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Robert Riedel. Einschränkungen

6. Der Nord-Ural

Der Weg in den Nord-Ural war wirklich nicht einfach. Die Passagierzüge waren lange unterwegs, oft hielten sie an, und in Nowosibirsk und Swerdlowsk musste man sogar umsteigen. Dann blieb ich für gewöhnlich mit unseren ganzen Sachen und dem kleinen Schenja am Bahnsteig sitzen, während Tante Schura von einem Fahrkartenschalter zum anderen lief, irgendwelche Papiere ausstellen ließ und in Erfahrung brachte, wo man auf Reisemarken Essen und Trinken bekommen konnte. So etwas konnte man nur beim Umsteigen erwerben, und während der Fahrt hatten sich bei uns schon etliche dieser Tagesbezugsscheine angesammelt.

In Nowosibirsk hatten wir diese Kärtchen in der Eisenbahn-Kantine bekommen, die etwas abseits des Bahnhofs gelegen war. Wir warteten darauf, ein paar Lebensmittel zu erhalten, aber stattdessen gab man uns einen ganzen Eimer voll Maisbrei und einen halben Eimer gesalzenen Buckellachses.

Auf dem Weg zur Kantine hatte mich die Vitrine eines Geschäfts in Erstaunen versetzt, die mit Käselaiben, ringförmigen Würsten und Schinkenstücken vollgestopft war – das erinnerte mich so sehr an die Zeit vor dem Krieg. Allein beim genauen Hinschauen begriff ich, dass das alles gar nicht echt war, sondern dass es sich um künstlerisch nachgemachte Auslagen handelte.

Viele Laufereien verursachte uns die Sanitätsmaßnahme, ohne die man die Leute nicht in den Zug ließ. Dazu mussten wir uns in eine spezielle Sanitätsstelle begeben (die in Bahnhofsnähe gelegene Badeanstalt). Jeder zog dort seine Kleidung aus und hängte sie am Ärmel oder Hosenbein auf einen Ring aus dickem Stahldraht. Dieser wurde an einen Haken gehängt und dann ging das ganze zum „Durchbraten“, wo die Kleidungsstücke mit glutheißer Luft bearbeitet wurden, um mögliche Insekten zu vernichten. Nach dem Bad erhielt jeder den Ring mit seiner Kleidung, die noch ganz heiß war und ziemlich verbrannt roch, wieder zurück. Und man stellte fest, dass einige Knöpfe bei der Prozedur geschmolzen waren.

Ende Mai 1944 trafen wir in der Stadt Krasnoturinsk ein. Auf dem kleinen Bahnhöfchen nahm uns ein nicht sehr hochgewachsener, breitschultriger Mann mit ausgeprägter Glatze und großer Nase in Empfang. Das war Onkel Christian – Tante Schuras Mann. Nach Umarmungen und Begrüßungen lud er unser Gepäck auf einen Leiterwagen und half uns beim Hinaufklettern. Nachdem er sich neben uns gesetzt hatte, ergriff er die Zügel, und das Pferd setzte sich in Bewegung. Wir fuhren lange, denn wir mussten durch die ganze Stadt. Schließlich hielten wir vor einer einstöckigen, hölzernen Baracke, in der wir von nun an wohnen sollten.

Die altertümliche Siedlung Turinskie Rudniki (Turinsker Bergwerke; Anm. d. Übers.) war erst unlängst in die Stadt Krasnoturinsk umbenannt worden. Unweit der Altstadt schoss die Neustadt in die Höhe; dort wurde auch das Bogoslowsker Aluminium-Werk errichtet (kurz BAW). Die ersten Stadtviertel standen bereits, ein Kraftwerk war in Betrieb, und auch die Tonerdefabrik war bereits am Arbeiten. Die Arbeiter waren leicht zu erkennen – ihre Gesichter und Kleidung waren mit dem roten Staub der Tonerde bedeckt, aus der das Aluminium gewonnen wurde.

In der nahen Umgebung von Krasnoturinsk befanden sich einige Lager des GULAG. In einem von ihnen, das mit Stacheldraht umgeben war, verbüßten Häftlinge ihre Haftstrafe, in anderen Lagern (ebenfalls mit Stacheldrahtzäunen umgeben) befanden sich in die Arbeitsarmee mobilisierte Deutsche, die überhaupt keine festgelegte „Haftstrafe“ bekommen hatten. Sowohl reguläre Häftlinge als auch Arbeitsarmisten waren Arbeitskräfte des BAW, einer Bauorganisation des NKWD, die Industrieobjekte und Wohnhäuser errichtete.

