Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Aspirantur am Moskauer Institut für Energiewirtschaft

Der Konzern „SibElektroMontage“ in Nowosibirsk führte häufig interessante Tagungen des technischen Rats durch. Während einer dieser Sitzungen im Jahre 1962 sprach der Dekan der elektrotechnischen Fakultät des Nowosibirsker Instituts für Elektrotechnik W.M. Natotschin die Einladung aus, aus den Reihen der Meister oder Vorarbeiter eine zielgerichtete Aspirantur am Moskauer Institut für Energiewirtschaft zu absolvieren; dabei sollte das Alter der Anwärter aber nicht höher als 35 sein. Witja und ich griffen diesen Vorschlag sogleich auf. Wenig später erhielt W.M. Natotschin im Ministerium für höhere Bildung der RSFSR die Erlaubnis, mich für dieses Vorhaben auch noch mit 36 Jahren dorthin schicken zu dürfen. Natürlich war es jammerschade, die hiesige interessante Arbeit verlassen zu müssen, bei der ich für die Bearbeitung von noch imBau befindlichen Projekten so gutes Geld verdient hatte. Und das ist nicht verwunderlich, denn es handelte sich dabei vor allem um langwierige Projekte, die nicht immer den zeitgemäßen Anforderungen im Hinblick auf Elektroinstallationen und deren Nutzung entsprachen. Alle Verwandten, außer meinen und Witjas Mama, waren gegen diese Idee – drei ganze Jahre in Moskau leben, getrennt von der Familie? Aber ich wurde in meinen Überlegungen von meinem Vetter, Professor Viktor Petri, bestärkt, der mich auf meiner Reise nach Moskau, mit Zwischenlandung in Swerdlowsk, aus dem Flugzeug geholt und mir seine Überzeugung vom Erfolg des Studiums während der Aspirantenzeit eingeredet hatte. Er hatte mich dazu überredet, dass ich unbedingt Wissenschaftler werden müsse, um weiterhin an der Universität mit Studenten im wissenschatlichen Bereich arbeiten zu können. Aus unserer Elektromontage-Verwaltung kamen insgesamt drei aus den Reihen der Vorarbeiter, die gerne eine Aspirantur absolvieren wollten, aber schließlich fuhr ich ganz allein, den die anderen hatten deren Ehefrauen nicht fortlassen wollen. Die Jungs beneideten mich und stellten Witja als Vorbild hin, die weit in die Zukunft vorausschaute und mir Vertrauen schenkte. Aufgrund ihres Verhaltens ist der „SibElektroMontage“-Konzern Witja während dieser drei Jahre immer wieder entgegengekommen und hat ihr zweimal im Jahr einen Reiseschein zur Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft oder zu einer Dienstreise zum Erahrungsaustausch mit der Moskauer Filiale bewilligt, damit wir die Möglichkeit hatten uns wiederzusehen. Auch ich fuhr zweimal im Jahr (im Sommer und zu Neujahr) nach Krasnojarsk, und im Winter fuhr ich dann mit Witjuschka und Walerik auf Skiern zum Naturschutzpark „Stolby“. Ich wurde als Aspirant am Lehrstuhl für „Arbeitsschutz“ angenommen, dessen Leiter der Dozent der technischen Wissenschaften, Professor Alexander Ananewitsch Truchanow, war. Mein wissenschaftlicher Leiter wurde der Doktor der technischen Wissenschaften und Dozent Arsenij Iwanowitsch Kusnezow, und ein Jahr später, als dieser in Pension ging, nahm seine Stelle der Doktor der Wissenschaften und Dozent Nikolaj Wjatscheslawowitsch Schipunow ein. Die Aspirantur hinterließ in unserem Leben einen unvergeßlichen Eindruck. Ich spreche nicht von der Arbeit – der wird ein gesonderter Artikel gewidmet sein. Ich meine das Leben überhaupt. Mir wurde ein Platz im Wohnheim zur Verfügung gestellt, und zwar im vierten Block, in der dritten Etage. Es war das Zimmer Nr. 67, gedacht für zwei Bewohner. Mein Nachbar war Luzius Gans (geb. 1938), der die Universität in der DDR abgeschlossen hatte; wir beide wohnten von Oktober 1962 bis Oktober 1966 freundschaftlich zusammen. In unserem Zimmer gab es zwei Schlafstellen, zwei