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Robert Riedel. Einschränkungen

8. Das „Besserungsheim“

Das Kinderheim, in das man uns brachte, war während des Krieges aus der Nähe von Kiew evakuiert worden. Dort war es ein Besserungsheim für Kinder gewesen, und hier im Ural war das ebenso der Fall (die Ortsansässigen nannten es kurz „Bessheim“). Hier befanden sich minderjährige Kriminelle (bis zum Alter von 14 Jahren), die ganz unterschiedliche Verbrechen begangen hatten (Diebstahl, Teilnahme an Raubüberfällen u.a.).

Für das Kinderheim war ein großer Teil des Schulgebäudes zur Verfügung gestellt worden. Das Gebäude war nicht geeignet für die Unterbringung von Rechtsbrechern, vor allem war es kein isoliertes Territorium – denn in dem gleichen Gebäude war auch die örtliche Schule in Betrieb. Während des Krieges musste man sich damit abfinden, aber gegen Ende des Krieges beschloss man, das Besserungskinderheim zu liquidieren und an seiner Stelle ein gewöhnliches Kinderheim zu schaffen. Dazu mussten etwa hundert kriminelle Minderjährige abtransportiert werden, die nach und nach durch ganz gewöhnliche Kinder ersetzt wurden. Und die erste Partie solcher „gewöhnlichen“ Kinder stellten wir zwei aus der Serower Kinderempfangs-stelle dar.

So kam es also, daß ich wieder in ein neu organisiertes Kinderheim geriet (das erste Mal war das in Tjuchtet der Fall). Wie auch im Tjuchtetsker Heim, in dem noch eine ganze Menge aus der ehemligen „Taubstummen-Schule“ übrig geblieben war, war im neuen Klenowsker Kinderheim praktisch auch alles so geblieben, wie zuvor im „Bessheim“.

Es waren nicht nur die alten Erzieherinnen da, sondern auch die ehemaligen Zöglinge, die gerade erst abtransportiert werden sollten.

Charakteristisch für diese Situation war folgender Fall: vor unserer Ankunft entließen sie den erst kürzlich ernannten Direktor des neuen Kinderheims, den früheren Direktor des „Bessheims“. Er schaffte es nicht, sich die alten Erziehungsmethoden abzugewöhnen und wurde auch am neuen Ort wieder handgreiflich. Besonders gern mochte er den Kinder schmerzhaft mit den Fingen auf ihre kahlgeschorenen Köpfe schlagen.

Das Kinderheim befand sich am Rande der Ortschaft Klenowskoje, das sich über mehrere Kilometer entlang des Traktes erstreckte. Es war ein großes Dorf – damals befanden sich dort vier Kolchosen. Nebenan verlief die Eisenbahn-Magistrale Kasan – Swerdlowsk, und unweit des Dorfes lag die Ausweichstelle Klenowskoje.

Die zweistöckige Schule mit den breiten Fenstern, in denen auch das Kinderheim untergebracht war, stand direkt am Ufer des Flusses Put, unweit der Stelle, an der er in den Fluss Bisert mündet. Gegenüber des Gebäudes am Fluss Put gab es einen Damm mit einer Mühle sowie ein kleines Elektrokraftwerk. Die meterdicken Wände des ersten Stockwerks waren aus Naturstein gebaut – früher stand hier eine Lederwarenfabrik (unter dem Fußboden fanden wir Abflüsse, die zum Fluss führten). Die zweite Etage wurde erst später gebaut und stellte einen unverputzten Holzbau in dunklem Goldfarbton dar.

Dichte Trennwände in den Korridoren der ersten und zweiten Etage trennten das Kinderheim vom eigentlichen Schulbereich. Der Hof war vom Schulhof durch einen langen Zaun abgeteilt. In der entferntesten Ecke des Hofes stand ein hübsches zweigeschossiges Gebäude, hinter dem man die großen Bäume eines alten Gartens sah. Das Gebäude wurde „Herrenhaus“ genannt – irgendwann einmal hatte der Werksleiter der Fabrik dort gewohnt. Jetzt wohnten dort der Direktor des Kinderheims und einige Erzieherinnen. Auch die medizinische Untersuchungsstelle befand sich dort, des Weiteren die Buchhaltung und einige andere Dienstleistungsabteilungen. In der anderen Ecke des Hofs waren Pferdestall und Heuboden untergebracht.

