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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussage der Irma Ljubimowa (Grosch, geb. 1935).

Geboren wurde ich in der Ortschaft Grimm im Gebiet Saratow. Nach Beginn des Krieges am 22. Juni 1941 wurde auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 unsere Familie am 19. September 1941 aus ihrer Heimat, der ASSR der Wolgadeutschen, ausgesiedelt: wir mußten unser Haus und den gesamten Besitz zurücklassen. Es war uns nur erlaubt, das Allernötigste mitzunehmen. Unsere Familie bestand aus sechs Personen: Papa August Grosch (geb. 1902), Mama Lisa (geb. 1904) und vier Kinder: Bruder August (geb. 1927), Invalide aufgrund seines schlechten Sehvermögens, die Schwestern Lisa (geb. 1930), Ida (geb. 1938) und ich. Mit einem Lastwagen brachte man uns zur Anlegestelle „Solotoje“, von wo aus wir dann mit einem Lastkahn auf der Wolga bis zum Anleger „Achmat“ fuhren. Wir mußten alle aussteigen und darauf warten, was uns der weitere Lebensweg bringen würde. Einige Tage vergingen; dann verfrachtete man uns auf Güterwaggons und brachte uns zur Eisenbahnstation. Wohin? Darüber war der ganze Zug beunruhigt.

Am 28. September kam unser Papa am Bahnhof „Besymjannoj“ums Leben. Er hatte dort für uns eine Wassermelone gekauft, plötzlich das Pfeifen einer Lokomotive gehört und war zum Zug zurückgelaufen, wohl in der Meinung, daß unser Zug abfahren würde. Er stolperte und geriet unter die Räder eines anderen Zuges, der gerade abfahren wollte. Das war unser erster schwerer Verlust – wir hatten unseren Papa verloren. Mama und Bruder August wurden zum Vater geführt, aber uns Schwestern ließen sie nicht zu ihm heran. Ich kann mich an das Weinen, das laute Wehgeschrei, den Lärm erinnern – so unvorstellbar groß war der Kummer, das Leid, das unsere Familie getroffen hatte. Papa wurde mit einer Plane abgedeckt, und dann transportierte man uns weiter. Der Zugleiter ließ uns bis zu einer bestimmten Station fahren und übergab Mama dann Dokumente über Papas Tod; aber sie erhielt weder finanzielle Hilfe für die Kinder, noch irdendeine Zahlung seitens der Versicherung, obwohl Vater eine solche abgeschlossen hatte. Mama weinte die ganze Zeit, überhaupt, waren vier vier in Tränen aufgelöst. So blieben wir also ohne unseren Papa zurück und hatten damit, schon ganz zu Beginn unserer Deportation, den Verlust eines geliebten Elternteils zu beklagen.

Aber die Räder ratterten unaufhaltsam weiter gen Osten. Wir waren noch nicht einmal bis nach Krasnojarsk gekommen, als meine jüngste Tante Maljuscha einen Sohn zur Welt brachte (bis heute nennen sie ihn „Waggontschik“), das geschah Ende September – und es gelang Onkel Leo den kleinen Witja und die Tante in den Sanitätswagen bringen zu lassen.

Sie fuhren bis zur Bahnstation „Bugatsch“ in der Nähe von Krasnojarsk, wo sämtliche Passagiere ins Badehaus geführt und anschließend mit irgendeiner gewöhnlichen Suppe verpflegt wurden. Hier in Krasnojarsk wurden wir auf die einzelnen Bezirke verteilt; mit Fuhrwerken wurden wir dorthin gebracht – es war Herbst, überall Schmutz und Kälte. Uns brachten sie ins Dorf „Ilinka“ im Nischne-Ingaschsker Bezirk, wo uns die Sibirjaken nicht mit „Brot und Salz“ begrüßten; wir waren Deutsche – gegen sie wurde Krieg geführt, man nahm uns als deutsche Faschisten auf, und deswegen wurden wir auch zu Opfern der örtlichen Propaganda. Besonders schwer hatten wir Kinder es, denn sobald wir auf der Straße erschienen, bewarfen sie uns mit Steinen und spuckten uns an. Den Älteren verschaffte man Arbeit in der Kolchose.