Schreibtische, einen Kleider- und einen Geschirrschrank sowie ein Büchergestell. Auf derselben Etage befanden sich die Gemeinschaftsküche, ein Erholungsraum und eine Gemeinschaftstoilette. Im ersten Stockwerk gab es einen Erfrischungsraum und einen gemeinschaftlichen Duschraum. Für mich war alles unheimlich interessant – sowohl die mich umgebenden jungen Leute aus zahlreichen Ländern des sozialistischen Lagers, als auch die veranstalteten nationalen Feiertage, die aufgrund ihrer Farbenpracht und Fröhlichkeit ganz besonders aufregend waren. In unserem Zimmer kamen normalerweise Deutsche zusammen. Am Moskauer Institut für Energiewirtschaft waren in jenen Jahren insgesamt 600 Aspiranten, die in den Blocks 4 und 5 des Studentenstädtchens untergebracht waren. Die Bettwäsche wurde einmal wöchentlich gewechselt, die Wohnkosten betrugen pro Monat 3 Rubel. Als Stipendium bekam ich 1000 Rubel plus gelegentlich je 500 Rubel für meinen Arbeitsvertrag am Lehrstuhl. Später verteilten sie einmal pro Quartal ein sogenanntes Buchgeld in Höhe von 100 Rubel, das zum Kauf von neuer technisches Literatur verwendet werden sollte. Sobal N.W. Schipunow mein neuer wissenschaftlicher Leiter geworden war, wurde sehr schnell das Thema meiner zukünftigen Dissertation definiert – „Die kontaktlose Schutzschaltung“. Das war damals ein ganz neues wissenschaftliches Problem, das mit der Zuverlässigkeit und Langlebigkeit von Elektroinstallationen in Salzbergwerken stand. Ich besuchte Vorlesungen bekannter gelehrter Autoren für theoretische und allgemeine Elektrotechnik, Relaisschutz, elektrische Geräte und elektrische Sicherheit sowie Lektionen im Abendkurs der energetischen Fakultät, die von Ingenieur N.S. Mowsesow, Ingenieur bei der Hauptverwaltung für Elektromontagen, gehalten wurden. Ich nahm an sämtlichen wissenschaftlichen Konferenzen in Moskau und Leningrad auf dem Gebiet der Elektrosicherheit teil. Ein mir sehr nahestehender Freund und Ratgeber war der Doktor der technischen Wissenschaften – Professor Pjotr Aleksejewitsch Dolin, der aus der Nähe von Saratow an der Wolga stammte. Professor A.A. Truchanow lud die Dozentin T.P. Marusowa und den Dozenten N.W. Schipunow immer zu sich zum Teetrinken ein. Viele Jahre lang war Aleksandra Wasiljewna Lawrowa Sekretärin am Lehrstuhl – sie war die Seele des gesamten Kollektivs, die uns alle damals mit stark defizitären Theaterkarten versorgte. Es gelang ihr sogar Karten für ein Konzert des Moisejew-Ensembles im Tschaijkowsky-Saal in der 2. Reihe zu bekommen. Diese Karten schenkte ich zum 8. März Elsa und Onkel Mischa, die sich damals riesig darüber freuten. Sobald Witja und ich voneinander getrennt waren, begannen wir einen sehr aktiven Schriftwechsel und brachten damit den „Luftpostverkehr von Sibirien nach Moskau und umgekehrt“ in Schwung. Es ist sicher schwer zu glauben, aber im Verlauf von drei Jahren schrieben wir uns jeden Tag einen Luftpostbrief. Unten am Eingang zu unserem 4. Block, am Schalter des Diensthabenden, fand ich immer meinen täglichen Brief. Es war sogar interessant eine Einschätzung vorzunehmen, wie das Luftpostsystem arbeitet. Für gewöhnlich traf er am 2. oder 3. Tag bei mir ein. All diese Brief haben wir aufbewahrt, und nun warten sie, nach mehr als vierzig Jahren, auf ihre Aufarbeitung. Mit ihrer Hilfe kann man alles über die damalige Lebenslage in Moskau und Sibirien erfahren.Meine Mama in Krasnojarsk war keineswegs ungehalten, daß ich zur Aspirantur nach Moskau reiste. Sie lebten zu dritt wohlbehalten in der neuen Wohnung. Witja war bereits, als ich noch dort war vom Konzern „SibElektroMontagen“ zur Hauptbuchhalterin der Verwaltung des Arbeitsleiters, der UNR-436, ernannt worden. Das bedeutete eine große Ehre und Freude.

