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Robert Riedel. Einschränkungen

3. Schweinehüten

Die staatlichen Lieferungen des vergangenen Jahres, des ersten Kriegsjahres, waren an der Kolchose vollkommen vorbeigegangen: es gab kein Getreide (für die geleistete Tagesarbeit erhielten die Kolchosarbeiter 400 Gramm Hafer) und auch keinerlei Futtervorräte. Und mit Beginn des Sommers stellte sich heraus, dass es für die Schweine tatsächlich nichts mehr zum Verfüttern gab. Aber man musste sie erhalten, und nicht nur das, sondern sie sollten ja auch gemästet werden – „für die Front, für den Sieg“, wie es damals hieß. Und so kam man in der Kolchose zu einer ungewöhnlichen Entscheidung – die Schweine sollten auf einen freien, offenen Weideplatz getrieben werden. Zumindest würden sie dort etwas zu fressen finden.

Sie sagten Mama, die als Schweinewärterin beschäftigt war, dass sie mit den Schweinen gehen und den Sommer auf dem großen Gehöft verbringen sollte, bei dem sich die Wiese befand.

Ablehnen konnte Mama das nicht, aber sie bestand darauf, dass sie auf keinen Fall allein damit fertig würde; und so bat sie darum, mich zu ihrem Gehilfen zu ernennen. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass ich ihr bei irgendetwas behilflich sein könnte, aber sie wollte mich einfach nicht allein im Dorf zurücklassen. Später stellte sich allerdings heraus, dass sie bei einer derart unruhigen Herde tatsächlich nicht ohne mich zurechtgekommen wäre.

Der Kolchosvorstand begriff, dass Schweinehüten nicht so einfach war – vor allem in bewaldeten Gebieten; daher nahmen sie Mamas Vorschlag an und erklärten sich damit einverstanden, mich während der Weidezeit zu ihrem Schweinewärter-Gehilfen zu berufen (womit faktisch ein Hüte- oder Hirtenjunge gemeint war). Ich war damals erst neun Jahre alt, und deswegen war meine Ernennung inoffiziell. Das zeigte sich daran, dass Mama für einen Arbeitstag eineinhalb Arbeitstage angerechnet bekam - dieser halbe Tag wurde ihr für die von mir geleistete Arbeit zugeschrieben.

Für die Zusammenstellung der Herde, die wir hüten sollten, suchten sie etwa dreißig Schweine unterschiedlichster Rassen zusammen. Auch heute kenne ich mich noch nicht sonderlich gut damit aus, und damals bestimmten sie die Schweinerassen, wie mir scheint, auch nur so ungefähr. Zwei stupsnasige Säue und einen riesigen Eber der gleichen Art, mit seitlich hervorstehenden Hauern, zählten sie zu den Englischen Schweinen. Zur ukrainischen Rasse gehörten ein paar kleine, stämmige, schwarzweiß gefleckte, ständig grunzende Tiere. Mehrere recht hagere, langschnäuzige Schweine wurden der Russischen Rasse hinzugerechnet. Und niemand kannte die Herkunft der kleinen runden Schweinchen mit den gekräuselten rötlichen Borsten.

An einem frühen Maimorgen trieben wir unsere Herde zu dem großen Einzelgehöft. Dabei bewegten wir uns auf Waldwegen voran; es war heiß, die Schweine waren müde und hatten offenbar vor auseinanderzulaufen. Wir mussten die Entlaufenen einholen und zurückbringen. Erst zur Mittagszeit trafen wir mit unserer Herde „unterschiedlichen Kalibers“ am Gehöft ein.
Das verlassene Vorwerk stellte sich als Holzhütte dar, die einsam und verlassen am Waldesrand stand. Daneben befand sich eine Art eingezäunter Pferch, in den wir die Herde hineintrieben.

In einem der beiden Zimmer hatte sich bereits der Wächter Gann niedergelassen -  ein großgewachsener, magerer Alter, Weißrusse, der mit einer weißen Leinenhose und einem Hemd bekleidet war. Das andere Zimmer bezogen Mama und ich.
Unser Arbeitstag begann am frühen Morgen mit dem Sonnenaufgang. Mit Müh und Not trieben wir die Schweine aus dem Pferch hinaus, und dann, ohne ihnen eine Chance zum Auseinanderlaufen zu geben, weiter bis zum Weideplatz. Als wir die Lichtung  mit dem taufeuchten Gras erreicht hatten, ließen wir die Herde dort grasen.

