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Robert Riedel. Einschränkungen

4.Sie haben Mama fortgebracht . Tante Schura

Die Mobilisierung zur Trudarmee wurde aus irgendeinem Grunde immer zu Beginn des Jahres durchgeführt. Nach Neujahr 1943 wurde ebenfalls wieder eine Mobilisierung angekündigt. Diesmal beriefen sie deutsche Frauen ein, die keine Kinder hatten, sowie Mädchen ab 15, 16 Jahren. Schon da erfuhren wir, dass auch Mamas jüngere Schwester davon betroffen war, die sich auch irgendwo hier in Sibirien befand. Sie wurde in ein Gebiet hinter dem Polarkreis gebracht, nach Turuchansk.

Alle dachten, dass die Verschickung in die Arbeitsarmee damit erledigt war. Aber einen Monat später wurde erneut eine Mobilisierung angekündigt. Diesmal holten sie Frauen, deren Kinder „älter als drei Jahre“ waren. Aber wohin man mit diesen Kindern sollte, die nun ohne Mütter zurückbleiben mussten, davon war im Befehl über die Mobilisierung keine Rede. Manche der Mütter konnten ihre Kinder bei Verwandten unterbringen, und wenn sie keine näheren Verwandten hatten, dann waren sie gezwungen, sie in fremde Familien zu geben oder sie einfach dort zurückzulassen, wo sie wohnten. Die Einberufung wegen vorhandener Kinder verweigern konnten die Frauen nicht – das galt als Fahnenflucht.

Auch Mama erhielt einen Einberufungsbescheid. Angehörige hatten wir hier nicht, und es gelang Mama nicht, mich rechtzeitig irgendwo unterzubringen – alle Mobilisierten wurden in aller Eile in die Bezirksstadt geschickt. So musste sie mich auf der Farm, in der kleinen Kate, zurücklassen, in der wie zusammen gewohnt hatten.

Mama wurde fortgebracht, aber dass sie für immer ging – das hätte ich nie geglaubt. Ich war schon mehrmals allein gelassen worden – wenn Mama Getreide zur Bahnstation gebracht hatte, aber da war sie immer zurückgekehrt. Aber auch jetzt kam es mir so vor, als würde sie wiederkommen.

Nach ihrer Abfahrt stromerte ich durchs Dorf, rutsche mit den anderen Kindern den Berg hinunter und kehrte gegen Abend zur Hütte zurück. Ich heizte den Ofen, wärmte das Abendessen auf, das Mama mir dagelassen hatte, aß und legte mich schlafen. Aber ich konnte nicht zur Ruhe kommen – erst jetzt, in der dunklen Hütte, fühlte ich plötzlich, daß ich allein war. Und ich wusste nicht, was weiter werden sollte.

Plötzlich wurde die Tür der kleinen Kate geöffnet, und mit den Schwaden des klirrenden Frostes trat Mama herein. Ich stürzte auf sie zu und schrie:

- Hurra! Du bist wieder da!
- Ich bleibe nicht, ich gehe bald wieder fort.

Am Morgen kamen die Frauen gelaufen, die auf der Farm arbeiteten. Und Mama erzählte, was in Tjuchtet geschehen war.
Als man sie nach Tjuchtet gebracht hatte, stand am Gebäude des Kriegskommissariats bereits eine große Menge mobilisierter Frauen, die aus dem ganzen Bezirk zusammengeholt worden waren. Einige hatten, trotz des Verbots, ihre Kleinen mitgebracht. Man hörte Geschrei und lautes Weinen, die Wachen brüllten.

Frauen mit Kindern flehten darum, die Kinder mitnehmen zu dürfen; sie versprachen sogar, sie aus ihrer eigenen Ration mit durchzufüttern. Mit lautem Geschimpfe rissen die Wachen die Kinder von ihren Müttern fort, aber wohin sie mit ihnen sollten, vor allem mit den ganz Kleinen, das wussten sie nicht. Die Kinder rissen sich los und rannten mit lautem Geheul zu ihren Müttern zurück. Schließlich schickte der Vorgesetzte des Kriegskommissariats, nachdem er nichts erreicht hatte, die Frauen in die Häuser und versprach, sie später zusammen zu holen.

Eine Woche später wurden die Frauen erneut in die Bezirksstadt berufen, aber jetzt nur diejenigen, deren Kinder älter als sieben Jahre alt waren.