Im Februar 1963 verkündete mein Gans, daß die deutsche Landsmannschaft beschlossen hätte, eine Faschingsfeier (einen fröhlichen Karneval) zu veranstalten. Tatjana Pawlowna, die Kommandantin unseres Wohnheims, erlaubte uns, für diesen Zweck den Erholungsraum zu benutzen. Die Deutschen Jungs machten sich aktiv an die Festtagsvorbereitungen. Gans bekam eine Aufgabe gestellt: er sollte mit Hilfe eines Fäßchens und einem Stück Papier in der Faßöffnung die entblößte und mit aufgelösten Haaren auf einem Rheinfelsen sitzende Loreley darstellen, an die sich von unten der Teufel heranschleicht. Das Abbild der Schönen sollte mit einer elektrischen Glühbirne im Innern des Fasses beleuchtet werden, auf dessen Boden das aus Pergament gefertigt Bild lag, welches man dann durch das Spundloch anschauen konnte. Der ganze Saal wurde mit Tapeten beklebt, auf die die Wände eines halb zerstörten Kellers mit menschlichen Fußspuren gezeichnet waren, die auf den Boden gemalt wurden und sich hinter den Gitterfenstern des Kellergewölbes verloren. Überall Ratten – in kunstvoller Weise aus Pappmaché hergestellt. In der Ecke brennt ein Lagerfeuer (eine rote Lampe mit Ventilator und züngelnden Flammen aus Papier). Die ganze Beleuchtung fand im Hintergrung statt, das heißt die Lampen wurden hinter den Rückenlehnen der Sessel und Diwane aufgestellt. Es gab Musik, Tanz und leichten Wein. Anstifter für diesen Festtag war der Ehemann der Sekretärin der Botschaft der DDR in Moskau gewesen, die ebenfalls eine Aspirantur durchlief. Entlang den Wänden wurden, anstelle von Stühlen, 2-3 Schichten aus den Betten entfernter Matratzen ausgelegt. Auf ihnen konnte man bequem zusammengekauert sitzen. Bekleidet waren alle mit den schlechtesten, verschlissensten Sachen, die sie besaßen, damit sie sich damit ungehindert auf dem Boden herumwälzen konnten; allerdings trug dies auch gewisse Anzeichen von Humor in sich. Gans hatte sich beispielsweise einen schönen Affen auf sein T-Shirt gemalt, der sich an seinem Hals festhielt, als würde er ihn umarmen. So entstand beim Tanzen ein Dreigespann. Eine derart fröhliche Maskerade bekam ich damals zum ersten Mal zu sehen.

Für die Vertragsarbeit im Salzbergwerk während der Studienzeit mußten N.W. Schipunow, T.P. Marusowa und ich uns zweimal im Jahr auf Dienstreise in die Karpaten-Stadt Soltino begeben, die am Ufer des Grenzflüßchens „Tiza“ lag. Es handelt sich um die Staatsgrenze zu Ungarn, unweit der Stadt Mukatschewo. Unser dortiges Erscheinen wurde sogleich von dem einzigen in der Stadt (10.000 Einwohner) zu findenden Milizionär registriert. Hier lebt ein mehr als rechtschaffenes Volk. Seine bislang letzte Tätigkeit hatte der Milizionär verrichtet, als man einige Jahre zuvor einen aus Jugoslawien geflüchteten Gefangenen gefaßt hatte. Schon anhand seiner Leibesfülle ließ sich unschwer erkennen, daß er keine Arbeit hatte. Und das ist auch gut so. Die Bevölkerung lebt ruhig und zufrieden, es gibt kein Rowdytum, niemand trinkt übermäßig viel, sie stehlen nicht – sie bringen nur ihre Kinder zur Welt. Der Salzschacht wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf Salzvorkommen mit einem 80%igen Ablagerungsgefälle errichtet. Deswegen besitzt er sogenannten Tiefencharakter (bereits 800 m tiefer als der Abbauraum). Das Salz ist von hoher Qualität und wird in erster Linie für Lebensmittelzwecke verwendet. Die Förderung des Salzes erfolgt durch das Absprengen 2 m dicker Wandbrocken. Die alten Abbauräume stellen riesige unterirdische Säle mit einer Höhe von 30 m dar. Auf Schmalspurstrecken fahren elektrisch betriebene Loren mit angehängten Waggons, die das Salz am Förderschacht abliefern; anschließend gelangen die Wägelchen mit einem Lift nach oben in die Fabrik, in der das Salz lebensmittelgerecht verarbeitet und zu ein Kilogramm schweren Päckchen verpackt wird. Die Einwohner von Solotvino bildeten einen kleinen ungarischen Bezirk plus ein rumänisches Städtchen, und sie waren sehr musikalisch. Sie