Das Dorf „Ilinka“ liegt unweit der Bahnstation „Reschoty“, wo sich auch das Konzentrationslager einer NKWD-Arbeitskolonne befand, in der sich die Brüder meiner Mutter aufhielten. Nachdem Mama das erfahren hatte, gingen sie und Tante Maljuscha zufuß dorthin, um die Brüder wiederzusehen. Allerdings war es ohne Kenntnisse der russischen Sprache und der Gegend ein sehr beschwerlicher „Spaziergang“. Das Konzentrationslager war von einem Stacheldrahtzaun umgeben, hinter dem sich aufgetriebene, vor Hunger und Kälte im Sterben liegende Menschen unterschiedlicher Nationalitäten befanden, denen man doch wenigstens ein klein wenig helfen wollte. Die durch die schwere und gefährliche Arbeit in der Holzfällerei dieses Lagers völlig entkräfteten Menschen sahen wie lebendigte Schatten aus. Aber wier sollten sie auf die andere Seite des Stacheldrahts gelangen? Es gibt keine Welt ohne gute Menschen – es fand sich ein wohlwollender Mann, der Mama und Tante Maljuscha dabei behilflich war, am „Stacheldraht“ vorbei, durch den Pferdestall zu gehen und sich mit den Brüdern zu treffen; allerdings konnten sie nur im Flüsterton miteinander reden, aber sie hatten auch die Gelegenheit, den Brüdern etwas zu essen zu geben. Glücklicherweise konnten sie mehrere solcher kurzen „Wiedersehen“ in die Tat umsetzen.

In Ilinka mußten wir nicht lange leben. Im Winter 1942 wurden alle verbleibenden Männer in Arbeitskolonnen des NKWD mobilisiert; auch die Frauen wurden fortgeholt und von ihren Kindern getrennt. Mama und mich, sowie Oma und Tante Maljuscha mit Witja (5 Monate) schickten sie in den hohen Norden, ins Nationalgebiet Tajmyr. Von „Ilinka“ nach Krasnojarsk brachten sie uns erneut mit Fuhrwerken. Ich kann mich noch daran erinnern, daß die Pferde sich weigerten, das Wasser des Flüßchens zu durchqueren, und daß der Kutscher, der die Pferde antrieb, schließlich mit seiner Peitsche das Bein der Schwester verletzte, so daß sich später der Nagel aus einem Zeh herauslöste.

In Krasnojarsk verlud man uns auf den Dampfer „J. Stalin“, der uns auf dem mächtigen Jenisej gen Norden brachte. Am 21. August 1942 wurden wir als zweite Partie Sondersiedler an der kleinen Siedlung Ust-Chantajka abgesetzt. Die bereits vor uns eingetroffene erste Partie bestand aus Jungen und Mädchen im Alter von 14 – 18 Jahren, teilweise mit ihren Müttern, manche auch ohne, die zur gleichen Zeit mobilisert worden waren – allerdings in Arbeitskolonnen des NKWD. Unter den Jugendlichen der ersten Partie befanden sich auch welche, die aus dem gleichen Dorf wie wir kamen – aus Grimm, unter ihnen auch Emilia Erdmann mit ihrer Mutter Lisa und Schwester Maria.

Einquartiert wurden wir in einer noch nicht fertiggebauten Baracke. Viele Leute waren eingetroffen; der Platz auf den doppelstöckigen Pritschen betrug pro Person 50 cm. Unten richteten sich Großmama, Tante Maljuscha und Witka ein, der noch nicht ganz 11 Monate alt war. Alle drei hatten einen Platz von 1,5 m zur Verfügung. Oben, in der zweiten Reihe hockten wir zu fünft auf 2,5 m Pritschenfläche aus unbearbeiteten Birkenholz-Stangen. In der Mitte der Baracke wurde ein Ofen aufgestellt, Licht wurde mit brennenden Holzspänen erzeugt. Die Wanzen, Kakerlaken und Flöhe ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Es schien, als wenn die Nächte niemals enden wollten – so lang kamen sie einem in der Dunkelheit und der völlig überfüllten Baracke ohne Luftzirkulation vor. Die dritte Partie Sondersiedler traf am 14. September 1942 ein. Unter ihnen befand sich auch Adolf Immermann – der zukünftige Mann meiner Schwester Lisa; ihr späterer, gemeinsamer Lebensweg sollte 53 Jahre dauern. Da es in der Siedlung keine leerstehenden Behausungen unter einem „hölzernen Dach“ gab, wohnten die Sondersiedler der dritten Partie vorwiegend in Zelten am Ufer des Jenisej – alte Leute, Frauen und Kinder.

