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Robert Riedel. Einschränkungen

11. Die Heumahd

Eines Morgens, im ersten Sommer, als wir noch schliefen, weckte uns eine laute Männerstimme:

- Wer kommt mit zur Heumahd?

Noch nicht ganz wach, dachte ich – da gibt es bestimmt was zu essen – und meldete mich zur Mitfahrt. Und Genka Loginow wollte auch mit.

Außer Genka und mir fuhren noch ein paar Erwachsene vom Personal mit, um Heu für die Pferde zu beschaffen – zwei Mädchen, Reinmachefrauen, ein Arbeitsknecht und Wasilij Iwanowitsch, der Wirtschaftsleiter, ein kräftiger Alter mit schwarz-grau meliertem Bart.

Am nächsten Tag stiegen wir auf den Leiterwagen, auf dem sich bereits einige Säcke und Sensen befanden. Nach langer Fahrt über Waldwege kamen wir schließlich auf der uns zugewiesenen Waldwiese an.

Die mit uns eingetroffenen Erwachsenen stammten alle vom Lande, für sie war die Heumahd eine ganz gewöhnliche Angelegenheit, aber Genka und ich machten das zum ersten Mal.

Als erstes bauten wir zwei Laubhütten, eine davon war für die Mädchen bestimmt. Wir wählten den Platz für die Heumahd und separat einen für Genka und mich. Uns beiden händigte man Kindersensen mit kurzen Klingen aus, zeigten uns, wie man sie halten und so mähen musste, dass nachher nicht solche verflixten „Schwänzchen“ (Büschel von ungemähtem Gras) stehenblieben.

Nach zehnminütiger Unterweisung machten Genka und ich uns an die Arbeit.

Nach dem ersten Tag waren wir todmüde. Unsere abgemähte Fläche war kürzer, als die der Erwachsenen, aber trotzdem waren wir hinter ihnen zurückgeblieben – uns fehlte es an Kraft und Routine, und außerdem waren unsere Sensen ja auch nicht so groß. Auf dem letzen Metern hatte ich das Gefühl ich würde gleich umfallen und nie wieder aufstehen. Mit Genka war dasselbe.

Nachdem wir unsere Strecke fertiggemäht hatten, fielen wir kraftlos ins Gras, wo sich bereits die Erwachsenen ausruhten. Nach einer kurzen Verschnaufpause waren wir wieder zu uns gekommen und machten uns daran, mit kleinen Brettchen und einer Mischung aus Pech und Sand (mithilfe von Abziehstangen) unsere Sensenklingen zu schärfen, um dann erneut mit den Erwachsenen einen neuen Streifen abzumähen.

Später hatten wir uns daran gewöhnt, und das Mähen kam uns schon nicht mehr so schwierig vor wie in den allerersten Tagen.

Die Parzelle, auf der wir mähen sollten, befand sich auf einem steinigen Hügel, und unsere Sensen schlugen häufig in Steine eines Abends brachte Wasilij Iwanowitsch die Sensen in Ordnung, versuchte mit einem kleinen Hämmerchen auf dem Amboss die Schneiden „auszubeulen“.

Wenn die Heuhaufen getrocknet waren, begannen die Mädchen sie zu „wenden“, indem sie die dicken Haufen mit hölzernen Rechen umdrehten. Das ausgetrocknete Heu wurde zu Puppen zusammengeharkt, die wir mit Hilfe unserer Pferde an die Stelle zogen, wo die Schober aufgestellt werden sollten. An der Stelle stand bereits ein „Schoberstock“ – eine hohe Stange in der Mitte des geplanten Schobers. Daran lehnte eine Art Zelt aus Stöcken und Laub, kleinere „Stöckchen“ – kürzere Stangen mit Astgabeln an ihren Enden.

Die Schober harkten wir alle gemeinsam zusammen, aber das Heu aneinanderschieben und im Schober aufschichten – das war die Aufgabe des erfahrensten Mannes unter uns – Wasilij Iwanowitsch. Damit das Heu auch trocken blieb, ließ man den Schober innen leer und unten kleine Löcher zur besseren Belüftung. Als die Nächte kälter wurden, legten wir uns dann in diesen Schobern nachts zum Schlafen nieder.