besaßen 8 Symphonieorchester mit jeweils 20-30 Amateuren, die darin spielten. Aufgrund unserer Neugier gingen wir jeden Abend in ihren Klub und sahen ihren Tänzen zu. Uns fiel auf, daß Mädchen ohne Kavalliere stets mit ihren Müttern und Großmüttern kamen. Auf der Bühne spielte ein großes Orchester; es stellte sich heraus, daß es ein Problem für uns war, sich in einem der Orchester anzumelden, denn es gab keine freien Plätze mehr – sie waren alle voll besetzt. Wir waren mit den musikalischen Tanzabend sehr zufrieden. Man wird vor allem auf die hohe Disziplin und das kultivierte Benehmen der jungen Leute aufmerksam. Für die Miliz gibt es hier tatsächlich überhaupt nichts zu tun. Unsere Dienstreise fiel mit der Osterzeit zusammen, und deswegen waren wir am Abend in der Familie des Haupt-Ingenieurs der Salzschachtanlage und seinem Söhnchen Otto („Otik“, 3 Jahre alt) eingeladen. Uns interessierte weniger der ungarische, als vielmehr der deutsche Vorname des Kleinen. Sein Vater gab dazu folgende Erklärung: „Ungarn ist ein kleines Land, es grenzt an Deutschland, und wer weiß schon, was mit den beiden Ländern in ein paar Jahren sein wird; Ungarn hat nicht nur einmal unter deutscher Herrschaft gestanden – und für diesen Fall könnte der deutsche Vorname meines Sohnes hilfreich sein. Die Ungarn haben nichts gegen deutsche Namen. Mein Sohn hat also seinen Namen sozusagen „mit Berechnung“ erhalten“. Die Gastgeber bewirteten uns mit warmen ungarischen Gerichten und schmackhaftem Wein. Sie erzählten uns, daß eine Strecke des Schachts noch einen zweiten Ausgang zur rumänischen Seite hätte, wo unterhalb der Strecke, in einer Tiefe von 600 m, die Staatsgrenze zwischen der UdSSR und Rumänien verlief, welche von Grenzsoldaten beider Staaten bewacht würde. Diese Ausfahrt war als Notausgang im Falle eines Feuers, bei akuter Einsturzgefahr oder Überflutung vorgesehen. Im Schacht führten wir eine Reihe elektrotechnischer Messungen in puncto Kabelstärke und Beleuchtungsnetz, Arbeiten zur Installation einer Schutzabschaltung und Widerstandsmessungen am Isoliernetz durch. Vom Arbeitsprogramm her unterschieden sich die Sommer-Dienstfahrten nach Solotvino nicht von denen, die zur Winterzeit anstanden, wenngleich die Feuchtigkeitsmeßwerte erheblich höher ausfielen. Obst und Gemüse wird in den Karpaten zur Sommerzeit in größter Auswahl, besonders aber Äpfel in höchster Qualität, zu günstigsten Preisen verkauft; so kostet beispielsweise ein ganzer Eimer hervorragender Pflaumen lediglich 20 Kopeken. Wir erstanden spottbillig einen ganzen Koffer voll Äpfel. Aber sobald der Zug die Karpaten verläßt und das Gebiet der Ukraine erreicht, wandelt sich das Bild in allem sogleich zum Schlechteren – Armut, niedrige Kultur u.ä.. Anstelle von Ziegeldächern sehen wir nun strohgedeckte Bauernhäuser. Diese ganzen Unterschiede fallen einem bereits an den ersten grenznahem Bahnstationen ins Auge. Jedes Volk ebt nach seiner Lebensauffasung und seinen Möglichkeiten.

Am 25. Dezember 1963 wurde in der Wohnung im Studentenstädtchen des Moskauer Instituts für Energiewirtschaft der 40. Geburtstag der Doktorenanwärterin der technischen Wissenschaften und Dozentin Tatjana Pawlowna Marusowa gefeiert. Der gesamte Lehrstuhl sowie ein paar andere Gäste waren eingeladen. Tischmeister des Abends war ein Gast in mittleren Jahren, welcher der Feierlichkeit in geschickter Weise zu einem fröhlichen C harakter verhalf, so daß die Anwesenden immer wieder in Gelächter ausbrachen. Der zweite Besucher, der die Aufmerksamkeit aller auf sich lenkte, war die Lehrerin der Ballettgruppe des Bolschoj-Theaters der UdSSR, die beim Tanzen schwebte“, ohne dabei ihren Partner zu behindern. Ohne irgendein Gedränge zu veranstalten feierten die am Tisch sitzenden Gäste die Jubilarin herzlich und mit viel Humor und wünschten ihr alles Gute und viel Glück. Dieser Abend blieb mir wegen seiner Begegnungen mit interessanten Leuten und seiner heiteren Stimmung in guter Erinnerung.

