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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Eingewöhnung in die neuen Lebensverhältnisse

Während unserer „vorübergehenden“ Unterbringung im Lager erhielten wir Wohnungsangebote. Julia bekam ihre erste Einzimmer-Wohnung mit Vorraum, Küche, Toilette und Dusche – ein großes Zimmer mit einer kleinen Veranda. Es begann die Zeit, in der sie sich einrichten und zurechtfinden mußte, in der Möbel gekauft und gesammelt sowie ein Fernsehgerät ausgesucht werden sollten. Die Wohnung befand sich im ersten Stock eines neungeschossigen Hauses und besaß einen zweiten Ausgang auf die Veranda. Julias große Freude war unser Hund „Alfa“, den sie in einem speziellen Transportbehälter aus Moskau mitgebracht hatte. Dieser Transport kostete 800 Dollar. Aber Julias Möglichkeiten ihn bei sich zu behalten reichten nur für zwei Wochen; deswegen bat sie darum, dass Witja und ich ihn zu uns nähmen, denn Julia hatte einen weiten Weg zum Gymnasium und schaffte es nicht, morgens und zur Mittagszeit mit ihm spazieren zu gehen. Zu jener Zeit, im August 1995, bekamen auch wir unsere Zweizimmer-Wohnung in Nettelnburg (im Hamburger Stadtteil Bergedorf). Die Spaziergänge mit dem Hund lagen nun auf meinen Schultern. Alfa war ein Jagdhund, der auf Enten fixiert war; wir liebten ihn alle sehr. Aus dem kleinen Welpen in Moskau, in unserer Wohnung in Nowogirejewo erzog Julia ihn von 1987 an zu einem sehr feinfühligen und verständigen Hund. Das Tier starb am 25.09.1998 in Nettelnburg an Krebs. Ein Tierarzt schläferte ihn ein: Viktor und ich verließen die Praxis mit Tränen in den Augen, während Julia und Witja bei ihm blieben und vom sterbenden Alfa den allerletzen Blick des Abchieds empfingen. Dieses herzensgute Lebewesen war Mitglied unserer Familie gewesen. Man konnte ihn nur liebgewinnen, wenn man sah, wie sehr Alfa sich freute, wenn Julia zu uns kam, und in der ganzen Wohnung aufgeregt hin und her rannte. Als Alfas Leben zuende ging verfielen wir alle in eine tiefe, wahre Trauer. Als Erinnerungsstück an Alfa blieb sein Halsband mit seinem Namen und seinem Lebensalter.

Mein Sohn Viktor wurde, nachdem er 1972 das Moskauer Institut für Energiewesen absolviert hatte, zum Arbeiten ans Staatliche wissenschaftliche Forschungsinstitut für Energiewesen beim Energieministerium der UdSSR entsandt, wo er ein Angebot für Forschungstätigkeiten im Bereich „besonders leitfähige Kabel“ bekam. Aber bald darauf wechselte der Leiter, und das Thema war erledigt. Während er weiter dort arbeitete, begann Viktor sich in Form von Überstunden im Allrussischen wissenschaftlichen Forschungsinstitut für staatliche Patentgutachten mit ebensolchen Gutachten zu befassen, wo er insgesamt 16 Jahre erfolgreich tätig war. Bei seiner Ankunft in Deutschland besuchter er Sprachkurse, um Deutsch zu lernen, und absolvierte über einen Zeitraum von sieben Monaten ein Praktikum bei der Firma „Stihl“, welche elektrische Gabelstapler herstellt. Sein frisches Auge eines Spezialisten der Elektromechanik bemerkte in der Produktionsabteilung schnell, dass zwei Anträge auf ein Patent erforderlich waren. Seine diesbezügliche Aktivität und hohe Qualifikation wurden von der Geschäftsleitung hoch bewertet, und man schlug ihm eine Dauerstellung als Ingenieur im Konstruktionsbüro vor, im „Mittelpunkt des Gehirns“, wie man dort in der Verwaltung sagt. Das Wichtigste an Viktors 1998 so erfolgreich verlaufenen Arbeitssuche war, dass er tatsächlich auf seinem Spezialgebiet der „Elektromechanik“ tätig sein konnte und im Büro der einzige war, der auf diesem Gebiet aufgrund seiner beruflichen Ausbildung Experte war. Er nahm aktiv an gesellschaftlichen Veranstaltungen seines Kollektivs teil, absolvierte Kurse und legte eine Prüfung ab, die ihn zum Führen einer Segelyacht ermächtigte. Er wirkte ebenfalls an den Arbeiten für Sonderseminare in Hamburg und München mit. Witja und ich waren immer froh, dass seine Arbeitssuche unter den Bedingungen der hohen Arbeitslosigkeit im Hamburger Umland so erfolgreich verlaufen war. In Hamburg brachte die Edition „Körber-Stiftung“ ein Buch von Dorothee Wierling (Hg.) mit dem Titel „Heimat finden“ heraus, in dem die Autorin, nachdem sie mit sechs Deutschen aus Rußland detaillierte Interviews über ihre Lebenswege durchgeführt hatte, als Historikerin eine Analyse der Ansichten dieser Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Bildung und Kenntnisse der deutschen Sprache in Sachen „Heimat“ vornahm. Zu den Befragten gehörte auch unser Sohn Viktor; Fotos mit Untertiteln aus diesem Buch, die sich auf seinen Lebensweg beziehen, führe ich weiter unten als zusätzliches Material der Biographie unserer Familie hinzu. Die Untertitel zu den Fotos hat Viktor geschrieben. Ferner möchte ich als Ergänzung zuViktors Interview einige einleitende Worte der Buchautorin Dorothee Wierling anführen: „Viktor Petri, geb. 1950, „Deutschland paßt zu mir“. Viktor Petri ist zielstrebig. Der ruhige, immer konzentriert wirkende Mann geht seinen Weg. Anfang 20 hatte er bereits sein Studium als elektroingenieur abgeschlossen, um danach über zwei Jahrzehnte in einem Moskauer Forschungsinstitut zu arbeiten. Im Alter von 46 übersidelte er mit seiner Familie nach Deutschland. Zwei Jahre später hatte er wieder einen Arbeitsplatz in einem Hamburger Maschinenbau-Unternehmen-als Jngenieur. Viktor Petri ist viel zu bescheiden, um sich selbst als erfolgreich zu bezeichnen. Dennoch stimmt er letztlich zu. Er ist zufrieden mit dem Erreichten und ganz besonders mit dem, was seine Kinder geschafft haben. Ihnen eine Zukunft zu geben, war der Hauptgrund, 1996 Russland zu verlassen. Es war eine Vernunftentscheidung, nach Deutschland überzusiedeln. Trotz mancher Irritationen im Alltag und Komplikationen mit den Behörden fühlte er sich schnell in Hamburg zu Hause. Als Kopfmensch sucht Viktor Petri nach klaren Strukturen. Über Gefühle spricht er nur selten.Umso auffälliger ist, dass er regelrecht ins Schwärmen gerät, wenn er über das sibirische Krasnojarsk erzählt. Dort verbrachte er als Kind und Jugendlicher glückliche Zeiten». Die Titel unter den Fotografien ergänzen die Eingangsworte von D. Wierling.

