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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Ferne Vergangenheit.

Möge die Verbindung zwischen den Zeiten niemals abreißen“. J.W. Amentistow.

Also, ich fange mit der fernen Vergangenheit an. Eine Verwandte väterlicherseits, Valentina Fjodorowna Siemens (Petri), die in der Stadt Arsamas im Nischegorodsker Gebiet lebte, veröffentlichte in der Zeitschrift „Ogonjok“ ((„Flämmchen“; Anm. d. Übers.), und später auch in der Zeitung „Semljaki“ („Landsleute“; Anm. d. Übers.), einen Artikel mit der Überschrift: „Selbst damals blieben wir Menschen“, welcher einen ganzen Auszug aus der Geschichte der Familie Petri in Rußland enthält. Valentina Fjodorownas Erinnerungen sind äußerst gehaltvoll und ergänzen unser Buch mit wertvollen Informationen über die Familie:

„Die beiden Brüder Friedrich und Johann Petri (beide aus der Umgebung von Zürich) dienten als Kanoniere in der russischen Armee unter dem Feldherrn und Generalissimus Aleksander Wasiljewitsch Suworow (1730-1800). Die Brüder waren offenbar hervorragende Meister ihres Fachs und fanden die Anerkennung Katharinas der Großen, die ihnen mittels ihrer Macht als Monarchin Titel und Auszeichnungen verlieh und ihnen zu Grund und Boden an der Wolga verhalf. Und so wurden wir, die Abkömmlinge heldenmütiger Kanoniere, russifiziert. Meine Mutter stammte aus Kiew. Ich wurde dort in die Familie des roten Kommandeurs Fjodor Petri hineingeboren (er war Wolga-Deutscher), der im Alter von 17 Jahren von zuhause fortlief und sich nach Moskau zum ältesten Bruder begab, um dort an der Revolution mitzuwirken. Dieser Bruder wurde 1936 als Verwandter der Adelsfamilie Petri erschossen. In den Jahren 1937-1938 wurden weitere fünf Abkömmlinge erschossen, und ihre Kinder saßen zwischen 15 und 20 Jahre in Lagern.

So findet sich also in unserem Geschlecht ein einzigartiger Cocktail von deutschem, ukrainischen, holländischen, französischen, usw. Blut. Meine Großmutter war die Urenkelin eines der Schöpfer der siebensaitigen russischen Zigeuner-Gitarre und Autors des ersten Lehrbuchs zum Selbststudium dieses Instruments – Ignaz von Held, ein Deutscher aus Böhmen. Von ihm (und der Gitarre) ist in Pikuls Roman „Favorit“ die Rede, obwohl vieles davon nicht so war, wie es geschrieben steht, aber es ist trotzdem interessant zu lesen. Wenn man berücksichtigt, daß die Umsiedlung der Wolga-Deutschen 1941 auf Grundlage eines geheimen Ukas in aller Eile (und in einer schrecklichern Art zund Weise) durchgeführt wurde und die Menschen ihren gesamten Besitz zurücklassen mußten, nach dem Motto „kommt rein und holt’s euch!“ – wieviele Geheimnisse mögen dann wohl aus Großmutters umfangreicher Bibliothek und der für uns verbotenen Truhe verschwunden sein ..... Übrigens wagte ich es, zu meinem ersten Neujahrsfest in der 8. Klasse (1940, Schule N° 136 in Engels) aus dieser Truhe ihr Ballkleid zu entnehmen, wofür ich im Büro der Kommunistischen Jugendorganisation gehörig ins Schwitzbad genommen wurde; und das habe ich mein Leben lang nicht vergessen. Von meinen beiden Tanten erfuhr ich, daß sie in ihren reifen Jahren große Angst hatten darüber zu sprechen, wieviel unheimliche Wahrheiten die ältere Generation aus lauter Furcht vor dem NKWD und KGB mit ins Grab genommen hatte. Im Alter von 16 Jahren wurde ich dank dieses Ukas selber zur „deutschen Spionin“. Ich durchlief Lagerhaft und Sonderansiedlung; mit 17 Jahren arbeitete ich bei der Erdölförderung in Schimbaj. Dort starben im Winter 1942 in der Baracke jede Nacht zwischen 10 und 15 Personen. Ich hatte Glück. Unsere Einheit wurde mit insgesamt 250 Leuten zur Ziegelfabrik in Sterlitamak verlegt, wo ich Lehm und Zement mit Sand und Wasser verkneten mußte: ich stellte feuerfeste Werkstoffe für Erdbunker und Erdhütten her – mit den Füßen, hungrig, kraftlos und unter dem Geschrei einer Aufseherin mit Engelsgesicht, die auf den Namen Naja hörte: „Beweg dich, Faschistin, sonst schaffst du die Norm nicht!“ Dort habe ich mir meine Polyarthritis geholt; es ist ein Glück, daß ich mit zwei Fingern der rechten Hand noch einen Schreiber halten kann. Übrigens setzte ich mich mit meinen krummen Fingern mitunter ans Klavier. Aber ich will mit meiner eigentlichen Erzählung fortfahren.... Wir, die deutschen Frauen, wurden von russischen Baptisten vor dem Hungertod bewahrt, die ebenfalls der Verfolgung ausgesetzt waren. Und ein tatarischer Arzt, der selber an der Front ein Bein verloren hatte, schaffte es, mir - damals 17 Jahre alt – ein Bein zu erhalten. Ebenso hungrig wie ich, war das Pferd Ignaschka darauf getreten. Das Bein schwoll an, begann zu eitern – amputieren und fertig. In aller Heimlichkeit behandelte er es damals mit einem seltenen Streptozid. Selbst unter unmenschlichen Bedingungen blieben wir Menschen; gute Menschen gibt es immer und überall, auch in den Lagern. Wie wir wissen, waren die Häftlinge verpflichtet anschließend in Sonderansiedlung zu bleiben, und die entsprechenden Orte befanden sich häufig dort, wo auch das Lager stand. Diesen Leuten begegneten mein Mann und ich (er war ebenfalls Rußland-Deutscher, Arzt von Beruf, aber im Lager arbeitete er als Schachtarbeiter, verkühlte sich die Nieren und ließ mich im Alter von 30 Jahren als Witwe mit drei Kindern zurück) in der Taiga und in der Schachtanlage „Woltschanka“; Wie ich bereits sagte, handelte es sich um die Blüte der russischen Intelligenz.

