schlechtes. In der Kolchose stahlen sie Bezirksbevollmächtigten aus der Bezirksstadt das Getreide aus den Scheunen, beschlagnahmten Kartoffeln und anderes Gemüse, das in den Gärten gezogen wurde. Angeblich sollte alles zur Armee geschickt werden, während unsereiner am Hungertuch nagte. In den Scheunen und unterirdischen lagern laufen die Mäuse umher, zerschlagen sich ihre Schädel. Alles leer. Da wurde man schnell hungrig. Aber hier kann ich dreimal am Tag essen; wir bekommen Schuhwerk, sind warm gekleidet, und ich verdiene sogar Geld. Hundert Rubel lege ich für mich beiseite, berücksichtige dabei die Zahlungen für Essen und Kleidung und schicke auch der Mutter immer eine bestimmte Summe; der Rest geht auf mein persönliches Konto. Wenn der Entlassungstag heranrückt, habe ich genug angespart, um mir einen Anzug dafür zu kaufen. Und in dem Dorf, in dem ich lebte, erfroren die Menschen, sonbald der Winter einbrach. Der Wald ist weit entfernt. Niemand beschafft Kohle. Du kannst nach deinem freien Willen leben. Aber hier gehen Brennholz und Kohle nie zur Neige. Die Öfen werden ständig beheizt. Hier gibt es auch eine Sanitätsstation; man braucht sich nicht, wie es im Dorf der Fall ist, zwanzig Werst zu Fuß vorwärtsschleppen, damit einem der Doktor Magentabletten verschreibt.

- Wirst du in die Heimat zurückkehren, wenn du entlassen bist? – fragte ich.

- Wahrscheinlich nicht; Mama und Papa sind tot – zu wem soll ich denn? Ich werde es wohl so machen wie die anderen: irgendetwas stehlen, dann stecken sie mich wieder ins Gefängnis, und dort haben sie alles für mich, was ich brauche.

- Ich muß dazusagen, daß ich eine derartige Meinung nicht nur einmal gehört habe, sondern auch von anderen Arbeitern aus anderen Lagerzonen. Und jedesmal begann ich mich in den Gedanken zu verlieren, daß auch mich an den Orten, an denen ich geboren und aufgewachsen war, nicht viel Gutes erwartete. Dort hatte ich keine wenn auch noch so kleine Kate mit Gärtchen, indem ich alle möglichen Gemüsearten und Kartoffeln hätte ziehen können, mit einem Pferch, in den ich zur Nacht die Kuh hätte hineintreiben können. Dort gab es auch keinen Holzverschlag für das Kälbchen und das kleine Schaf, aber ohne all das kannst du im Dorf überhaupt nicht leben. Auch die anderen Soldaten, meine Altersgenossen, die gleich neben den Häftlingszonen wohnten, aus Lebensfreude und Wohlstand herausgerissen worden waren, die seit Monaten keine Menschen in Freiheit und seit Jahren keine Mädchen mehr gesehen hatten, erwartet zuhause das gleiche Los, sofern nicht der erbarmungslose Norden bis dahin ihre Gesundheit ruiniert oder irgendein bestialischer Rezidivist aus den Reihen der Kriminellen mit Sonderstellung oder ein ehemaliger Kriecher und Speichellecker der Polizeitruppen unter deutscher Besatzung sie mit der Spitzhacke abgemurkst hat.

Während jener ersten Dienstreise im Herbst des Jahres 1947, welche Einstellung ehemalige faschistische Gefangene zu ihrer Situation in den sowjetischen Lagern haben, genauer gesagt – in Lagern des sogenannten Stalinistischen Aufbaus. Es war im allgemeinen so, wie man es auch hätte erwarten können: nämlich ganz unterschiedlichnund in Abhängigkeit von der jeweiligen Haftdauer. Jene, die sich freiwillig den Faschisten ergaben, in ihre Gefangenschaft gingen und in ihre Dienste überliefen, sahen ein, daß die Heimat ein gerechtes Urteil über sie ausgesprochen hatte; und sie zeigten sich sehr dankbar, daß man sie nicht unmittelbar nach ihrer Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft im Mai 1945 erschossen hatte. Diejenigen, die aufgrund ihrer Verwundung in Gefangenschaft geraten waren und später gezwungen waren, für die Faschisten zuarbeiten, um überhaupt am Leben zu bleiben, meinten, daß man sie nicht so grausam hätte bestrafen dürfen. Schließlich war Arbeit unter Androhung der Erschießung – Zwangsarbeit.

