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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Papas Verhaftung. Brief an die Herzengasse, Haus N° 5.

Aber der damals im Lande herrschende Terror ging trotzdem nicht am astrachaner Leben unserer Familie vorbei: am 13. Juni 1938 wurde in unserem Haus in der Herzen-Gasse 5 in Astrachan mein Papa Otto Petri (geb. 1893) verhaftet. Von 2 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens fand in den Zimmern, im Hof und der Scheune eine Haussuchung statt. Konfisziert wurden ein Jagdgewehr der Marke „Sauer“ samt Zubehör und der goldene Familienschmuck; ferner wurde eine Bestandsaufnahme des gesamten Hauses gemacht (danach besaß Mama nun nicht mehr das Recht, irgendetwas davon zu verkaufen). Durchgeführt wurden die Verhaftungsaktion und die Haussuchung von einem Offizier sowie einem Soldaten der Astrachaner NKWD-Gebietsbehörde. Alle beschlagnahmten Gegenstände wurden in einem Sack verstaut, und dann zwangen sie Papa, ihn bis ins Gefängnis zu tragen. Bis heute habe ich diesen Anblick, der sich mir während der Verhaftung bot, klar vor Augen: ein Offizier verlas den Haftbefehl – „.... auf Anordnung .... Petri, Otto Iwanowitsch, Deutscher, geboren 1893, ist zu verhaften....“. „Wen möchten sie als Zeugen haben?“ – „Meinen Nachbarn Alexander Afanasjewitsch Piwzow“, - antwortete Papa. Als er das Haus verließ waren seine letzten Worte: „Ljowuschka, hör auf die Mama!“ – In der Situation brachte Papa mit diesen drei Worten zum Ausdruck, dass er den Glauben an jedwede Gerechtigkeit verloren hatte und dass man ihn nicht wieder nach Hause zurückkehren lassen würde.

Im Oktober jenes Jahres 1938 wurde Papa als „deutscher Spion“ erschossen; 1956 wurde er posthum aus Mangel an Tatbeständen rehabilitiert. Papas unverschuldeter Untergang wirkte sich stark auf Mamas Gesundheit aus, aber ich unterstützte sie durch mein fleißiges Lernen. Wenn ich in der 5. Klasse von einer der üblichen Prüfungen nach Hause zurückkehrte und an die Tür klopfte, dann fragte Mama stets: „Wer ist da?“ – Und ich antwortete: „Sehr gut!“ Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich jemals „gut“ sagte. Wieviel Tränen vergoß Mama damals jeden Tag, wenn sich der Uhrzeiger auf 5 Uhr abends zubewegte und der Vater normalerweise von der Arbeit heimgekommen wäre. Im Sommer hatte ich ihn oft um diese Zeit an der Straßenbahn-Haltestelle „Bolschie Issady“ beim Fischgeschäft abgeholt, und natürlich kaufte er mir dann mein geliebtes „Eskimo“-Schokoladeneis am Stiel für 60 Kopeken; und anschließend tranken wir noch für 10 Kopeken leckeren, kalten „bayerischen“ Kwas. Manchmal, wenn er von der Arbeit gekommen war, begann der Vater mich argwöhnisch zu umkreisen. Nach dem Abendessen nahm er mein Hausaufgabenheft und sagte, während er die Noten betrachtete: „Für dein gutes Lernen, Ljowuschka, hast du dir ein Reißzeug verdient“. In jenen Jahren war das ein wertvolles Geschenk für einen Schüler der vierten Klasse. Dieses Zeichenbrett leistete mir während der gesamten Schulzeit, in den Studentenjahren und während meiner Aspirantur gute Dienste. Papa hatte zwei Zeitungen abonniert – die zentrale „Iswestija“ und die Lokalzeitung „Der Kommunist“.