Abends, wenn wir am Lagerfeuer saßen, führte Wasilij Iwanowitsch gern Streitgespräche mit mir und Genka über alle möglichen Themen. Er bewies beispielsweise, dass „Gebildete“, all diese „Professoren“, nichts weiter als Schmarotzer waren und dass sie ihnen, den Bauern, auf der Tasche lägen. Wir versuchten das zu bestreiten, aber es war nicht möglich ihn umzustimmen – auf dem Lande denken wohl alle so wie er.

Da er in uns „gebildete Schmarotzer“ sah, bemühte Wasilij Iwanowitsch sich, uns in Verlegenheit zu bringen, uns in eine Sackgasse zu führen, indem er uns mit boshafter und heimtückischer Miene komplizierte Fragen stellte – warum knistert das Holz in einem Lagerfeuer? Wir antworteten so gut wir konnten, aber Wasilij Iwanowitsch lachte nur in seinen Bart.

Aber trotzdem benahm er sich uns, den Jungs gegenüber gut. Er erzählte uns einiges über den umliegenden Wald, lehrte uns, wie man das Wetter für den nächsten Tag erraten konnte, zeigte uns essbare und giftige Pflanzen, erzählte Fabeln über Wölfe nach, von denen es hier eine Menge gab, über Luchse, welche, wie es hieß, den Leuten auf den Rücken sprängen, über Bären, mit denen die Frauen beim Himbeeren Pflücken aufeinandertrafen. Am benachbarten Flüsschen zeigte er uns eine Stelle, wo er in seiner Jugend Platin gesammelt hatte. Die halb verschütteten Gruben waren von dichtem Gestrüpp aus Himbeersträuchern umgeben.

Im nächsten Jahr waren wir vier Jungs bei der Heumahd sowie ein paar Erwachsene. Genka Loginow war nicht dabei – er litt an irgendeiner chronischen Krankheit, und man hatte ihn zur Behandlung nach Odessa gebracht.

In dem Jahr war der Sommer sehr verregnet und kalt. Das Heu trocknete in den Schobern nicht, es musste viele Male gewendet werden, und auch das Mähen selbst wurde wegen des Regens häufig unterbrochen. Aufgrund der sinnlosen Arbeit und der zwangsweisen Tatenlosigkeit herrschte eine miserable Stimmung. Anders ist uns diese Heumahd nicht in Erinnerung geblieben.

Im Jahre 1947 teilte man uns für die Heumahd eine hügelige Böschung zu, an deren Fuß ein Waldbach floss, dessen Ufer dicht mit Faulbeeren zu gewuchert waren. Weit hinter dem Bächlein erstreckte sich ein alter Kiefernwald.

Wir waren mit insgesamt fünf Jungs dorthin gekommen und als einziger Erwachsener der Erzieher Wasilij Sidorowitsch, ein demobilisierter Offizier, der aus der Gegend stammte (von ihm habe ich bereits gesprochen).

Im unteren Teil des Hügels bauten wir aus jungen Bäumen eine halb überdachte Hütte, deren offene Seite in Flussrichtung zeigte. Wir bedeckten sie mit einer dicken Schicht aus frisch gemähtem Gras und legten damit auch im Inneren den Boden aus. Dann entfachten wir ein Feuer und brieten zum Abendessen Kartoffeln. Wasilij Sidorowitsch zeigte sich spendabel und teilte uns, zusammen mit der Ration, jedem ein Stückchen schmackhafter amerikanischer Wurst aus. Sie befand sich in rot-blauen Dosen mit angeschweißtem Schlüssel zum Öffnen. Übrigens – in der Kantine bekamen wir solche Wurst nicht, wenngleich es sie im Kinderheim ganz offensichtlich gab ...