Aber die Schweine wollten nicht in der engen Herde bleiben; sie drängten sich zu einzelnen Gruppen zusammen, und jedes bewegte sich dabei nach eigenem Willen. Sie verhielten sich so, wie entfernte Verwandte, die in einzelnen Grüppchen und Familien zusammenleben (wie die heutigen wildlebenden Eber es zu tun pflegen).

Es war ständig unsere größte Sorge, die Herde irgendwie zusammenzuhalten, besonders dann, wenn es in unmittelbarer Nähe Wald gab oder, was noch viel schlimmer war, dichtgewachsenes Gebüsch und Strauchwerk, in dem die Schweine ziemlich leicht abhandenkommen konnten. Davor hatte Mama die meiste Angst – wenn ein Tier verloren gegangen war, dann konnten sie einem dafür zehn Jahre Gefängnis aufbrummen. Andauernd rief sie nach mir und schickte mich hinter den davongelaufenen Tieren her. Ihr nervöses Geschrei ging nicht selten in Tränen über; dann war ich jedes Mal völlig verwirrt und wusste überhaupt nicht mehr, zu welcher Seite ich eigentlich laufen sollte.

Gelegentlich weidete, nicht weit von uns, eine Herde Kühe. Neidisch betrachtete ich den Hirten – seine Kühe standen ganz ruhig da, wiederkäuten ihr Gras und liefen nicht überall herum, wie unsere grunzenden Schweine; und er döste derweil unter einem Baum und rauchte sein „Ziegenfüßchen“.

Von Zeit zu Zeit stand er auf, knallte laut mit der Peitsche und trieb seine Herde an einen anderen Platz.

Ich flocht mir auch eine Peitsche aus weiß gegerbtem Leder. Es gelang mir, sehr laut damit zu knallen, aber es half nur wenig, besonders wenn die Schweine sich in die Büsche geschlagen hatten, aus denen man sie nur mit einer Gerte wieder heraustreiben konnte.

Bei den trächtigen Säuen, die schon bald werfen sollten, erwachte hier in Freiheit noch ein anderer uralter Instinkt – sie versteckten sich ständig irgendwo und bauten sich Höhlen. Wir konnten sie nur schwer ausfindig machen und zur Herde zurückbringen.

Einmal kündigte Mama an, dass zwei Russische Schweine in Kürze werfen würden und wir aufpassen müssten, dass sie nicht fortliefen. Obwohl wir extrem wachsam waren, gelang es einem der beiden Säue dennoch sich zu entfernen. Mama suchte lange nach ihr und trieb sie schließlich heran, und in einem Körbchen trug sie ein neugeborenes Ferkel.

Kurz darauf verschwand auch die zweite trächtige Sau. Allein konnten wir sie nicht finden, aber Leute aus dem Dorf kamen uns zur Hilfe.

Mit einer spärlichen Menschenkette begannen wir den nahegelegenen Wald und das Gebüsch zu durchkämmen. Am Ufer des Waldflüsschens entdeckten wir einen Durchlass in dem hohen Grasdickicht. Der betagte Leiter der Farm, Mama und ich bewegten uns voran und gelangten schon bald auf einen niedergetrampelten Platz, auf der wir die geflohene Sau erblickten. Inmitten dieses Platzes hatte sie sich so etwas wie ein Nest aus weichem Gras gebaut, in dem, eng aneinandergeschmiegt, ihre Jungen schliefen. Ich wollte schon die Hand ausstrecken, um die Kleinen ins Körbchen zu legen, aber das Schwein stürzte auf mich los und warf mich bei dem Versuch, nach meiner Hand zu schnappen, einfach um. Nur ein heftiger Schlag mit der Peitsche, ausgeführt vom Farmleiter, konnte das wütende Muttertier zurückhalten. Als wir später zum Vorwerk zurückkehrten, rannte es mit lautem Grunzen hinter dem Korb mit den Ferkelchen her, den der Farmleiter im Arm hielt.
Allmählich passten wir uns an die schlechten Gewohnheiten unserer Herde an. An heißen Tagen trieben wir die Schweine in ein waldbewachsenes Morastgebiet. Mit lautem Grunzen suhlten sie sich im Schmutz, wühlten darin herum und blieben dann lange darin liegen. In solchen Stunden konnten wir ein wenig durchatmen und mussten uns nicht darum sorgen, dass die Herde auseinanderlaufen würde. Jetzt kannten wir den Charakter jedes einzelnen Schweins, und einigen gaben wir sogar Spitznamen. Den großen englischen Eber nannten wir Wasja, die Mutter, die auf mich losgegangen war – Rys (auf Deutsch: Luchs).