Noch bevor ich zur Schule kam, hatte Papa es immer sehr geliebt, mir A.S. Puschkins Märchen und deutschsprachige Gedichte von Schiller vorzulesen. Bei uns zuhause hatten wir ein Grammofon mit einer großen Auswahl Schallplatten (ich kann mich an eine von ihnen erinnern – darauf gab es ein Lied mit dem Wortlaut: „Am Samowar singen Mama und ich laut ein Lied, draußen ist es schon dunkel“) sowie den damals besten Rundfunkempfänger SWD-4, den Onkel Kolja uns aus Moskau geschickt hatte. Papa liebte klassische Musik. Ich weiß noch, wie im Sommer 1937 das Moskauer Staatstheater für Oper und Ballett in Astrachan zu einer Gastrolle eintraf – mit Stanislawski an der Spitze, und meine Eltern besuchten damals das gesamte Programm, das im Rahmen dieser Gastrolle gespielt wurde. Die Vorstellungen fanden im besten Sommertheater der unteren Wolga, im „Arkadii“, statt. Es ist sehr schade, dass dieses Meisterwerk der Holzbaukunst in den 1960er Jahren während eines Feuers vollständig niederbrannte und bis heute nicht wieder aufgeabut wurde.

Papa war sehr naturverbunden und ein erfolgreicher Fischer und Jäger. Seinen gesamten Urlaub nahm er im Oktober, wobei er es so einrichtete, dass der letzte Urlaubstag auf den Vorabend der drei Tage dauernden Oktoberfeierlichkeiten fiel. „Man muß sich ein wenig von den Vorgesetzten entfernen, und lieber etwas näher an der Küche bleiben – W. Terkin“. A.T. Twardowskij. In dieser Zeit war an der Wolga-Mündung der Fischfang mit Netzen und die Jagd auf Wasservögel erlaubt. Mit unserem kleinen Motorboot fuhren Fjodor Fjodorowitsch Klein, Smirnow – einer von Papas Arbeitskollegen – und Papa selbst zu dritt über die kleinen Flüßchen in Richtung Meer. Nach der für gewöhnlich erfolgreichen Rückkehr nach Hause wurde Mama dann die größte Arbeit zuteil – die Fische mußten möglichst schnell geräuchert, Enten und Gänse verarbeitet werden. Die in unserem Ofen auf feinsten Holzspänen heiß geräucherten Karpfen waren lange haltbar und schmeckten wunderbar. Auch die Vögel wurden geräuchert. Unser gesamtes Bettzeug war ausschließlich mit Daunen gefüllt (1941 tauschte Mama sie in Sibirien gegen Kartoffeln und Mehl ein).

Mama machte sich nach Papas Verhaftung ihr ganzes restliches Leben lang Vorwürfe, dass sie, in Anbetracht der damals im ganzen Lande und in Astrachan auch an Nachbarn und Mitarbeitern von „Jeschows Handlangern“ durchgeführten Massenverhaftungen (besonders von Personen deutscher Nationalität, wie beispielsweise der Buchhalter Munz, der Hauptbuchhalter der Astrachaner Handelsbehörde Klein u.a.), nicht noch ein drittes Mal an einen anderen Wohnort umgezogen waren! Hatten sie Papa gegenüber vielleicht Mitleid gehabt – wegen seines Eigentums, seines Hauses, seinem Motorboot u.a.? Oder waren die frühere Seelenstärke und das Gefühl, herannahende Gefahren rechtzeitig zu erkennen, derart abgestumpft? Ich kann mich noch gut daran erinnern (ich war damals 12 Jahre alt), wie meine Eltern sich über dieses Thema unterhielten. Papa sagte damals: „Ich kann wohl verstehen, dass wir in aller Heimlichkeit aus Bettinger fortgegangen sind, denn als Besitzer eines Pferdes und einer Kuh hätten sie uns „entkulakisieren“ und an jeden beliebigen Ort verschleppen können. Aber jetzt – wofür sollten sie mich denn verhaften, mich, einen ehemaligen ordentlichen Beamten im Staatskontor der Fischbranche? Ich habe mich vor dem Staat keines einzigen Verbrechens schuldig gemacht!“ Papa konnte sich nicht vorstellen, dass man einen unschuldigen Menschen verhaften könnte. Von seiner „Schuld“ ein Deutscher zu sein war damals, in den 1930er Jahren, in der Sowjetpropaganda überhaupt keine Rede, um so mehr, als sich, wie man weiß, zwischen der Politik Stalins und Hitlers eine Annäherung vollzog. All das zusammengenommen hatte Papas „Wachsamkeit“ in puncto Familie abgestumpft. Später dann, nachdem Papa nicht mehr da war, wurden Mama und ich, ebenso wie Millionen anderer Menschen, unschuldig (!) aus politischen Motiven und aufgrund unserer Nationalität repressiert. Nach Papas Verhaftung begann für Mama und mich ein sehr schweres Leben. Mama fand eine Arbeit als Stickerin bei der Invaliden-Genossenschaft und nahm zudem heimlich Arbeiten auf Bestellung für Zuhause an – zum Besticken von Hemden, kurzen Frauenjacken u.ä. Die Tätigkeit zuhause mußte sie in aller Heimlichkeit ausführen, um der Steuerkontrolle zu entgehen, welche von allen sehr gefürchtet wurde. Das kleine Motorboot und noch einige Sachen wurden verkauft. Und ich besuchte weiter in die Rosa-Luxemburg-Schule und den Pionier-Palast.