Vor der Hütte bereiteten wir ein Nuotio-Lagerfeuer vor (nuotio = finnisches Wort für Lagerfeuer; Anm. d. Übers.), bei dem mehrere trockene Stämme übereinander gelegt werden, indem man sie an jeder Seite mit angespitzten Stangen fixiert. So ein Feuer brennt die ganze Nacht hindurch und strahlt eine Menge Wärme aus. Zum Anheizen der Stämme wurden sie ringsum mit dünnem Reisig umgeben.

Bereits zuvor hatte Wasilij Sidorowitsch uns Bescheid gesagt, dass er im Nachbardorf übernachten würde. Die Sonne ging bereits unter, als er fortging und uns eine gute Nacht wünschte. Wir blieben allein zurück.

Es wurde schnell dunkler. Wir zündeten das Kleinholz in unserem Lagerfeuer an und legten uns, nachdem wir uns in unsere Decken eingehüllt hatten, auf das stark duftende Grasbett. Schlafen wollten wir an dem neuen Ort aber nicht. Wir unterhielten uns, beobachteten das glimmende Reisig. Die kleinen Holzstückchen glühten durch, zwischen den dicken Stämmen schwelte bereits das Feuer und beleuchtete schwach die Dunkelheit. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Aus der Richtung des Kiefernwaldes war plötzlich ein welpenhaft kläffendes, halb bellendes Geheul zu hören. Weitere, ebensolche Stimmen kamen hinzu – und dann noch ein paar tiefere Töne. Und es schien, als ob der ganze Wald mit vielstimmigem Wolfsgeheul erfüllt war.

Das schwermütige Geheul der Wölfe flößt einem unfreiwillig Furcht ein, selbst Erwachsenen geht das so, aber wir Jungchen waren ganz allein, uns umgab tiefe Finsternis, die durch das schwache Licht unseres Feuers nur noch verstärkt wurde. Schnell waren wir verstummt und lauschten nun dem Geheul, während wir angestrengt in die Dunkelheit starrten. Plötzlich zeigte einer der Jungs in Richtung Wald und meinte mit gepresster Stimme:

- Wölfe!

In der Finsternis sahen wir kalte, phosphoreszierende Lichtlein, und es wurden immer mehr. Wir hegten keinerlei Zweifel daran, dass dies Wölfe waren, - ihre Augen spiegelten sich in unserem Feuer wieder. Wir sprangen auf, drängten uns am Feuer zusammen und fingen an, trockene, bereits am Morgen zurechtgelegte Zweige ins Feuer zu werfen, um die Wölfe mit den Flammen zu erschrecken.

Hinter den Bergen erhob sich der Vollmond, alles ringsherum erhellend, und die kleinen Lichtlein verschwanden urplötzlich. Erst jetzt begriffen wir, dass das keine Wölfe waren, sondern die nassen Blätter der weiter unten am Hang stehenden Faulbeerbäume, die im schwachen Licht des aufgehenden Mondes glitzerten.

Das Wolfsgeheul brach unvermittelt ab. Es wurde still, nur das Rascheln der Blätter war noch zu hören. Hell loderten im Feuer die von uns hineingeworfenen Zweige. Wir legten uns wieder hin und lachten nervös über das, was wir erlebt hatten.

Irgendwo ertönte plötzlich ein menschlicher Schrei, eher Wehgeschrei. Es war eine Frau, die offenbar von den Wölfen angegriffen wurde. Wir sprangen auf, ohne zu wissen, was wir tun, wie wir ihr helfen sollten. Wir kannten uns bei Nacht in dieser Gegend nicht aus, und Waffen besaßen wir auch nicht. Plötzlich riss das Geschrei ab, und man konnte nur erraten, was der Grund dafür war ... Aber nach einiger Zeit ging das Geschrei erneut los.

- Wenn sie schreit – dann lebt sie, - dachten wir, - vielleicht hat sie sich auf einen Baum gerettet.

Erneut erstarb der Schrei und wiederholte sich wenig später ein weiteres Mal. Die unterbrochenen Schreie ertönten die ganze Nacht hindurch. Und so konnten wir auch die ganze Nacht nicht vernünftig schlafen.