Als wir ankamen, war das Kinderheim leer – in den Korridoren begegneten wir lediglich ein paar jüngeren Kindern, und im Hof spielte eine kleine Gruppe von ihnen. Die älteren Kinder bekam ich erst im Schlafsaal zu sehen, in den eine der Erzieherinnen uns führte. Mir fiel auf, dass dies nicht jene graugesichtige Masse obdachloser Kinder war, die ich in der Kinderaufnahmestelle gesehen hatte. Es handelte sich um kräftige Jungs zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren, und man merkte sehr wohl, dass jeder von ihnen seinen Preis kannte. Sie saßen um den Tisch, auf dem ein Haufen gebackener Kartoffeln lag. Ein kleiner, untersetzter Bursche bat mich an den Tisch und bot mir eine Kartoffel an. Später erfuhr ich, dass das Kipka (Kiprijan) Toporischtschew war, der hier als Hauptanführer fungierte. Sie fingen an mich zu fragen, wer ich sei, woher ich komme und wo ich vorher war. Ich erzählte ihnen, dass ich gern interessante Bücher lesen und neue Soldatenlieder kennen würde. Sie zeigten dafür ein unerwartetes Interesse, baten sogar darum, ihnen eines der Lieder vorzusingen. Ich versprach, diese Lieder mit ihnen einzustudieren und ihnen den Inhalt der interessantesten Bücher nachzuerzählen. Sie selber lasen keine Bücher – einige von ihnen konnten überhaupt nur mit Mühe Buchstaben entziffern und schreiben.

Ich kannte eine Menge Abenteuerbücher und es würde Monate dauern, sie alle zu erzählen. Ich erzählte immer nach dem abendlichen Zapfenstreich, wobei ich von Zeit zu Zeit in die Dunkelheit fragte:

- Wer schläft noch nicht?

Wenn es nur wenige Antworten gab, unterbrach ich meine Nacherzählung bis zum nächsten Abend. In den ersten Tagen übten wir ein paar Lieder ein, und wenn wir danach irgendwohin in Formation geschickt wurden (beispielsweise mit Schaufeln auf den Schultern in den entfernten Gemüsegarten), dann fingen wir ganz selbständig, ohne den ausdrücklichen Befehl der Erzieherinnen an, eines dieser Lieder anzusingen, und die gesamte Kolonne stimmte, einträchtig marschierend, mit in den Gesang ein.

Diese kriminellen Kinder ähnelten nicht jenen Dieben und Räubern, die ich mir immer vorgestellt hatte. Ganz gewöhnliche Jungs! Aber ich wunderte mich, als ich erfuhr, dass ein kleiner, einfältig aussehender Junge Mitglied einer Bande war, die Wohnung ausgeräubert hatte. Er war durch eine kleine Klappe in die Wohnung gekrochen und hatte dann von innen die Tür geöffnet.

Aber nicht alle hier waren Verbrecher. Eines der Jungchen war wegen Flucht aus der Produktionsstätte ins „Besserungsheim“ gebracht worden. Aus der Kinderempfangsstelle hatte man ihn in die Fabrik geschickt, wo er bei derart schweren Arbeiten eingesetzt wurde, dass er es nicht ertragen konnte und davonlief. Er wurde aufgegriffen, und normalerweise hätte ihm anschließend die Verbringung in eine Strafkolonie gedroht. Aber eine medizinische Kommission stellte fest, dass er noch kein vierzehn Jahre alt war und so kam er hierher – ins „Besserungsheim“.

Trotz des recht freien Regimes liefen diese Kinder merkwürdigerweise von hier nicht fort. Offensichtlich war ihnen ihr Aufenthalt hier nur recht – sie hatten ein Dach über dem Kopf, man gab ihnen zu essen und hier, in dieser ländlichen Gegend, konnten sie sich immer zusätzlich etwas Essbares beschaffen.

Aber es gab auch solche, die im Frühjahr wegliefen, im Sommer als Obdachlose herumstreunten und dann zum Herbst wieder zurückkehrten. Das Schema solche Fluchten war einfach. Auf dem benachbarten Ausweichgleis bestieg man einen der Militärzüge, die während des Krieges unaufhörlich gen Westen gefahren waren, an die Front, und nach dem Krieg – gen Osten, in den Krieg gegen die Japaner. Die Soldaten, die ihre Familien schon lange nicht mehr gesehen hatten, waren dem Jungen, der sie bat, sie bis zu irgendeiner Bahnstation mitzunehmen, gern beim Einsteigen behilflich. In den beheizbaren Militärwaggons zu fahren war ungefährlich, und außerdem gab es dort auch immer etwas zu essen. Irgendwo stieg das Jungchen dann aus, und sein freies Leben begann.

Im Herbst, wenn die Kälte einsetzte, erschien der Geflüchtete bei der Miliz und erzählte, daß er aus dem Klenowskojer Besserungsheim fortgelaufen sei. Natürlich brachte sie ihn dann wieder dorthin zurück. Und wenn er Lust dazu hatte, dann wiederholte sich das alles im folgenden Frühling.