Viele sind einem in der Erinnerung geblieben. Direktor des Kulturpalasts der Schachtarbeiter in der Siedlung (weiter als 5 km durfte man sich nicht von der Siedlung entfernen!) war A.I. Solowjow; er hatte 10 Jahre abgesessen und war Schauspieler am Akademischen Künstlertheater Moskau gewesen. Irgendwie hatte er bei einem Konzert im Kreml einen falschen Witz geäußert. Ich kann mich auch an seine Frau erinnern, die ebenfalls 10 Jahre absaß, eine ehemalige Sängerin am Bolshoj-Theater. Und viele, viele andere ... Wir denken an den Ausbruch des Krieges zurück, der mit einem Schlag dem Leben ganzer Völkerschaften eine andere Richtung gab. Auch die Rußland-Deutschen kämpften gegen den Faschismus. In der Nähe von Tula wurde 1941 mein Vetter, Oberstleutnant Jurij Schmidt, schwer verwundet. Nach seinem Aufenthalt im Hospital wollte et zurück an die Front, aber bei seiner Entlassung schickte man ihn plötzlich nach Hause – aus irgendeinem Grund nach ... Sibirien. Er wußte nicht, daß, während er im Krankenhaus lag, seine russische Ehefrau Nina mit dem vierjährigen Sohn nach Sibirien umgesiedelt worden war, da sie die Ehefrau eines Wolga-Deutschen war. Der kleine Junge starb unterwegs. Bei seiner Ankunft wurde Jurij sogleich vom KGB registriert und 1942 in die Schachtanlagen des Primorje-Gebiets geschickt. Im Sommer 1943 floh er zusammen mit Nikolaj Wolf, der ebenfalls Leutnant und Künstler war, aus dem fernen Bergbau-Ort, nachdem sie vorsorglich ihre Familiennamen (darin war Nikolaj äußerst talentiert) in den Militärpässen in Schmeljow und Wolkow umgeändert hatten. Sie setzten sich in Richtung der Eisenbahn-Magistrale, zum Militärzug, in Bewegung: wie es hieß, hielten sie sich aber vom Regiment fern und fuhren stattdessen geradewegs an die Front. Nina wußte das alles, berichtete mir davon jedoch erst 1972. Jurij Schmidt (Schmeljow) fiel für seine sowjetische Heimat in der Nähe von Budapest, aber wo sich sein Grab befindet, das vermag niemand zu sagen.