Ich sagte bereits, dass es in jenen Jahren im Mittleren Ural eine wahre Invasion von Wölfen gab. Möglicherweise waren es Polarwölfe, denn ihr Fell war von hellgrauer Färbung. Es war niemand da, der sie hätte erschießen können – in den Dörfern gab es so gut wie keine Männer. Sogar tagsüber rissen die Wölfe Schafe, Kälber und Fohlen. Es gab Fälle, dass sie auch über Kühe und Pferde herfielen.

Gegen Morgen kehrte Wasilj Sidorowitsch zurück. Nachdem wir ihm von unseren nächtlichen Ängsten berichtet hatten, ließen wir ihn auch in aller Freundschaft wissen, dass wir nicht noch einmal allein zurückbleiben würden. Er beruhigte uns und sagte, dass die hiesigen Frauen mit derartigem Geschrei nur die Wölfe erschreckten:

- Wahrscheinlich hat man unweit von hier nachts Pferde weiden lassen. Die Frauen, die dabei immer zu zweit auf die Tiere achtgeben, haben wohl , genau wie ihr, das Wolfsgeheul gehört und angefangen sie abwechselnd durch ihr lautes Schreien zu verscheuchen.

- Das sind die Schreie, die ihr auch gehört habt, - meinte Wasilij Sidorowitsch,

Er erklärte uns auch die Vielstimmigkeit des Wolfsgeheuls.

- Nach allem zu urteilen, befindet sich in der Nähe ein Wolfsbau mit jungen und alten Tieren.

Er befahl uns in militärischen Ton nicht feige zu sein und selber zum Angriff überzugehen.

Mit unseren Sensen bewaffnet bewegten wir uns im Gänsemarsch hinter Wasilj Sidorowitsch her, überquerten den Bach und drangen in den alten Kiefernwald vor, von wo das Wolfsgeheul in der Nacht zu uns herübergetönt war. Natürlich begegneten wir keinen Wölfen, aber wir fanden ihren Bau. Auf einer dicken Schicht Tannenzweige sah man Spuren ihres Lagers, das stark nach Hund roch. Auf Wasilij Sidorowitschs Vorschlag zerstörten wir den Bau mit unseren Füßen.

- Hierher werden die Wölfe nicht wieder zurückkehren, - sagte er.

Und tatsächlich hörten wir die Wölfe danach auch nicht mehr. Nur gelegentlich wurden die Schreie der Frauen zu uns herübergetragen, die in der Nacht ihre Pferde weideten, aber diese Schreie flößten uns dann schon keinen Schrecken mehr ein.

Bei meiner vierten Heumahd (das war 1948) nahmen auch mehrere Erwachsene und mehr als zehn Jungen und Mädchen teil. Wir waren in einem ganzen Lager untergebracht – wir hatten dort drei geräumige Laubhütten – für die Erwachsenen, die Jungs und die Mädchen. Im Zentrum dieses Lagers gab es einen Platz, auf dem das gemeinsame Lagerfeuer entfacht wurde.

Abends kamen alle müde zurück. Nach dem Abendessen versammelten wir uns ums Feuer, ich nahm die Ziehharmonika, und unsere Müdigkeit war wie fortgeblasen. Die Mädchen begannen zu tanzen, und unsere flotten Vierzeiler tönten durch den ganzen Wald. Alle sangen ein Lied, dann ein weiteres. Und erst am späten Abend begaben wir uns endlich zum Schlafen – am nächsten Morgen mussten wir wieder vor Tau und Tag aufstehen.

Diese letzte Heumahd erinnere ich irgendwie wie ein Fest, obgleich das überhaupt nicht der Fall war – es gab von morgens bis abends die schwere Arbeit, es regnete, es herrschte erschöpfende Hitze. Aber in der Erinnerung geblieben sind diese fröhlichen und, wie ich heute meine, glücklichen Abende am knisternd brennenden Lagerfeuer.


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