Das Leben in der Sowjetzeit machte Mama zu einem großen Angsthasen: Bürgerkrieg, Hunger, Verstaatlichung, Kollektivisierung, Entkulakisierung, Industrialisierung und Papas Verhaftung hinterließen ihre Spuren. Nachdem Mama all diese „Geschenke“ des im Aufbau befindlichen Sozialismus durchlaufen hatte, reagierte sie auf das nächtliche Klopfen an der Tür im Oktober 1938 äußerst verängstigt und ließ sich an der geöffneten Tür nicht auf ein Gespräch mit dem Mann aus dem Gefängnis ein. Nur durch eine schmale Ritze im Tor erfuhr sie von ihm, dass Papa gestern, am 20., erschossen worden war. Am nächsten Morgen erzählte Mama mir von dem nächtlichen Besucher. Meinen Papa gibt es also nicht mehr. Wie sollte es nun weiter gehen? Wie sollten wir in Anbetracht des niedrigen Einkommens und Mamas schwächlicher Gesundheit weiterleben? Eine Zeit lang fand in meinem Inneren ein Kampf mit meiner Umgebung statt. Papas Tod verlangte von mir Rache, ich wollte ausbrechen, irgendetwas zerstören, vernichten, verbrennen, erschießen, etwas ähnliches tun. Das war mein innerer Protest gegen den Untergang des Menschen, der mir in meinem Leben am nächsten gestanden hatte. Ich zerschoß mit einer Schleuder ein paar Straßenlaternen, eine mächtige Lampe im Dienstraum der Bezirksfeuerwehr, kletterte in den Vorführraum des Sommer-Kinotheaters am Ufer des Kutum und entwendete die gesamten optischen Einzelteile des Projektors. In mir war alles am Kochen; mein Protest kannte keine Grenzen. An der Bootsstation plünderte ich die aus Buntmetallen bestehenden Einzelteile der Motoren und gab sie bei der Altmaterialsammlung ab.