Man hatte diese Menschen zum Sterben hierher gebracht – niemand kümmerte sich um sie. Ich werde nie vergessen, wie ich am U(fer stand und auf die im Stich gelassenen Leute blickte, die in irgendwelche Lumpen gehüllt waren; überall ringsumher nichts als Schnee und Kälte, und immer noch gab es in den Zelten Überlebende! Sie taten mir unendlich leid, denn nie zuvor hatte ich ein solches Elend gesehen. Mit meinem kleinen Herzen konnte ich die ganze Hoffnungslosigkeit dieser Menschen fühlen. Die Alten, die noch ein wenig Kraft in sich verspürten, begann nun mit dem Bau von Erdhütten, in denen es immer noch besser war als in Zelten. Unter ihnen befand sich auch die Familie Zimmermann, die insgesamt eineinhalb Jahre in einer solchen Erdhöhle lebte. Erst 1944 begann sie sich ein Haus zu bauen. Aus Igarka kam ein Floß mit Baumaterialien, welche sie im Herbst 1943 vom Jenisej ans Ufer hinauf trugen. 1944 bauten sie eine Baracke mit mehreren Zimmern und eröffneten eine Grundschule. Unter den Deutschen gab es auch Lehrkräfte: Lidia Kondratewna Strauch und ihre Nichte Elvira Wolf. Auch sie lebten mit ihren Familien in unserer Baracke. Ich ging 1944 in die erste Klasse, Schwester Lisa in die dritte; dort brachte man uns die russische Sprache bei. Die Beleuchtung in der Schule bestand aus Petroleumfunzeln, geschrieben wurde auf Birkenrinde. In der zweiten Klasse kamen Schulhefte auf, sogar ganz spezielle mit Rechenkästchen.

Am 19. Januar 1943 starb meine Schwester Ida im Alter von nur 5 Jahren. Das war unser zweiter schwerer Verlust und großer Kummer in der Familie. Die Tote lag zusammen mit uns auf der oberen Pritsche. Mama wickelte sie in eine Decke und trug sie auf ihren Armen durch die Baracke, wobei sie das Mädchen mit ihren Tränen benetzte, ihr Lieder vorsang – und manch einer stimmte mit ein. Wegen eines starken Schneesturms wurde die Beerdigung auf einen Zeitpunkt mit besserem Wetter verschoben, an dem Mama und noch zwei andere Frauen das Schwesterchen dann zum Friedhof trugen und Ida der Erde übergaben. Wir wissen nicht, woran Ida erkrankt war; nach Mamas Worten hatte sie sich erkältet. Allerdings war sie aufgrund der äußerst mangelhaften Ernährung auch sehr schwach gewesen. Am 3. Juli 1944 starb an Hunger und Skorbut mein Bruder August – der dritte Verlust in unserer Familie innerhalb von knapp drei Jahren. Von der Familie blieb nur die Hälfte am Leben: Mama, Schwester Lisa und ich. Wie war das damals schmerzlich und schwer für uns, besonders für Mama, aber irgendwie mußten wir ja weiterleben. Mama war eine starke Frau, sie liebte uns sehr und tat alles, um das Leben ihrer beiden verbleibenden Töchter zu erhalten; nachts, bei Mondlicht, strickte sie uns warme Kleidung, tagsüber arbeitete sie in der Kolchose. Ich erinnere mich noch daran, wie ein zubereiteter Aufguß aus Tannennadeln zum Versenden nach Dudinka kam – ein bitterer Sud, den die Leute gegen Skorbut tranken. Wenn mein Bruder und mein Schwesterchen das auch bekommen hätten, dann wären sie möglicherweise noch am Leben, aber .....

