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Robert Riedel. Einschränkungen

21. Ich – der Bergmann

Ich beendete die Schule (mit ausschließlich hervorragenden Noten) im Jahre 1951. Auf den Abschlussabend bereiteten wir uns gründlich vor, es fanden sich sogar Gelder für einen festlich gedeckten Tisch – wir lieferten einen ganzen Lastwagen voll Altmetall ab, das wir auf dem Gelände einer Fabrik gesammelten hatten. Der Abschlussabend verlief feierlich und fröhlich, es wurde viel getanzt und gesungen. Besonders einhellig ertönten Straßen- und Studentenlieder.

Meine Klassenkameraden fuhren bald darauf in die verschiedenen Städte, um sich dort an einem Institut, einer Universität einzuschreiben. Unsere schulische Vorbereitung war nicht schlecht gewesen, und fast alle studierten später in Moskau, Nowosibirsk, Nowokusnezk und anderen Städten.

Nur wir, drei Deutsche, konnten nicht fahren – die Sonderkommandantur ließ uns nicht. Man sagte uns, dass wir im Höchtfall damit rechnen könnten, nach Karaganda oder eine andere Stadt innerhalb der Region Karaganda fahren zu dürfen, und das auch nur dann, wenn das regionale MWD seine Erlaubnis dazu erteile.

In Karaganda gab es nur ein einziges Institut – das medizinische. Ob man es erlauben würde dorthin zu fahren, wussten wir nicht, aber wir hatten auch gar nicht den Wunsch Mediziner zu werden („ein Leben lang im Krankenhaus“). Für uns blieb nur das Technikum, für das auch der Besuch der Siebenklassenschule gereicht hätte – damit sah es so aus, als ob wir die letzten drei Jahre vergeblich gelernt hatten.

Ohne auf den Kommandanten zu hören, schickten wir unsere Dokumente an das außerhalb der Region Karaganda gelegene Bergbau und Metallurgie-Technikum der Stadt Schtschutschinsk (bei der Benennung des Spezialgebiets gefiel uns das Wort „Buntmetalle“ so gut). Unsere Papiere kamen kurze Zeit später mit dem Vermerk zurück, dass wir unsere Reifezeugnisse nicht beigefügt hätten, obwohl diese selbstverständlich im Umschlag mitgeschickt worden waren. Auf diese Weise wurden wir also schlicht und ergreifend abgelehnt.

Wir unternahmen eine zweiten Versuch – wir sandten die Dokumente nach Karaganda ans Bergbau-Technikum. Dort nahm man die Papiere an – offenbar in der Annahme, dass solche wie wir im Schacht arbeiten könnten. Und hier hatten wir Glück – man nahm uns sogleich in den dritten Kurs auf, in eine der gerade erst organisierten „Zehntklässler“-Gruppen (für diejenigen, die mindestens zehn Klassen Schulbildung absolviert hatten). In den Schachtanlagen fehlte es überall an Spezialisten, und in Karaganda selbst sowie auch in der Region hatten sich eine Menge repressierter Jugendlicher angesammelt, denen der Weg ans Institut versperrt war. Die „Zehntklässler“-Gruppen waren auch zu dem Zweck formiert worden, um aus diesen jungen Leuten schnellstens Schacht-Spezialisten auszubilden.

Die Bergbaustadt Karaganda entstand Anfang der 1930er Jahre gleichzeitig mit dem Bau der ersten Kohle-Schachtanlagen. Hier befanden sich die Siedlungen Fjodorowka, Michajlowka, Tichonowka, Majkuduk, die zu Beginn des Jahrhunderts von Bauern gegründet wurden, die, auf der Suche nach besseren Ackerböden, aus Zentral-Russland gekommen waren. Die Siedlungen befanden sich an der Stadtgrenze und wurden später zu Stadtbezirken. Man brauchte Arbeitshände, und so entstanden die Lager des GULAG, in die man ganze Züge voll „entkulakisierter“ Bauern brachte.