Diesmal hatte Mama etwas mehr Zeit zur Verfügung, um mich irgendwo unterzubringen. Dabei kam ihr auch der Umstand zu Hilfe, dass ich eine gute „Mitgift“ mitbekommen hatte – drei Sack Weizen, die wir für unsere erledigten Tagesarbeitseinheiten bekommen hatten. Es herrschte Hunger, und ohne eine solche „Mitgift“ hätte niemand ihn, einen nutzlosen Esser, gebrauchen können. Mama lief hastig durchs Dorf, und schließlich gelang es ihr, eine der ortsansässigen Frauen dazu zu überreden, dass sie mich bei sich aufnahm.

Am Tag ihrer Abfahrt brachte sie mich in die Hütte, in der ich von nun an leben sollte (die Säcke mit dem Getreide hatte sie schon früher dorthin getragen).  Die Besitzerin der kleinen Hütte hieß Tante Nadja; sie hatte zwei Töchter, die etwa im gleichen Alter waren wie ich.

Mama machte mich mit Tante Nadja bekannt, übergab ihr meine Papiere und verabschiedete sich. Wir begleiteten sie nach draußen. Nachdem Mama mich umarmt und geküsst hatte, begab sie sich weinend zum Schlitten, der bereits in der Ferne auf sie wartete. Bis heute habe ich das vor Augen – den frostigen, sonnigen Tag, meine weinende Mama, die sich immer wieder umdreht und ihr blauer Mantel, der sich deutlich von der Farbe des grell-weißen Schnees abhebt.

Sie schickten Mama zum Holzeinschlag in die burjatische Mongolei (heute heißt das Burjatien), irgendwo unweit der chinesischen Grenze.

Tante Nadja zeigte mir mein Eckchen, wo ich meine Truhe aufstellen durfte, die Bank, auf der ich schlafen sollte. In der Hütte war es sauber und warm, und dennoch war alles fremd für mich. Und so saß ich bis zum späten Abend still in dem für mich abgezweigten Zimmerteil.

Am nächsten Tag bekam Tante Nadja ein Kolchospferd, um Heu für die Kühe herbeizuschaffen. Für die Fahrt nahm sie mich und eine ihrer Töchter mit. Der Weg führte durch verschneite in der Sonne glitzernde Felder, durch einen Wald, dessen Bäume mit dickem Raureif bedeckt waren. Wir beluden den Schlitten mit duftendem Heu, und dann brachte das kleine Pferd uns wieder nach Hause zurück. Als wir oben auf dem Heu saßen, sahen wir einen leuchtendroten Fuchs, der durch den flaumweichen Schnee lief. Die Fahrt gefiel mir, und ich wurde ein wenig fröhlicher. Aber am Abend senkte sich die Traurigkeit wieder über mich.

Am dritten Tag näherte sich ein wunderschöner Schlitten unserem Haus; ein stattliches Pferd war davor gespannt. In dem Schlitten saßen ein Mann und eine Frau. Die hochgewachsene, nach städtischer Art gekleidete Frau trat in die Hütte ein, grüßte alle freundlich und fragte mich dann:

- Bist du Robert?

Ich antwortete:

- Ja.

Sie sagte:

- Ich bin Tante Schura. In Tjuchtet habe ich deine Mama getroffen und ihr versprochen, dass ich dich zu mir hole. Kommst du mit mir nach Tjuchtet?

Ich erinnerte mich daran, daß man im Dorf davon sprach, wie gut es sich in Tjuchtet leben ließ – aufgrund irgendwelcher „Kärtchen“ sollten da angeblich alle Brot bekommen – egal, ob man arbeitete oder nicht. Und so erwiderte ich:

- Ich komme mit.

Die Frau sprach noch eine Weile mit Tante Nadja. Der Mann lud die Säcke mit dem Weizen auf den Schlitten, und wir fuhren nach Tjuchtet.

Als wir bei Tante Schura ankamen, stellte sich heraus, dass sie dort einen sechs Monate alten Sohn Schenja hatte. Während sie unterwegs gewesen war, um mich abzuholen, hatte Tante Pascha, die Hauswirtin der Holzhütte, auf den Kleinen aufgepasst, in der Tante Schura ein Zimmer bewohnte. In diesem Zimmer lebten wir von nun an zu dritt.