Und dann, am 9. Mai 1945 – der SIEG. Es herrschte eine unbeschreibliche Freude. Frauen erwarteten ihre Ehemänner, Mütter ihre Söhne aus den Konzentrationslagern des Urals und Sibiriens zurück. Aber kaum jemand war am Leben geblieben, um nach Hause zurückkehren zu können. Und so stellten auch die Nachkriegsjahre eine sehr schwere Zeit dar.

Am 30. Mai 1945 wurde ich 10 Jahre alt. An dem Tag wäre ich beinahe vor Hunger gestorben; ich lag auf meiner Pritsche, mit mir Tante Maljuscha, und wir hatten überhaupt keine Kraft uns auf den beinen zu halten. Ich weiß nicht, was aus uns geworden wäre, wenn sich nicht dieser glückliche Zufall ereignet hätte. An diesem Tag wurden zum ersten Mal schon so früh die Flüße für den Schiffsverkehr freigegeben., und der Dampfer „Spartak“ legte in Ust-Chantajka an. Mama holte ein paar von Papas Sachen und begab sich damit zum Dampfer, um sie gegen Lebensmittel einzutauschen. Mama hatte riesengroßes Glück, für die Kleidung bekam sie ein ganzes Weizenbrot. Mama umklammerte das Brot mit den Armen und rannte, so schnell sie es mit ihren hungergeschwächten Beinen konnte, zurück in die Baracke. Dort sagte sie: „Töchterchen, Schwesterchen, steht auf, laßt uns Irmotschkas Geburtstag und erstes Zehnjahres-Jubiläum feiern“.

Das war zu jener Zeit das wertvollste Geschenk; wir saßen alle zusammen am Tisch (Oma, Mama, Tante Maljusch, der kleine Witja, Schwester Lisa und ich). Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich jemals wieder so ein leckeres Brot gegessen habe, wie dieses Weißbrot – den Geschmack habe ich mein Leben lang nicht vergessen. Wir aßen es und weinten. Oma, Mama und Tante Maljuscha dankten dem Herrgott, daß er durch unsere Gebete unserem Hunger erhört hatte und wir vor dem Hungertod gerettet wurden.

Es ist sehr bitter sich jetzt wieder an die schweren, kalten und hungerreichen Jahre zurückzuerinnern. Meine Schwester und ich besaßen gemeinsam nur eine einzige wattierte Jacke, und Mama nähte aus alten Sachen Filzstrümpfe mit Sohlen und fand dafür irgendwo auch noch Überschuhe. Nun waren wir eingekleidet und mit Schuhwerk ausgestattet. Aber bei frostigen Temperaturen von minus 40-50 Grad konnte man mit der Kleidung höchstens ganz schnell im Freien den Abort aufsuchen. Sechs Jahre später zog ich zum ersten Mal Filzstiefel an, die Mama für ihre gute und unermüdliche Arbeit verdient hatte, aber von der Größe her konnte nur ich sie tragen.