Es gibt unter unseren Verwandten auch einen Helden der Sowjetunion, Nikolaj Leonow – ein Deutscher aus der Stadt Balzer (heute Krasnoarmejsk). Er wurde bereits in seiner Kindheit zum Waisenkind, noch vor dem Umsturz im Jahre 1917; sein Vater holte für ihn und seine drei Brüder eine Kinderfrau, ein russisches Mädchen namens Nastja Leonowa, ins Haus. Sie zog die Kinder groß, und Nikolaj nahm noch während des Bürgerkriegs, nach dem Tod seines Vaters, „Mama“ Nastjas Familiennamen an. Weder er noch seine Tante wurden von der Wolga umgesiedelt, denn in ihren Pässen stand „Nationalität: russisch“. Nikolaj Nikolajewitsch kämpfte bei Stalingrad, anschließend in der Nähe von Leningrad, wo er den Heldentod starb. So also lebten und kämpften wir, die Rußland-Deutschen – sowjetische Staatsbürger, die gleich zu Beginn des Krieges durch Stalins Ukas beschuldigt wurden, Helfershelfer und Mittäter der Faschisten zu sein. Aber doch nicht nur wir! Bei wievielen anderen Völkern verhielt es sich ebenso.... Aber trotz aller widrigen Umstände, ich habe es bereits gesagt, blieben die Leute dennoch Menschen und verrohten nicht. Vor 20 Jahren habe ich angefangen, über die Rußland-Deutschen meine Aufzeichnungen zu schreiben.

Ich selbst bin Gesangslehrerin und Chormeisterin mit 35-jähriger Berufserfahrung. Ich habe meine Kinder allein großgezogen und für ihre Erziehung gesorgt“.

Dies sind also die Erinnerungen, die W.F. Siemens (Petri) zu ihrer Zeit aus unserer Familiengeschichte veröffentlichte. Und nun zu mir – Leo Petri.

Ich wurde am 10. August 1926 in der Stadt Balakowo an der Wolga geboren. Wir wohnten dort zwar nicht, aber Papa hatte Mama dorthin gebracht, damit ich dort das Licht der Welt erblicken konnte, denn in unserer Ortschaft Bettinger (Baratajewka) gab es keine ausreichende medizinische Versorgung. Nach meiner Geburt kehrte Mama in unser zweigeschossiges Haus in Bettinger zurück. Meine Eltern gaben mir den Namen „Leo“ zu Ehren von Papas Bruder Leo, der 1916 verstorben war. Er war Offizier der Zarenarmee und kam während der Brussilow-Offensive ums Leben, als er seine Soldaten zum Angriff mobilisierte. Darüber las ich einen Zeitungsartikel, den mir Onkel Karl in Moskau zeigte. Damals war es bis zum Oktober-Umsturz im Jahre 1917 üblich, in den zentralen moskauer Zeitungen die Namenslisten aller gefallenen Offiziere zu veröffentlichen. Im Falle der Soldaten wurden lediglich eine allgemeine Statistik über einen bestimmten vergangenen Zeitraum veröffentlicht. Über Onkel Leos heldenhaftes Verhalten während des Angriffs machte Onkel Karl in einem Brief auch Onkel Leos Freund Mitteilung. In unserer Verwahrung befindet sich auch noch ein Photo von Onkel Leo, auf dem er eine Offiziersuniform trägt.

Man muß dazu bemerken, daß ich den Vornamen „Leo“ als zweites Kind erhielt. Der erste Sohn, der diesen Namen bekam war mein Bruder, der 1920 geboren wurde, jedoch zwei Jahre später, im Jahre 1922, an Scharlach starb. Nach Luft ringend hauchte er in Mamas Armen sein Leben aus. Mama konnte damals in Bettinger nichts für ihn tun – die Medizin war machtlos. Sein großes Fotoporträt hat Mama ihr Leben lang stets bei sich getragen, und nun hängt es zur Erinnerung an Brüderchen Leo und Mamas mütterliche Treue gegenüber ihrem ersten Kind in unserem Haus in Hamburg.