- Die deutschen Wachen fackelten nicht lange mit Arbeitsverweigerern, - sagte der ehemalige Oberleutnant Aleksander Mudrow. – Sie wurden noch im Lager liquidiert oder mit einer Gefangenenetappe ins Krematorium von Auschwitz geschickt. Um am Leben zu bleiben und später zu meinen Verwandten zurückkehren zu können, tat ich alles, was sie befahlen und was nicht mit dem Blut der anderen Gefangenen in Zusammenhang stand. Ich wußte ganz genau: dafür würden sie mich in der Heimat nicht verschonen. Gott sei Dank sind meine Hände und mein Gewissen rein.

- Wenn die Deutschen unseren Soldaten „Hände hoch“ zuriefen, dann taten sie das nur selten,- erzählt außer Mudrow noch ein anderer ehemaliger Zug-Offizier. – Aber unsere Oberkommandierenden, die es zugelassen hatten, daß der Gegner unsere Truppen in den ersten Kriegstagen einkreiste, und später auch bei Kiew, Smolensk und Moskau – sie waren es, die hunderttausende unserer Soldaten in die Gefangenschaft laufen ließen. Hätten wir uns nicht alle selbst totschießen sollen, um unserem Eid treu zu bleiben? Wenn wir tatsächlich so gehandelt hätten, dann hätte die Sowjetunion etwa fünf Millionen Staatsbürger verloren. Aber wenngleich wir uns jetzt in Lagerhaft befinden, arbeiten wir doch zu ihrem Nutzen. Und wenn nötig, werde ich noch einmal losziehen und die Heimat mit der Waffe verteidigen.

Noch ein paar Worte zur Haltung der gefangenen Bauarbeiter. Es herrschte ein strenges Regime, es gab aber keine besonderen Grausamkeiten gegenüber den Häftlingen, mit einigen wenigen Ausnahmen, wenn es zu einer absichtlichen, ganz bewußten Verletzung der Lagerordnung, innerhalb oder außerhalb der Lagerzone, gekommen war.

Ihre Freizeit verbrachten die Häftlinge jeweils für sich, aber die Mehrheit derer, die noch etwas jünger und von kräftiger Gesundheit waren, nahmen an verschiedenen Veranstaltungen teil, die von der Kultur- und Erziehungsstelle durchgeführt wurden. Sie machten in irgendwelchen Laienspielgruppen mit – (allerdings nicht in allen Lagern), nahmen an Schach- und Dame-Turnieren sowie Stadtwettbewerben teil. Interessierte besaßen die Möglichkeit sich auch in Musikgruppen zu beschäftigen, sie erlernten in Streich- und Blasorchestern das Spielen von Musikinstrumenten. Besonders populär war in den meisten Kolonien der Bajan (Knopf-Akkordeon; Abnm. D. Übers.). Inhaftierte Bajan-Spieler waren in jeder Baracke
gern gesehene Gäste, besonders nach dem Abendessen an freien Tagen.

Die Häftlinge in den Lagerpunkten erhielten Zeitungen und Zeitschriften, allerdings mit Nachrichten, die bereits ein oder zwei Wochen alt waren. Einmal im Monat kam ein Wanderkino mit interessanten Kinofilmen zu ihnen, die sich sogar die Angestellten aus dem Lagerdienst ansahen.