Dieser Ausbruch an Zerstörungswut endete im Herbst, als ich wieder regelmäßig zum Pionierpalast ging und dort Modelle anfertigte. Der Leiter des Kurses, Ingenieur Golubzow, organisierte einige Exkursionen zu den astrachaner Schiffbau- und Schiffsreparatur-Werken.
Unser Haus in Astrachan mit den drei Fenstern in der „Herzengasse 5“, das Papa am 13. Juni 1938 zum allerletzten Mal mit den drei Worten verlassen hatte: „Ljowuschka, hör’ auf die Mama!“ – wurde für unsere Familie zum ersten GEHEILIGTEN Ort. Jedesmal, wenn Witja und ich von Moskau nach Astrachan fuhren, besuchten wir diesen für uns heiligen Ort. Und, um diese Heiligkeit fortzusetzen, beschloß ich, mich an den jetzigen Besitzer unseres damaligen Hauses zu wenden. Ich schrieb ihm einen Brief mit folgendem Inhalt: „Hoch verehrte Familie (verzeihen Sie – ich kenne Ihren Nachnamen nicht), die Sie im Hause N° 5 in der Herzengasse in Astrachen wohnen! Es schreibt Ihnen der Sohn des früheren Hausbewohners Otto Iwanowitsch Petri (eine Notiz darüber müßte sich im Hausbuch finden), der in diesem Hause am 13. Juni 1938 schuldlos verhaftet, am 20. Oktober 1938 erschossen und am 31. Dezember 1956 vom Militärgericht aus Mangel an Tatbeständen posthum rehabilitiert wurde. Mein Name ist Leo Ottowitsch Petri. Mit nunmehr 84 Jahren halte ich es für meine Pflicht (da die Grabstelle meines Vaters nicht bekannt ist – vermutlich wurde er in einem Massengrab nahe der damaligen städtischen NKWD-Behörde bestattet), den Ort aufzusuchen, an dem er das Haus unter Wachbegleitung verließ, seine letzten Spuren am Haupteingang hinterließ, indem er die Worte sprach: „Ljowuschka, hör’ auf die Mama!“
Das waren die Worte eines Mannes, der annahm, dass er niemals wieder hierher zurückkehren würde, denn damals, in den 1930er Jahren, wüteten die Bolschewisten und der stalinistische Terror verübte seine Grausamkeiten. Papa verschwand für immer, aber Sie haben das Andenken an jenen Ort gewahrt – Sie haben das Haus renoviert und sein vorheriges Aussehen erhalten. Dafür gilt Ihnen mein herzlicher Dank. Es ist für mich ganz wichtig, dass es eine Erinnerung an den Ort gibt, an dem er seine letzten Schritte tat, wo man, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, einen Blumenstrauß niederlegen oder wohin man einen Brief adressieren kann. Ich übersende Ihnen unser Buch, in dem die Verhaftung des Vaters beschrieben wird. Als Beweis dafür, dass ich in diesem Hause tatsächlich gewohnt habe, schauen Sie sich einmal die Toilettentür im Hof an: im Holz der Tür steckt eine Bleikugel, die dorthin gelangte, als ich einmal mit meinem Luftgewehr das Schießen übte. Papa lehrte mich, treffsicher damit zu schießen (denn er selbst war leidenschaftlicher Fischer und Jäger). Sehen Sie sich die Tür an, und Sie werden die kleine Kugel finden. Ich schicke Ihnen auch meine Visitenkarte mit meiner Adresse und Telefonnummer. Melden Sie sich – ich werde mich sehr darüber freuen. Meine Mutter Olga Alexandrowna Petri hat dieses Haus 1941, unmittelbar vor Kriegsausbruch, verkauft. Sie starb 1976 und liegt in Moskau auf dem deutschen Friedhof begraben. Ich bin mit der Familie meines Sohnes 1994 nach Deutschland ausgereist. Ich bitte Sie sehr herzlich, am 20. Oktober, dem Tag an dem mein Vater im Jahre 1938 erschossen wurde, einen Blumenstrauß an der Schwelle der Eingangstür niederzulegen. Mit diesem Schritt helfen Sie mir, die letzte Pflicht vor meinen Eltern zu erfüllen. ZUM WIGEN GEDENKEN AN PAPA.

P.S. Im Hof des Hauses baute mein Vater 1936 ein Motorboot, das meinen Namen „Leo“ trug, das später an der Bootsstation im Stadtzentrum, gegenüber dem städtischen Wärmekraftwerk am Fluß Kutum, lag. Papa arbeitete als Oberbuchhalter bei der „Fisch-Verkaufsgenossenschaft des Nördlichen Kaspischen Meeres“ und ich schwamm mit seinen Freunden an der astrachaner Provinzstadt „Zarew“, an Jeriki vorbei, den Unterlauf der Wolga entlang, bis wir schließlich das Meer erreichten. Das waren für unsere interessante Fischerjahre. Falls ich es aus gesundheitlichen Gründen nicht schaffen sollte Sie zu besuchen, so bitte ich Sie von Herzen, an der Tür ein Blumenbouquet niederzulegen und mir dann zu schreiben oder mich anzurufen.

Mit freundlichen Grüßen – Ihr L.O. Petri. Schreiben Sie, rufen Sie an. Hamburg – Deutschland.

Mutters und mein Leben begann Onkel Karl in Moskau zu interessieren. Nach dem Tode seiner Ehefrau, Tante Maschenka, im Jahre 1938, heiratete Onkel Karl ein zweites Mal – Tante Kata, die zuvor bei ihm als Hausangestellte gearbeitet hatte. Onkel Karl beschloß uns zu helfen – er wollte mich bei sich aufnehmen und meine weitere Erziehung übernehmen. Mama hatte nichts dagegen. Onkel Karl war nicht reich, denn er war als Geiger im Symphonie-Orchester im Kinotheater „Wostokkino“ tätig (etwa 30 Musiker), das sich auf dem Swerdlow- (Theater-) Platz befand.


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