Morgens ging Tante Schura ins Industriekombinat; sie arbeitete dort in der Buchhaltung. Schenja und ich blieben dann allein zurück. Ich gab auf ihn acht, kochte ihm seinen Brei, fütterte ihn, legte ihn schlafen, wechselte die Windeln und ging mit ihm draußen spazieren. Mitunter kam Tante Schura angelaufen, um zu sehen, ob mit uns alles in Ordnung war. Abends, wenn ich keine Aufgaben mehr zu erfüllen hatte, ließ sie mich auf der Straße mit den Nachbarskindern spielen. Ich ging aber nicht oft nach draußen, sondern blieb im Haus, um meiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen – dem Lesen. Bücher aus der Schulbibliothek holen konnte ich nicht, weil ich nicht zur Schule ging; deswegen musste ich Nachbarn, Bekannte von Tante Schura und ihre Arbeitskolleginnen darum bitten. Bei dieser Suche fielen mir ganz unterschiedliche Bücher in die Hände. Bei einer alten Nachbarin fand ich ein altertümliches Buch mit dunkelbraunem Einband, geschrieben in der Schrift, wie sie vor der Revolution üblich gewesen war. Dieses dicke Buch beinhaltete eine Sammlung von Witzen, die ziemlich langweilig waren. Einer von ihnen ging etwa so:

„Beim Rundgang durch das Lazarett wandte sich der General an einen im Krankenbett liegenden Soldaten:

-Wie lautet der Nachname?

Der erschrockene Soldat, der die Frage nicht verstanden hatte, antwortete:

-Ponos (russisches Wort für Durchfall; Anm. d. Übers.), Eure Exzellenz!

-Oh, ein griechischer Name! – wunderte sich der General“.

Die übrigen Witze waren auch nicht anders.

Wenn es keine Bücher gab, dann las ich alles, was mir unter die Augen kam – Zeitungen, alte Zeitschriften, irgendwelche Broschüren, Instruktionen für  junge Jäger u.ä.

Meine ununterbrochene Leserei erboste Tante Schura – es war schwer, Kerosin zu bekommen (denn abends las ich unter der Tranfunzel), und außerdem würde ich mir die Augen verderben. Und Tante Pascha wiederholte immer und immer wieder: bei ihnen im Dorf – da ist einer, der liest und liest; der sei wohl völlig übergeschnappt.

Aber ich las auch weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Tante Schura verwendete fast ihr gesamtes unbedeutendes Gehalt auf Lebensmittel für den kleinen Schenja, die sie auf dem Markt kaufte. Sie und ich ernährten uns vorwiegend von Kartoffeln und dem Weizen, der zusammen mit mir hierher gebracht worden war. Er wurde in der Mühle gemahlen, und aus dem Mehl kochten wir dann Kulesch, einen Getreidebrei. Manchmal schafften wir es nicht rechtzeitig den Weizen zu mahlen; dann mussten wir unseren Brei aus ganzen Körnern zubereiten, und danach litt ich stets an heftigen Magenkrämpfen.

Wir bekamen auch Milch, die Tante Schura billig von der Nachbarin kaufte, sowie schwarzes, schweres Brot, welches, wenn auch nur in geringer Menge, auf Brotmarken ausgegeben wurde.

Mit meiner Mama war Tante Schura schon aus Saratower Zeiten bekannt, aber in den vergangenen Jahren hatten sie nichts voneinander gewusst und gehört. Hier in Sibirien sahen sie sich insgesamt zweimal, und jedes Mal war ihre Begegnung ziemlich ungewöhnlich.