Bei oberflächlicher Betrachtung wird ein frisch Hinzugekommener inmitten der Gefangenen keine niedergeschlagenen oder traurigen Arbeiter bemerken. Sie zeigen es nicht, besser gesagt – sie setzen alles daran es nicht zu zeigen, aber wenn sie dann unter sich sind, dann kommt es schon vor, daß junge wie alte in der Nacht heimlich unter ihren Schlafdecken weinen. Und die besonders feinfühligen Naturen unter der Intelligenz in den unterschiedlichen Berufsgruppen ertragen die Unterdrückung nicht, von der sie überall umgeben waren, so daß sie manchmal, wenn sie verzweifelt waren und diesem Dasein ein schnelles Ende bereiten wollten, sich von ihren Pritschenkameraden verabschiedeten und sich in die innere, die verbotene, Lagerzone begaben, man kann wohl sagen – unter den Gewehrkugeln der auf den Wachtürmen befindlichen Wachposten, die das Recht hatten, den Rechtsverletzer ohne weitere Vorwarnung zu erschießen.

Solche Leute fühlten sich durch den Tatbestand unterjocht, daß man ihnen die Möglichkeit des Briefwechsels mit Zuhause entzogen hatte, daß sie nicht wußten, was mit ihren Verwandten geschehen war, ob sie überhaupt noch lebten oder nicht. Viele, deren Gesundheit bereits in deutschen Konzentrationslagern erschüttert worden war, waren beunruhigt: würden sie bis zum hellichten Tag ihrer Freilassung am Leben bleiben? Und falls sie überlebten – würde man sie dann nicht, wie es schon mit vielen anderen der Fall gewesen war, in die Verbannung und noch weiter in den hohen Norden schicken?

Beim Bauprojekt N° 501 arbeitete ich von 1947 bis 1949, bis zu dem Zeitpunkt, als der Bau der Eisenbahnlinie bis zur Station Labytnangi, die am unteren Ob gelegen ist, fertoggestellt war, und während dieser Zeit war ich in der 5. und 7. Lageraußenstelle mit verschiedenen Aufgaben meiner Leitung betraut. Meine Besuche in ähnlichen Einrichtungen setzten sich auch fort, als ich zum Bauprojekt N° 503 verlegt wurde. Und überall, wo ich mich aufhielt, wem oder was ich begegnete – all das spiegelt sich in meinen Aufzeichnungen wider. In ihnen liegt nichts als die Wahrheit – mit der einzigen Ausnahme, daß ich die Familiennamen einiger Personen aus Gründen, die Sie sicher erraten können, geändert habe.

Mit denjenigen, mit denen mein Schicksal enger verbunden war, insbesondere nach meiner Demobilisierung aus den inneren Truppen und ihrer Rehabilitation nach J.W. Stalins Tod, spreche ich über ehemaliger Künstler; unser Verbindung ist seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht abgerissen, genauer gesagt – bis zum Jahr 2000. Mit denen, die noch am Leben sind, stehe ich in regem Briefwechsel. All meine Publikationen in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern über die Bauprojekte, aber auch Briefe, die an mich geschrieben wurden, habe ich zur ewigen Aufbewahrung dem Krasnojarsker Heimatkunde-Museum vermacht.

EID AN DIE ABTRÜNNIGEN
(damit sie sich nicht als Gefangene ausliefern)

Wer du auch bist, Arbeiter in der Armee,
Gewöhnlicher Soldat, Frontgeneral,
Aber wenn du vor der Gemeinschaft den Eid geleistet hast,
Im Kampf dein Mütterchen Heimat verteidigt hast,

Dann – bist du ein Kriegsheld, bist der Ehre und des Ruhmes würdig,
Dann gebühren dir bis ins hohe Alter Anerkennung und Respekt,
Aber wenn du den Schwur in der blutigen Schlacht gebrochen hast,
Dann warte nicht auf Vergebung - denn für dich gibt es sie nicht.

Du hast dich freiwillig der Gunst des Feindes ausgeliefert,
Hast im Stillen gehofft am Leben zu bleiben....
Du bist es auch. Und in den sowjetischen Lagerzonen läufst du
Seitdem unter den Augen der Wachposten frei herum,

Seine Schuld kann man bereuen und sühnen, aber die Bezeichnung: „Verräter“,
Weicht, egal wohin du auch gehst, niemals von dir,
Sie wird dir anhaften bis zu deiner Todesstunde,
Bis zu deinem allerletzten Atemzug,
das ist dein bitteres Los.

Unbekannter Autor


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