Es kam vor, dass Fortgelaufene nicht zurückkehrten. In der Miliz nannten sie einen anderen Nachnamen und erzählten den Beamten eine mitleiderregende Geschichte (ganz sicher von Evakuierung und Bombardierung des Zuges). Man brachte sie zur nahegelegenen Kinderaufnahmestelle und von dort in ein gewöhnliches Kinderheim. Aber nachdem sie dann dort eine Zeit lang zugebracht hatten, kamen sie doch wieder zu uns zurück.

Einer solcher Zurückgekehrten war zuvor in ein Kinderheim geraten, das sich in einer großen Stadt befand. Dort hatten ein strenges Regime und großer Hunger geherrscht. Und man konnte sich auch anderweitig nichts Essbares beschaffen; da war es nicht so wie hier gewesen, da hatte es keine Gemüsegärten, keinen Fluss, keinen Wald gegeben.

Mit diesen kriminellen Kindern bekam ich einen ganz guten Umgang.

- Du wirst der Staatsanwalt sein, - meinten sie, und das war bei ihnen der allerhöchste Titel, den es gab.

Von ihnen lernten wir eine ganze Menge, aber das Wichtigste daran war die Kunst, sich zusätzliche Lebensmittel zu besorgen. Die erste Lehrstunde dieser Art erhielt ich gleich bei der Ankunft. Es war Mai, alle hatten Hunger – in den Gemüsegärten und im Wald war noch nichts gewachsen. Aber die Kinder hatten immer gebratene Kartoffeln vorrätig. Und dann zeigten sie mir, wie sie sie besorgten.

In einem leerstehenden Zimmer im ersten Stock des „Herrenhauses“ waren Kartoffeln gelagert, die eine der örtlichen Kolchosen geliefert hatte. Zur besseren Belüftung stand das Zimmerfenster offen, und es wurde auch nur sehr selten vernagelt. Die Kartoffeln waren ein Stück vom Fenster entfernt ausgeschüttet worden, damit man mit den Händen nicht heranreichen konnte.

Die Jungs zeigten mir eine lange Angelrute, an deren Ende ein großer Nagel festgebunden war. Die Angel wurde zwischen den Brettern hindurch ins Fenster geschoben und dann schoss man damit auf den Kartoffelhaufen. Dadurch konnten mehrere Kartoffeln gleichzeitig auf den Nagel gespießt werden. Dann zog man die Angelrute zu sich heran und konnte die Kartoffeln abnehmen. Und so machten sie es mehrmals nacheinander. Anschließend brieten sie die Kartoffeln im Garten über einem Lagerfeuer.

Sie kannten eine Menge solcher Tricks.

Das Schuljahr war in der Regel Ende Mai zu Ende, aber an der örtlichen Schule, die von den Kindern aus dem Heim und den Kinder der Ortsansässigen gemeinsam besucht wurde, war in diesem Winter eine einmonatige Quarantäne verhängt worden, so dass man diesmal den Unterricht um einen Monat verlängerte.

Einer der Jungs, Schüler der vierten Klasse, schlug mir vor, mit ihm zusammen den Unterricht zu besuchen. Ich hatte sowieso nichts zu tun, und so beschloss ich hinzugehen. Die vorangegangene Stunde wurde noch einmal wiederholt. Der Stoff war interessant, und so blieb ich auch noch zur nächsten Stunde dort. Von da ab ging ich regelmäßig zum Unterricht.

Soja Bonifatjewna, eine schon ältere Lehrerin, bemerkte mein Interesse am Lernen (heranwachsende Heimkinder wollen im allgemeinen überhaupt nicht zur Schule). Sie fing an mir zu helfen und alle möglichen Aufgaben über das gesamte Unterrichtsmaterial zu stellen.

Die Prüfungen für die vierte Klasse standen bevor, die allerersten Prüfungen meines Lebens. Ich bereitete mich eifrig darauf vor. Damit mich niemand störte, ging ich in den Garten, setzte mich ganz oben in die Astgabel eines alten Baumes und lernte dort. Und tatsächlich schaffte ich diese Prüfungen, obwohl ich insgesamt nur einen Monat dem Unterricht beigewohnt hatte. Früher hatte ich bereits ein ganzes Schuljahr verloren (als ich in Sibirien die Schweine gehütet hatte), aber dieses Jahr hatte ich retten können.

Ende des Jahres begann man damit, die ehemaligen Zöglinge des „Besserungsheims“ verstärkt abzutransportieren und andere Partien mit Neulingen heranzuschaffen. Wir hatten bereits einen neuen Direktor, und auch die Mehrheit der Erzieherinnen war abgelöst worden. Und Anfang 1946 hörte das Kinderheim auf ein „Besserungsheim“ zu sein. Und diesmal war das tatsächlich so.


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