Tante Schura war Russin. In Saratow hatte sie einen Deutschen geheiratet, aber ihren Mädchen Namen Aleksandra Semjonwna Jakowlewa behalten. 1941 wurde sie als Ehefrau eines Deutschen, zusammen mit ihrem Mann, nach Tjuchtet verschleppt. Ihren Mann holten sie in die Arbeitsarmee, und nachdem sie beschlossen hatten, dass sie mit ihrem russischen Familiennamen in Sibirien nichts halten würde, kehrte sie nach Saratow zurück. Dort stellte man sehr schnell fest, was sie für eine war und woher sie kam. Vor der Verhaftung rettete sie lediglich der Umstand, dass sie hochschwanger war. Man gab ihr zu verstehen, dass sie ins Gefängnis käme, sollte sie nicht nach Sibirien zurückgehen. Mit großen Schwierigkeiten gelangte sie bis zur Bahnstation Bogotol. Von dort waren es bis nach Tjuchtet noch vierzig Kilometer, aber es gab keine planmäßigen Transportmöglichkeiten dorthin. Und so war sie gezwungen, ohne Essen und ohne Geld, an dem kleinen Bahnhof zu bleiben.
Zum gleichen Zeitpunkt traf ein Schlittenzug mit Getreide aus unserem Askarowka dort ein. Nachdem er das geladene Getreide beim Silo abgegeben hatte, beschlossen die zur Begleitung mitgefahrenen Frauen, zum Bahnhof zu gehen. Unter ihnen befand sich auch meine Mutter. Und so sah sie dort Tante Schura.

Schmutzig und übermüdet lief sie mit ihrem dicken Bauch auf dem Bahnsteig auf und ab und bat um Almosen. Weinend umarmten sie einander. Nachdem Mama ihre Geschichte gehört hatte, brachte sie sie zu ihrem Schlitten und gab ihr von dem zu essen, was sie bei sich hatte. Anschließend hüllte sie sie in einen Schafpelz ein und brachte sie nach Tjuchtet, das der Schlitten zufällig auf seinem Weg passierte.

Und im folgenden Winter, als sie gerade zufällig am Kriegskommissariat vorbeiging, sah Tante Schura meine Mama in einer Menge mobilisierter Frauen stehen. Weinend erzählte diese ihr, dass sie ihr Söhnchen im Dorf bei fremden Leuten zurückgelassen hätte. Außerdem sagte sie dass er auch drei Sack Weizen bei sich hätte. Und da versprach Tante Schura, dass sie mich zu sich holen würde.

Diese beiden Begegnungen bestimmten in vielerlei Hinsicht mein Schicksal.

Noch ist nicht bekannt, wie es sich gefügt hätte, wenn ich im Dorf geblieben wäre, das ich als Sonderumsiedler nicht hätte verlassen dürfen. Ich wäre wohl Analphabet geblieben, wie viele meiner Altersgenossen, die in die entlegensten Gegenden Sibiriens und Mittel-Asiens verschleppt wurden.

Manchmal ging ich mit Schenja auf dem Arm zum Industriekombinat, wo Tante Schura arbeitete. In einer der Werkstätten sah ich mit großem Interesse, wie aus Rinderhörnern kleine Kämme hergestellt wurden. Das Horn wurde von Frauen in kurze Abschnitte zersägt – es entstanden breite Rohre. Diese rohrförmigen Gebilde wurden der Länge nach geschnitten, unter heißem Dampf weichgemacht und mit Hilfe von Gewichten gerade gebogen. Die so entstandene Hornplatte wurde anschließend abgeschliffen und mit kleinen, runden Sägen auf einer speziellen Werkbank einzelne Zacken ausgesägt – und schon hatte man einen Kamm!

Es gab dort auch eine Schusterwerkstatt, wo sie aus weiß gegerbtem Leder Schuhe auf hölzernen Sohlen anfertigten; es gab eine Filzerei, in der aus Schafswolle Filzstiefel gewalkt wurden.

Mitunter nahm Tante Schura mir Schenja weg, gab mir ihren Bezugsschein und schickte mich damit in die Werkskantine. Dort wurde Suppe mit den Innereien von Rindern ausgegeben, die vom Bärlauch grün gefärbt war und mir außergewöhnlich schmackhaft erschien.

Bei Tante Schura wohnte ich bis zum Herbst 1943. Der von mir mitgebrachte Weizen war aufgebraucht, und um meine Kleidung war es ganz schlecht bestellt. Aus den alten Sachen, die wir seinerzeit von der Wolga mitgebracht hatten, war ich vollständig herausgewachsen, und sie war auch schon stark abgetragen. Andere Kleidungsstücke konnte man nirgends beschaffen. Und dazu bat ich noch darum, in die Schule gehen zu dürfen, wo der Unterricht bereits begonnen hatte. Da beschloss Tante Schura mich ins Kinderheim zu geben, das gerade erst in Tjuchtet eingerichtet worden war.


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