Julia lernte in Hamburg sehr gut, sie war stets eine der Besten. Als ihre Mathematiklehrerin einmal krank wurde, baten die 12. und 13. Klasse des Gymnasiums Julia für sie einzuspringen, wofür das Gymnasium ihr sogar die Unterrichtsstunden bezahlte. Ihr Fleiß und ihre hervorragenden Kenntnisse gaben ihr die Möglichkeit, sich im Jahre 2000 an der Universität in Braunschweig einzuschreiben, dem alten Städtchen mit den bekannten, jahrhundertealten wissenschaftlichen Schulen. Julia wählte eine neues Spezialgebiet: „Mathematik und Informatik in der Medizin“. Das Uni-Wohnheim ist ein großer mehrstöckiger Komplex. Julia erhielt dort zwei Zimmer mit Küche, Dusche und Toilette. Ein Zimmer zur hauswirtschaftlichen Nutzung, das andere – ihr Schlaf- und Arbeitszimmer. Im Wohnheim gibt es ferner eine Kantine, eine Wäscherei sowie Stellplätze für Autos und Fahrräder. Im Großen und Ganzen also alle Annehmlichkeiten, die man sich nur wünschen kann. Die Jahre vergehen, und da steht Julia plötzlich an der Schwelle ihrer Diplomarbeit. Das Thema wurde entsprechend der zwischen Lehrstuhl und Praktikantenstellen existierenden Verträge gewählt, und sollte die Projektarbeit so in die Praxis umsetzen, dass Kunden auch Interesse zeigten. Vielleicht ist Julia ein Beispiel dafür, wie man in Deutschland eine höhere Universitätsausbildung ohne Hilfe von außen erhalten kann, nur mit seiner eigenen Arbeit, die das eigentliche Studium mit einer Tätigkeit nebenbei verbindet, für die man die Ferien und alle übrige freie Zeit verwendet. Mit einem Arbeitsplatz hatte Julia überhaupt keine Probleme – buchstäblich einen Tag nachdem sie ihre Diplomarbeit mit der Note 1 gemacht hatte, erhielt sie von einer großen Firma bereits ein Angebot, in ihrem Spezialbereich zu arbeiten, und dort in München arbeitet sie heute noch erfolgreich.

Der zweite Enkel, Nikolaj, besuchte ab 2002 in Hamburg die technische Universität im Bereich „Werkstoffkunde beim Maschinenbau“. Auch Nikolaj ist vielleicht ein Beispiel auf dem Gebiet der Aneignung sämtlicher Komputertechnologien, einschließlich Maschinenbau-Zeichnungen auf dem Bildschirm. Auf ihn läßt sich der Ausspruch anwenden: „Der Mann hat goldene Hände“. Das hat er bestätigt, als er am 23. April 2010 erfolgtreich sein Diplomprojekt abschloß, wobei er zudem ein Stellenangebot vom wissenschaftlichen Forschungslabor seiner Universität erhielt. Für unsere ganze Familie war dies das erwartete Finale, über das wir uns alle riesig freuten. Man kann noch hinzufügen, dass unsere Familie bereits in der fünften Generation die Familientradition der Petris „nicht trinken, nicht rauchen“ wahrt.


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