Onkel Christian hatte sich ebenfalls in einem dieser Lager befunden. 1944 begann man bei Trudarmisten, die in Mangelberufen spezialisiert waren, eine gewisse Nachsicht zu üben. Onkel Christian war ein solcher Experte (er arbeitete am Kupolofen in der Gießerei). Er wurde von der ständigen Wachbegleitung befreit – man erlaubte ihm außerhalb des Lagers zu wohnen und gestatteten ihm, seine Familie zu sich zu holen. Allerdings war er verpflichtet, jeden Tag in „sein“ Lager zu kommen, um sich dort zu melden und seine Tagesration Brot zu bekommen.

Bei der Baracke, in der wir uns niederließen, handelte es sich um ein Arbeiterwohnheim, und schon bald darauf begann Tante Schura hier als Kommandantin zu arbeiten.

Nun beschäftigte ich mich weniger mit dem kleinen Schenja – er wuchs heran, und Tante Schura hatte etwas mehr Zeit ihn selber zu beaufsichtigen. Meine wichtigste Pflicht bestand darin, Brennholz für unseren Ofen, sowie Futter für die Ziegen zu beschaffen, die wir wegen Schenja hielten. Mit dem Holz war es leichter – in der Umgebung wurde überall gebaut, und so schleppte ich von dort Bretter und verschiedene Schnittreste heran, die ich dann zu Feuerholz zerkleinerte. Schwieriger verhielt es sich mit dem Ziegenfutter. Im Sommer weidete ich sie in schmalen Gräben und am Wegesrand, manchmal pflückte ich ihr auch Gräser; im Winter sammelte ich an der benachbarten Bahnstation übriggebliebene Heureste von den Laderampen und Waggon-Plattformen – oder ich warf schnell ein bisschen Heu aus den aufgestapelten Heuballen hinüber. Ich wurde so oft wegen zu wenig Futter ausgeschimpft, dass ich eines Tages einen Entschluss fasste und einen ganzen Ballen Heu vom Bahnhof wegholen wollte. Ich weiß nicht, was ein solcher Ballen wiegt, vielleicht war es auch nur ein besonders kleiner Ballen, aber Tatsache bleibt Tatsache – ich, ein elfjähriges Jungchen, rollte mir das Heu auf den Rücken und schleppte ihn bis ganz nach Hause. Das ließ sich auch damit erklären, dass mich die Angst antrieb – ich fürchtete, dass ausgerechnet in diesem Augenblick ein Gewehrschütze um die Ecke kommen könnte.

Und ich hatte auch noch eine weitere Aufgabe zu erledigen – ich verkaufte auf dem Markt Kessel und Töpfe, die Onkel Christian heimlich auf der Arbeit angefertigt hatte. Zusammen mit dem Gießer goss er dieses Kochgeschirr aus Resten des Duraluminiums im Kupolofen, und die Gussstücke schliff zum Schluss ein Drechsler glatt, mit dem sie bekannt waren. Aus den dünnen Duraluminim-Platten schnitten sie eine Art Deckel aus, die dann zu Griffen geformt wurden. Anschließend putzte ich alles mit Schmirgelpapier. Das Kochgeschirr fiel wunderbar aus. Glänzend und dickwandig war es besser als das aus der Fabrikproduktion, welches sich übrigens auch nicht im Verkauf befand.

Ich schlenderte mit meinen Töpfen und Kesseln über den Markt. Die Leute kauften gut. Einmal kaufte ein bedeutender Liliputaner aus dem Theater, das bei uns gerade ein Gastspiel gab, mir ein Kesselchen ab – das war für mich ein Ereignis!

Ich hatte auch ein großes Problem mit meiner Kleidung – sie sah furchtbar schäbig aus, und außerdem war ich sehr schnell aus den Sachen herausgewachsen. Aber all das kam irgendwie in Ordnung – Onkel Horst brachte von irgendwo Soldatenhosen mit, und mit Einsetzen der kalten Jahreszeit, eine graue Wattejacke (wie die Gefangenen sie zu tragen pflegten). Nur mit dem Schuhwerk war es schwierig. Man sagte mir, den Auftrag für Schuhe würden sie in der Verwaltung des Aluminiumwerks geben. Ich suchte alle Bescheinigungen zusammen, aus denen hervorging, dass meine Eltern sich in der Arbeitsarmee befänden, und machte mich damit auf den Weg in die Fabrik.

Als ich Jahre später bei Majakowskij die Zeilen las: „Ich zeigte meine Papiere, die „Iswestija“ verdeckend, und berief mich auf das Allrussische Zentral-Exekutivkomitee der Räte- und Arbeiter-, Bauern- u. Rotarmistendeputierten“. Ich erinnerte mich an seinen Leidensweg, sein Umherirren mit diesem Ausweis; auch ich „zeigte“ meine Bescheinigung, maskierte alles mit der „Arbeit“ und berief mich auf die „Armee“. Sie gaben mir dort tatsächlich einen Bestellschein, und die langersehnten Schnürschuhe erhielt ich ebenfalls.