Mein Kindheit begann in der Ortschaft Bettinger an der Wolga, in der ASSR der Wolga-Deutschen. Mein Papa - Otto Iwanowitsch Petri (geb. 1893), Buchhalter bei der landwirtschaftlichen Konsumgenossenschaft, und meine Mama – Olga Alexandrowna Gergenreder (Petri, geb. 1898), Lehrerin – besaßen eine eigene Hofwirtschaft: ein Haus mit Nebengebäuden, ein Pferd, eine Kuh, zwei Jagdhunde – Milton, mit dem man auf Enten ging, und Arenka, mit dem sie Füchse und Hasen jagten, sowie zwei Entenatrappen – als Köder für Wild.

Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennengelernt – sie starben noch vor meiner Geburt. Aus Erzählungen meines Vaters weiß ich nur, daß der Großvater ein sehr starker Mann und Bauer war und aufgrund seiner eigenen Kraft starb: im Frühjahr, als er vom Hof seines Hauses fuhr, blieb er mit der hölzernen Achse seines Leiterwagens, der mit Saatweizen beladen war, am Tor hängen. Ohne lange zu überlegen trat er ans hintere Ende des Leiterwagens hob ihn an und setzte ihn,etwas versetzt, wieder ab. Erst drei Tage später bemerkte er, daß er sich eine Darmverschlingung zugezogen hatte. Man beschloß in die Stadt Wolsk zu fahren, so lange die Wolga noch komplett zugefroren war. Bei der Überfahrt brach der angespannte Schlitten im dünnen Eis ein; der Großvater stieg aus und hob den Schlitten auf eine Eisscholle. Es gelang den Ärzten in Wolsk nicht, das Leben des Großvaters zu retten.

Die Großmutter aus derselben väterlichen Linie war eine große, korpulente und machtvolle Frau. Meine Mutter schwieg stets in ihrer Anwesenheit und erledigte all ihre Anweisungen. Dieses Merkmal des großmütterlichen Charakters spielte im Jahre 1921 eine große Rolle, als an der Wolga eine schreckliche Hungersnot wütete und eine Cholera-Epidemie ausbrach, die Menschen massenweise starben und unzählige Leichen in den Straßen lagen. Damals herrschte unter Großmutters Regie im Hause und innerhalb der Familie ein ehernes Gesetz: alles, was zum Haus gehörte, mußte mit kochendem Wasser überbrüht werden, ganz egal, ob es sich um Lebensmittel, Kleidung oder irgendwelche anderen Materialien handelte. Alles wurde mit kochendem Wasser übergossen. Das Ergebnis lag auf der Hand – niemand aus der Familie erkrankte an Cholera, das ganze tragische Geschehen ging an der Familie vorüber. Das war das Verdienst meiner Großmama, Papas Mutter. Als sie gestorben war, wurde der Sarg von 8 Männern getragen, weil er so schwer war.

Mein Großvater mütterlicherseits, Alexander Gergenreder war in der ASSR der Wolgadeutschen Handelsvertreter der österreichischen Nähmaschinenfirma „Singer“. Seine Familie mußte in diesem Zusammenhang innerhalb der Deutschen Republik häufig von einer Stadt in eine andere umziehen. Zuhause erledigte er gern Tischlerarbeiten. Er selbst fertigte in den 1930er Jahren eine rote Truhe an, die uns gute Dienste leistete und mit uns alle sibirischen Umzüge, das Tajmyr-Gebiet und Moskau „durchlief“ und zum Schluß, in bereits zerlegtem Zustand, in der Siedlung Tolmatschowo bei Moskau in Gestalt von Brettern endete.

Meine Großmama mütterlicherseits, oder wie wir Familienmitglieder sie alle liebevoll nannten – „Großmama“ – war eine sehr gutherzige und fleißige Frau. Sobald sie Papa im Juni 1938 verhaftet hatten, verließ sie unverzüglich die Stadt Engels und traf bei uns in Astrachan ein, um Mama mit Geld auszuhelfen – sie fing an, aus alten Sachen Kinderkleidung zu nähen und diese anschließend auf dem Trödelmarkt zu verkaufen. Ihr Warenhandel lief ausgezeichnet, denn ihre Nähereien waren von hoher Qualität; die Leute warten schon darauf, daß sie am nächsten Tag wieder auf den Basar kam, um die Sachen zu verkaufen. Großmama starb 1956 in Onkel Arthurs Familie in der Siedlung Rosa (Korkino). Wir haben die Großmama alle sehr geliebt; sie ist immer voll für die Familie da gewesen, war stets bemüht, es allen recht zu machen, buk für uns immer alle möglichen leckeren Kuchen. Von ihr hat meine Mama vieles übernommen, und von Mama – meine Frau Witja.


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