Nachdem mein Gans ein Jahr lang die russische Sprache erlernt hatte, legte er seine mündliche und schriftliche Prüfung ab.Am nächsten Tag kommt er nach Hause, mit einem Gesichtsausdruck wie eine Gewitterwolke, und verkündet, daß er im Schriftlichen eine Zwei (dies entspricht nach dem deutschen Schulsystem in etwa einer Fünf; Anm. d. Übers.) bekommen hat. Was war geschehen? Die Lehrerin hatte seine Aufmerksamkeit auf das Wort „Hinterteil“ gelegt. Es war nämlich so, daß zu der Zeit in der Presse eine Mitteilung über den Erfolg der sowjetischen Wissenschaft erschienen war, der es gelungen war, die Rückseite des Mondes mit einer automatischen Kamera zu fotografieren. Gans hatte „Rückseite“ mit dem Wort „Hinterteil“ ausgedrückt, in dem er für den Mond den Begriff verwendet hatte, den man eigentlich für Menschen benutzt. Andere Fehler waren in der schriftlichen Arbeit nicht zu finden gewesen. Nach gegenseitigen Erklärungen korrigierte die Lehrerin schließlich den Aufsatz und gab ihm dafür die Note „hervorragend“. Gans war ihr dafür sehr dankbar.

Es näherte sich der Sommer des Jahres 1965, die Zeit meiner Aspirantur neigte sich ihrem Ende entgegen, aber ich hatte den experimentellen Teil meiner Arbeit noch nicht abgeschlossen. Der Lehrstuhl ist wie leergefegt, alle sind im Urlaub, und da öffnet sich für mich im Laboratorium am 1. August die Tür und ein junger Mann, der sich als Jewgenij Ametistow vorstellt, sagt, dass er nun, nachdem er im Frühjahr das Moskauer Institut für Energetik beendet und eine Zuteilung für den Lehrstuhl für Arbeitsschutz erhalten hat, seine berufliche Tätigkeit aufnehmen wird. Schenja und ich waren uns schnell einig, denn er willigte mit Vergnügen ein, mir bei meinen experimentellen Forschungen behilflich zu sein, welche viel Zeit erforderten. Gemeinsam brachten wir einen mit Sirup und Sprudelwasser aufgefüllten Automaten in Gang, der neben unserem Labor stand. So freundschaftlich arbeiteten Schenja und ich den ganzen August hindurch, bis die Leitung des Lehrstuhls aus den Ferien zurückkehrte. In der Zeit unserer gemeinsamen Tätigkeit hatte ich mich viele Male über Schenjas vielfältigen Fähigkeiten gewundert. Es stellte sich heraus, dass er die erste Leistungsklasse beim Boxen innehatte; steigern wollte er seine Meisterhaftigkeit jedoch nicht, denn er war davon überzeugt, dass alles, was über diesen Meistergrad hinausging, nur seiner Gesundheit schaden würde. Allerdings half ihm sein Boxtitel gelegentlich auch aus der Not. Als er sich irgendwann einmal mit seinem Mädchen (seiner zukünftigen Ehefrau) am späten Abend im Reutow-Bezirk auf dem Heimweg vom Theater nach Hause befand, wurde er von ein paar betrunkenen Rowdys belästigt. Schenja beschloß, den Kerl zu Fall zu bringen, ohne ihn überhaupt zu berühren. Geschickt und professionell wich Schenja den Hieben des Anderen aus und sprang dann im richtigen Moment zur Seite; der Gegner verlor den nötigen Halt und krachte Hals über Kopf zu Boden. Schenja beugte sich zu ihm hinab und begriff, dass jener seine Brille suchte, die er auch gleich fand und sie ihrem Besitzer zurückgab. Wie Gans später sagte, ist zu einem derartigen Verhalten (wenn man dem Gegner in seiner Not hilft) nur ein Russe fähig; ein Deutscher würde das nicht tun – er ist viel egoistischer veranlagt. Im weiteren Verlauf trennten sich Schenjas und meine Wege, denn er wurde als Dozent am Lehrstuhl, nun Jewegenij Viktorowitsch, in den Lehrbetrieb des Instituts mit einbezogen.


Inhaltsverzeichnis

Zum Seitenanfang