Das Leben in der Siedlung Ust-Chantajka ging weiter; es kam das Frühjahr des Jahres 1948, als am 8. Juni, während eines schweren Eisgangs und bei starkem Hochwasser, unsere Fischerin Anna Maisinger ums Leben kam. Meine Schwester Lisa (18) wurde zur lebenden zeugin dieses Unglücksfalls. Und so habe ich es, mit ihren Worten, in Erinnerung behalten. Während des großen Eisgangs und Hochwassers auf dem Jenisej wurde für gewöhnlich jeden Tag für den Bedarf unserer Kolchose „Nordweg“ fortgeschwemmtes Holz aus dem Wasser gesammelt. Die Baumstämme aus dem Igarsker Holzkombinat wurden mit Booten bis ans Ufer bugsiert, aber während des Einsgangs war das natürlich eine äußerst gefährliche Arbeit. Die kleine Gruppe mit dem erfahrenen Fischer Wladimir Wolf (22) an der Spitze, Anna Maisinger (22) und Lisa Grosch (18) waren im Boot und hatten bereits ihre Plätze eingenommen: die Mädchen an den Rudern, Wladimir als Steuermann am Heck; als Ausrüstung hatten sie eine Axt sowie eine Hakenstange dabei. Wenn man den Baumstamm mit der Hakenstange erfaßt hatte, mußte er abgeschleppt und ans Ufer gezogen werden. Das ist eine unheimlich schwere Arbeit. An dem Tag hatten sie überhaupt kein Glück. Das Boot war ständig von Eis umgeben. Plötzlich wurde das Boot vom Eis in die Höhe gehoben, und die Drei hatten große Angst, wie lange das Boot wohl noch schwimmfähig sein würde, aber das Unglück nahm seinen Lauf. Als die Schollen anfingen das Boot zusammenzupressen und es anfing laut zu knacksen, schrie Wladimir: Mädchen, w ir müssen uns in Sicherheit bringen! Er ergriff die Axt und sprang zusammen mit den beiden aus dem Boot. Anna kehrte jedoch noch einmal auf das Boot zurück, um ihr Kopftuch und den Gürtel zu holen. Danach befanden sich Lisa und Anna zusammen auf einer großen Eisscholle, die heftig hin und her schaukelte, und es war einfach zu gefährlich länger darauf zu bleiben. Am Ufer hatte sich das Eis bereits wieder in Bewegung gesetzt, als Lisa plötzlich sah, daß das Boot wieder in freiem Wasser schwamm. Lisa schlug Anna vor, das Risiko einzugehen (eine andere Variante gab es nicht), sich über die Eisschollen wieder zum Boot zu begeben. Anna erwiderte kein Wort, während Lisa nicht länger nachdachte, sondern, um ihr Leben zu retten, über das Eis und kleinere offene Wasserstellen davonstürzte. Sie erreichte auch tatsächlich das Boot, wo sie sich sogleich die mit eisigem Wasser gefüllten Stiefel auszog. Kaum hatte Lisa aufgeblickt, als sie bemerkte, daß das Boot erneut von tanzenden Eisschollen eingeschlossen war, und für einen kurzen Augenblick dachte sie, daß nun „mein Tod“ gekommen sei. Aber das Boot begann schnell wieder frei zu schwimmen. Als Wladimir sah, daß Lisa sich im Boot befand, rief er sie zu sich. Zu dem Zeitpunkt befand er sich auf einer Eisscholle, die wie ein Eisberg aussah, und sich in Ufernähe befand. Mit aller Kradt stieß Lisa sich mit Hilfe der Ruder vom Eis ab und schaffte es, bis zum Eisberg zu gelangen. Gemeinsam suchten sie nun die Eisscholle, auf der Anna sich befand; aber die war inzwischen mit der Strömung immer weiter, bereits bis zur Flußmitte, fortgetragen worden. Mal tauchte Anna auf ihrer Eisscholle auf, mal verschwand sie aus dem Blickfeld. Es war für Wladimir und Lisa unmöglich, sich durch die treibenden Eisblöcke einen Weg zu Anna zu bahnen, zumal sie sie inzwischen aus den Augen verloren hatten. Die Retter begriffen, daß sie keine Chance hatten, Anna in dem reißenden Strom der treibenden Eisschollen weiter zu suchen und ihr nachzufahren; dies hätte auch für ihr eigenes Leben ein großes Risiko bedeutet. Wladimir und Lisa, beide durchnäßt und völlig erschöpft fuhren ans Ufer zurück, wo sie ein Lagerfeuer entfachten, um sich aufzuwärmen und den Leuten in der Siedlung mit den Flammen und dem aufsteigenden Rauch ein Zeichen zu geben, daß sie am Leben waren. Als die Menschen in Ust-Chantajka den Rauch bemerkten, verstanden sie, daß noch irgendjemand am Leben war. Da holte Tante Maljuscha trockene Kleidung und ging (3 km) am Ufer entlang, in Richtung auf die Feuerstelle. Natürlich hatten Mama und ich uns wegen Lisa furchtbare Sorgen gemacht, denn sie war auf dieser Fahrt die Allerjüngste gewesen – der Herrgott hatte sie beschützt. Tante Maljuscha brauchte nicht bis ans Lagerfeuer heranzugehen; Wladimir und Lisa, die inzwischen wieder im Boot saßen, fuhren ans Ufer heran, nahmen sie mit ins Boot und schwammen dann alle drei gemeinsam nach Hause. Daß Tante Maljuscha fortgegangen war, hatte kaum jemand bemerkt; deswegen waren alle froh, daß drei Personen in die Siedlung zurückkehrten. Doch als das Boot sich dem Ufer näherte, sahen alle, daß Anna nicht dabei war. Eilig versammelte der Kolchosvorsitzende Iwan Afanasewitsch Moor ein paar junge Leute (unter ihnen auch Peter Zimmermann, Anton Waigel, Andrej Schott, Andreas Neumann u.a.), und dann fuhren sie mit einem großen Boot los, zwischen den Eisschollen hindurch, um Anna zu suchen. Die Jungs kehrten zurück – ohne Anna; sie war ums Leben gekommen. Lida Maisinger, Annas Schwester, konnte ihren Tod kaum verwinden. Allen Bewohner der Siedlung Chantajka ist sie in guter Erinnerung geblieben.