In Krasnoturinsk lernte ich zum ersten Mal das Alltagsleben der „Lagerstadt“ kennen. Täglich fuhren an unserer Baracke ganze Kolonnen offener Lastwagen zur Baustelle, in deren Wagenkästen Häftlinge (oder Trudarmisten – es war schwierig sie voneinander zu unterscheiden) auf dem Boden saßen, und auf einem hölzernen Brettchen nahe der Fahrerkabine standen mit Gewehren bewaffnete Soldaten. Mitunter ging eine Gefangenen-Kolonne auch zu Fuss vorbei, umgeben von bewaffneten Wachmannschaften und Hunden. Und dann musste man mit ansehen, wie die Leute – aufgedunsen vom Hunger und an Ruhr erkrankt, im Abfall herumwühlten; unter ihnen befanden sich sowohl Häftlinge, als auch Trudarmisten. Man ließ sie hinter dem Lagerterritorium herumlaufen, denn arbeiten konnten sie schon nicht mehr, und dort, wo sie der Tod ereilte, waren sowieso Wachen präsent.

Eine gewohnte Erscheinung für die Stadt waren die Stacheldrahtzäune und Wachtürme an den Ecken. Sie umgaben nicht nur das eigentliche Lager, sondern auch die Baugrube, wo Häftlinge und Arbeitsarmisten arbeiteten. Hinter so einem Zaun war ich in dem Trudarmee-Lager, in dem Onkel Christian registriert war – mehrmals nahm er mich mit dorthin. Und die Wachleute, die ihn recht gut kannten, ließen mich problemlos passieren.

Als ich zum ersten Mal dorthin kam, war es helllichter Tag und das Lager wie leergefegt. Ich war verblüfft über die dort herrschende Sauberkeit und Ordnung. Zu beiden Seiten der Hauptstraße standen in exakten Reihen akkurat getünchte Baracken. Geweißt waren auch die jungen Bäumchen vor den Baracken sowie die niedrigen Umzäunungen um die leeren Frühlingsbeete. Alle Wege waren sauber gefegt, und man hatte auch die Sitzbänke weiß gestrichen. All das erinnerte an die Ordnung, die in einem Krankenhaus üblich war oder an irgendeinen ungewöhnlichen Friedhof. Außerdem war ich äußerst erstaunt, dass die Brotration, die Onkel Christian erhielt, eine Zugabe enthielt, die mit einem Holzpflöckchen an den Brotlaib geheftet war, und in der Brotausgabe, wo wir das Brot ausgehändigt bekamen, lagen die vorbereiteten Portionen (mit Holzpflöckchen oder ohne) „gebunkert“ auf dem Fußboden.

Davon, dass es solche „Lager“ gibt, in denen Leute „sitzen“ , hatte ich erstmalig gehört, als wir uns noch in Tjuchtet aufhielten. Ein blasser, akkurat, aber in alte Sachen gekleideter Mann war zu Tante Schura „auf einen Tee“ gekommen. Die Frauen erzählten, dass er erst kürzlich aus irgendeinem „Lager“ gekommen sei und nun nach Tjuchtet verbannt worden sei. Außerdem sagten sie, er habe eine Strafe „nach § 58“ verbüßt. Ich wagte zu fragen, weshalb er denn eingesperrt worden sei, und er antwortete:

- Wegen nichts.

Natürlich glaubte ich ihm nicht …

Nach wie vor träumte ich vom Besuch der Schule. Am 1. September 1944 begann an den Schulen der Unterricht. Durch Bitten erwirkte ich bei Tante Schura, dass ich in die Schule gehen durfte, in die vierte Klasse. Zwei Wochen später verlangte Onkel Christian, dass ich das Lernen lassen sollte, denn er sei nicht bereit, „einen Schmarotzer zu ernähren“. Und das Rad fing wieder an sich bei mir wieder wie früher zu drehen – Schenja, Brennholz, Ziege, Heu, Kessel und Töpfe.

So verging der Winter. Im Frühling 1945 begann ich schließlich zu rebellieren und sagte, dass ich lernen und deswegen wieder ins Kinderheim zurückwolle. Unsere Baracke sollte abgerissen werden, und man teilte Tante Schura eine Neubau-Wohnung sowie einen Kindergarten-Platz für Schenja zu. Mag sein, dass sie deswegen keine großen Einwände machten – sie konnten schließlich auch ganz gut ohne mich auskommen.