Mit dem Auftauchen der Ferkel innerhalb der Herde kamen für uns noch mehr Scherereien hinzu. Die Kleinen versuchten immer dicht hinter der Mutter zu bleiben, gingen aber trotzdem ständig verloren. Wir mussten sie immer wieder durchzählen und die fehlenden im Gras oder dem nahegelegenen Gestrüpp suchen.

Mit unserer Herde waren wir, wie man so schön sagt, von früh bis spät beschäftigt – ohne Pausen und freie Tage. Es war eine unruhige Arbeit, und trotzdem empfand ich sie als langweilig; und so versuchte ich, für mich irgendeine Zerstreuung zu finden. Wenn sich die Gelegenheit ergab, pflückte ich wilde Erdbeeren (die einzige mir damals bekannte Beere), die mich vom Geschmack her an Karamell erinnerte, den wir vor dem Krieg Gegessen hatten; ich fing und betrachtete schöne Schmetterlinge, verschiedene Käfer, und verfolgte mit Interesse das Leben der fleißigen Ameisen. Auch andere Tiere begegneten  wir – Eichhörnchen, Hasen, Füchsen, aber am besten gefielen mir die kleinen gestreiften Erdhörnchen, die aufrecht wie eine Säule dastehen konnten und mich in aller Ruhe anschauten. Mitunter ritt ich auf dem Eber Waska. Ich setzte mich auf seinen Rücken, trieb ihn mit der Gerte an, indem ich auf sein herausragendes Hinterteil schlug, und dann bewegte er sich vorwärts. Kraulte ich seine Wampe, blieb er stehen.

Einmal beschloss ich festzustellen, ob die neugeborenen Ferkelchen wohl schwimmen konnten. Dazu trieb ich die Sau mit ihren einen Tag alten Jungen ins kleine Flüsschen. Die Sau durchschnitt das Wasser, indem sie schnell ans andere Ufer schwamm. Die am Ufer zurückgebliebenen Ferkel tippelten anfangs noch im seichten Wasser nebenher, aber dann stürzten sie sich nacheinander ins Wasser und schwammen ihrer Mutter eilig hinterher.

Hier im Wald begegnete ich vielen Dingen zum ersten Mal. Aber ich sammelte Erfahrungen, und Wächter Gann half mir dabei. Er wusste eine Menge, konnte vieles und war ständig dabei, an irgendetwas herumzubasteln; er flocht Weidenkörbe, stellte Behälter aus Birkenrinde her. Für sich selber flocht er Bastschuhe, aber nicht aus Lindenbast (denn diese Bäume wachsen in diesen Gegenden nicht), sondern aus gesäuberter Weidenrinde.

Ich besaß keine Sommerschuhe, und so lief ich, wie alle anderen Dorfkinder auch, barfuß herum. Ich hatte ständig irgendwelche Stellen an den Füßen, aber ich achtete zunächst nicht darauf. Doch dann kam die Zeit der Heumahd, und auf den abgemähten Wiesen verletzte ich meine Füße oft an den spitzen Enden der schräg abgeschnittenen dicken Halme. Ab und an bohrten sie sich in alte Wunden: der heftige Schmerz ließ mich aufschreien, und ich sank zu Boden. Mama bat Gann auch für mich ein Paar Bastschuhe zu flechten. Das Schuhwerk war leicht und bequem, ich konnte darin hinlaufen, wo ich wollte, ohne die Gefahr zu laufen mich zu verletzen.

Und dann lebte mit uns ja auch noch Tscharlik – das weiße, flauschige Schoßhündchen, das wir aus Engels mitgebracht hatten. Er war ein verwöhnter Zimmerhund; deswegen hatten wir ihn nicht mit zum Weideplatz genommen. Tagsüber befand er sich auf dem Einzelgehöft, abends begrüßte er unsere Herde mit lautem Gebell. Der Wächter mochte ihn nicht; er hielt solche Hündchen für unnütz und wertlos.

Eines Abends trieben wir, wie gewohnt, die Herde nach Hause, aber Tscharlik kam uns aus irgendeinem Grunde nicht entgegen gelaufen. Wir trieben die Schweine in ihren Pferch, wo sie sich sogleich auf die Molke stürzten, die tagsüber für sie angeliefert worden war. Ich rannte zu Gann hinüber:

- Onkel Gann, wo ist denn Tscharlik?

Unwillig wandte er sich um:

- Hier irgendwo muss er sein – der wird schon gleich kommen.