Im Sommer des Jahres 1951 schickte mich der Kolchosvorsitzende I.A. Moor nach Dudinka, um dort für die Ust-Chantajsker Funkzentrale an Funker-Kursen teilzunehmen. In der Siedlung hatten sie Masten mit Leitungen aufgestellt und ein Windaggregat für die Stromversorgung errichtet. An den Häusern wurden Lautsprecher installiert. Als ich die Unterrichtseinheiten beendet hatte, begann ich in der Funkzentrale zu arbeiten. Mein Arbeitstag dauerte von 6 Uhr morgens bis 24 Uhr; außerdem half ich der Buchhalterin der Kolchose, Agatha Golodyschkina (Lang) als Kassiererin. Für diese Arbeit schrieben sie mir als Halbwüchsiger jeden Monat 18 Tagesarbeitseinheiten gut, von denen eine damals einem Wert von etwa 7 Rubel entsprach. Nach mir arbeitete Nikitin in der Funkstation.

Ich wollte so gern lernen, denn meine Schulbildung hatte bisher lediglich 5 Klassen umfaßt. Da beschloß ich (14 Jahre alt) nach Dudinka zu fahren und dort die Abendschule zu besuchen, während ich tagsüber arbeiten konnte. Aber dafür mußte man sich erst nach Potapowo begeben, wo sich unsere Sonderkommandantur befand, um dort die Erlaubnis für den Umzug von Ust-Chantajka nach Dudinka zu erhalten. Aber Kommandant Losew zwang mich zur Umkehr. Bald darauf traf ein bevollmächtigter Vertreter des NKWD bei uns in Ust-Chantajka ein und verkündete, daß wir Deutschen auf immer und ewig hierher verbannt worden seien. Alle weinten – Mütter und auch die jungen Leute. Weswegen hatte man sie so bestraft? Diese Frage versetzte jeden in große Aufregung. Worin lag unsere Schuld? Es gab nur eine Antwort – unsere Schuld lag darin, daß wir Deutsche waren.

In Ust-Chantajka lebten wir 12 Jahre. 1954 riefen uns Verwandte zu sich, und man erlaubte uns den Bezirk Dudinka zu verlassen und in den Jemeljanowsker Bezirk, Region Krasnojarsk (45 km von Krasnojarsk entfernt) zu fahren. So verlief meine gesamte Kindheit und Jugend unter dem stalinistischen Joch. Um dieses für mich perspektivenloses Leben in Rußland hinter mir zu lassen, verließ ich 1996 das Land und lebe seitdem mit meiner Familie in Deutschland.


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