Ich nahm meine Papiere und begab mich zur Städtischen Abteilung für Volksbildung, um meine Aufnahme ins Kinderheim zu erbitten. Die dort arbeitenden Frauen meinten, dass sie mir dabei nicht behilflich sein könnten – dass es in der Stadt kein Kinderheim gäbe, woraufhin ich erwiderte, dass ich von hier nicht eher fortgehen würde, als bis ich einen Platz hätte, selbst wenn ich hier übernachten müsste. Ich richtete mich unter dem hölzernen Vordach der Städtischen Abteilung für Volksbildung häuslich ein und blieb dort den ganzen Tag sitzen (ich hatte ein interessantes Buch dabei – ein Sammelwerk von Erzählungen Pawel Baschows „Die Schatulle aus Malachit“).

Am Abend sagte man mir in Anbetracht meiner Beharrlichkeit, daß sie mich am morgigen Tage irgendwo unterbringen würden, ich jetzt aber nach Hause gehen sollte.

Am nächsten Tag brachte eine dieser Frauen mich ins Internat, das sich in der Stadt Karpinsk (unweit von Krasnoturinsk) befand. Aber das Internat war bereits überfüllt, und so wurde ich nicht aufgenommen. Ich musste erneut nach Hause zurückkehren. Am dritten Tag erhielt ich eine Einweisung in die Kinder-Aufnahmestelle; sie kauften mir eine Fahrkarte und setzten mich in den Zug, der nach Serow fuhr.

***

Viele Jahre später (1958) befand ich mich im Nord-Ural auf Dienstreise. Damals lebte ich in Karaganda und arbeitete auf dem Posten eines Ingenieurs und studierte am Abend-Institut; ich besaß eine eigene Familie. Mit mir war der junge Ingenieur und Eisenbahner Anatolij Aleksejew. Es herrschte Frost, und er trug einen groben, schwarzen, kurzen Pelz mit zottigem Wollkragen, den ein Verwandter vom Lande ihm geschenkt hatte. In diesem Halbmantel sah der lange, dunkelgesichtige Aleksejew mit seinen dicken Augenbrauen aus, wie der Räuber aus einer Operette. Zusammen fuhren wir durch mehrere Städte, waren in Swerdlowsk und Nischnij Tagil. In Karpinsk berichtete ich ihm von Tante Schura, und wir beschlossen sie ausfindig zu machen. Mit dem Linienbus begaben wir uns ins benachbarte Krasnoturinsk. Mit viel Mühe, über die Personalabteilung des Aluminiumwerkes, konnten wir Tante Schura dann schließlich doch finden machen.

Sie lebte in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung im Zentrum der Neustadt. Wir trafen sie zusammen mit Schenja an, der inzwischen bereits 16 Jahre alt war. Die abgemagerte und gealterte Tante Schura war, wie mir schien, über mein Erscheinen weniger erfreut, als vielmehr erstaunt. Sie berichtete, dass Onkel Christian sie schon bald nach meinem Fortgang im Stich gelassen hatte und zu einer Jüngeren gefahren war. Sie selber war einem Usbeken näher gekommen, der sie mit nach Mittel-Asien genommen hatte. Aber sie konnte das dortige Klima nicht vertragen, das Kind, das dort geboren wurde, starb, und sie selber kam auch nur mit Müh und Not durch. Zusammen mit Schenja kehrte sie schließlich nach Krasnoturinsk zurück.

Dort fand sie eine gutbezahlte Arbeit als Motoristin in der leider für die Gesundheit schädlichen Tonerde-Fabrik. Man gab ihr eine Wohnung, in der sie bis heute leben.

Schenja erkannte ich überhaupt nicht wieder – er entpuppte sich als mir völlig unbekannter Halbwüchsiger, der seiner Mutter abgehackte Worte zuwarf und mit uns aus irgendeinem Grund durch die halb geschlossenen Zähne sprach. Nur mit äußerster Mühe konnte man in ihm das so sympathische Jungchen erraten, auf das ich damals aufgepasst hatte.

Ich erzählte Tante Schura von mir, aber diese hörte mir nur ungläubig und misstrauisch zu. In dem Gespräch wiederholte sie mehrfach, dass sie all diese Jahre gedacht hätte, ich könnte ein Krimineller geworden sein. Dabei schaute sie die ganze Zeit über furchtsam den düster dreinblickenden Aleksejew an.

Als sie uns bereits hinausbegleitete, meinte sie, dass sie auch jetzt noch nicht glauben könne, dass ich kein Verbrecher sei. Und wir konnten sie dann letztendlich auch nicht davon überzeugen…


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