Tscharlik kam an jenem Abend nicht angelaufen, und er kam auch am nächsten Morgen nicht. Am Abend machte ich mich auf, um ihn zu suchen. Ich ging durch den angrenzenden Wald, rief laut seinen Namen, schaute überall im Dickicht nach, aber alles war vergeblich. Als ich bereits wieder den Rückweg angetreten hatte, bemerkte ich im Gebüsch etwas Weißes. Ich ging etwas näher heran und sah, dass dort an einem dicken Ast eine flauschige, weiße Säule hing – und ich begriff sofort, dass es Tscharlik war. Ich schaute ihn mir gar nicht erst genauer an, sondern rannte unter Tränen und laut schreiend zum Gehöft zurück:

- Mama, dort hängt Tscharlik!

Mama versuchte mich zu beruhigen und meinte, dass mir das wohl nur so vorgekommen sei. Später brachte sie mich zu der Stelle, und tatsächlich hing dort nichts mehr. Trotzdem schenkte ich ihr keinen Glauben und dachte die ganze Zeit darüber nach, daß nur unser Wächter so etwas mit Tscharlik hätte tun können. Nach diesem Vorfall fing ich an ihn zu meiden, ihn sogar zu fürchten. Viel später, es herrschte bereits Winter, erzählte Mama, daß Tscharlik an Tollwut gestorben sei und dass sie Gann gebeten hätte, ihn in den Wald zu bringen, damit er niemanden beißen konnte…

Ende August mussten wir wieder ins Dorf umziehen – für die im offenen Pferch schlafenden Schweine wurde es nachts bereits zu kalt. Nun brachten wir sie unweit des Dorfes auf eine Wiese – zuerst auf eine Waldlichtung, später in die abgeernteten Kolchos-Gemüsegärten, wo die Schweine immer noch Rückstände der Ernten fanden. Aber es wurde immer schwieriger sie zu hüten – die Verlockung in den Dorfgärten herumzulaufen war einfach zu groß.

Am 1. September 1942 ging ich, wie alle anderen Kinder auch, wieder in die Schule, in die dritte Klasse. Aber ich nahm dort nur einen einzigen Tag am Unterricht teil. An jenem Tag kam Mama mit der Herde überhaupt nicht zurecht, ein Teil der Schweine lief in verschiedene Richtungen auseinander. Sie suchten sich irgendwelche Gemüsegärten im Dorf und richteten dort Unheil an – ein skandalöser Zustand. An Lernen war also nicht zu denken, und so kehrte ich bereits am nächsten Tag zu unserer Herde zurück.

Meine Arbeit als Schweinehirte endete im Spätherbst, als der Frost strenger wurde und die Schweine zur Überwinterung in Stallungen untergebracht wurden.

Mama und ich ließen uns auf der Kolchosfarm nieder, wo  neben Schweinen auch noch Schafe und gehörntes Großvieh gehalten wurden. Wir lebten in einer kleine Kate über dem Vorratskeller für die Kolchoskartoffeln. Ich half Mama auf der Farm, aber Lohn für meine Arbeit habe ich nie bekommen.

Während wir nun ständig auf dieser Farm lebten, konnte ich mich an allen möglichen und bei weitem nicht gerade kindlichen Dingen sattsehen. Aber es gab auch tragikomische Ereignisse, von denen eines die Geschichte mit den Elstern ist.

Nachts befanden sich unsere Schweine im warmen Stall, tagsüber wurden sie in einen offenen Pferch getrieben (offenbar zur Abhärtung). An der frischen Luft fühlten sie sich, trotz des grimmigen Frosts, ziemlich wohl. Aber die gewöhnlichen schwarz-weißen Elstern bereiteten den „Engländern“ echten Kummer. Die spitzfindigen, dreisten Vögel ließen sich auf ihren breiten Rücken nieder, hackten ihnen ins Fell und labten sich an dem frischen, fetten Speck. Unruhig und quiekend liefen die Schweine im Pferch herum, aber die Elstern setzten ihr Festmahl ungerührt fort. Bei den betroffenen Schweinen bildeten sich großflächige Wunden, die Tiere begannen abzumagern. Man musste unbedingt etwas tun.

Der Leiter der Farm brachte eine Schrotflinte mit, erschoss sechs-sieben Elstern und hängte ihre sterblichen Überreste an Stangen entlang des Pferchs auf. Erst danach hörten die Misshandlungen an den Schweinen auf.

In den Wintermonaten veränderte sich unsere bisherige Herde ganz erheblich. Viele Schweine wurden geschlachtet, unter ihnen auch der dicke, gutmütige Waska. Die Jungtiere wuchsen heran. In dem warmen Stall fingen die in Freiheit halb verwilderten Schweine an, ihre uralten Instinkte zu vergessen und verwandelten sich hin ganz gewöhnliche Haustiere.


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