Zur gleichen Zeit wie die Schachtanlagen baute man vor allem auch Baracken und typische Erdhütten. Während des Krieges wurde der Schachtbau stürmisch vorangetrieben, und man trieb viele Menschen hierher, in erster Linie Sonderumsiedler – zuerst Sowjet-Deutsche und dann Kaukasier. Um die Schachtanlagen herum entstanden spontan Bergarbeiter-Siedlungen mit krummen Gassen und schmutzigen Erdhütten. Diese Siedlungen bildeten zusammen mit den zahlreichen Bergwerken und Bebauungen der 1930er Jahre den überwiegenden Teil des damaligen Karaganda – die Alte Stadt.

Abseits der Alten Stadt lag, wie eine Insel in der trockenen Steppe, die Neue Stadt mit ihren geraden Straßen und vielstöckigen Häusern. Bei unserer Ankunft gab es dort etwa 15 Gebäude. Hier befanden sich einige Lehreinrichtungen, unter ihnen auch das Bergbau-Technikum.

Das Bergbau-Technikum in Karaganda galt als eines der besten im Kohlebereich. Es verfügte über hervorragende Hörsäle, nicht schlecht ausgestattete Laboratorien und Lehrwerkstätten. Gelehrt wurde hier von Professoren und Dozenten aus den Reihen deutscher Sonder-Umsiedler und politischer Verbannter. Produktionspraxis erhielten die Studenten in den nahen Schachtanlagen.

In den Schachtanlagen wurden die Absolventen des Technikums bewertet und oft lieber zur Arbeit unter Tage genommen, als die Abgänger eines Instituts aus der Hauptstadt.

Ich wurde Bergbau-Student. Die Gruppe, zu der sie mich hinzurechneten, nannte sich RUM – 51 D, was so viel bedeutete wie – „Abbau von Kohlevorkommen, 1951, Zehntklässler“. In der Gruppe befanden sich ganz unterschiedliche Leute: frisch von der Schule Gekommene (so wie ich), aber auch solche, die schon dreißig Jahre alt waren, also bereits ältere Leute, wie wir meinten, die früher einmal an Instituten studiert hatten. Und ein großer Teil der Gruppe bestand aus deutschen Sonder-Umsiedlern.

An dieser Stelle lohnt es sich zu sagen, dass ein wenig später Igor Loboda zu uns kam – ein gutherziger Bursche, etwas älter als wir. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er es, soweit ich mich erinnern kann, geschafft, irgendwo im Fernen Osten in der Armee zu dienen. Nach Abschluss des Technikums arbeitete er unter Tage und kam ums Leben, als er einen Kameraden retten wollte. Eine der Straßen in Karaganda wurde nach ihm benannt.

Das Studentenwohnheim, in dem ich wohnte, befand sich in einem großen dreigeschossigen Gebäude. Es war nicht schlecht ausgestattet, und Sauberkeit und Ordnung wurde dort von speziell eingestelltem Personal gehalten. Das Wohnheim galt als bestes in der Stadt, was sich leicht erklären ließ – das Technikum war in genügendem Maße „reich“, da es aus Mitteln der Kohle-Industrie finanziert wurde.

Unser Zimmer war für sechs Personen gedacht. Außer mir war hier auch ein Student aus unserer Gruppe einquartiert, der einst am Moskauer Literatur-Institut studiert und unlängst seine Verbannung in Sibirien verbüßt hatte, des weiteren zwei Geologen aus dem zweiten Kurs: einer mit einer Augenverletzung, der aus dem Polargebiet stammte, wo er Abenteuer erlebte, die jeweils mit einer Gefängnisstrafe hätten enden können, der andere – ein hochgewachsener Blondschopf aus dem Moskauer Umland, ein Jungchen, das sich viel auf irgendwelchen Eisenbahnzügen herumgetrieben hatte. Einmal war er bis nach Wladiwostok gefahren, aber auf dem Rückweg hatte man ihn in Birobidschan (der Hauptstadt des Jüdischen Autonomischen Gebiets) festgenommen. Während er davon erzählte, regte er sich auf:

- Du, versteht du das?! Da sind sogar die Milizangehörigen Juden!

Und dann waren da noch zwei Kasachen aus dem ersten Kurs. Nachdem sie aus den tiefsten Tiefen der Steppe hierhergekommen waren, verschwanden sie in aller Eile wieder – entweder hatten sie ihre Ausbildung hingeworfen oder sie wollten möglicherweise an einem anderen Technikum studieren. Einer von ihnen hatte einmal etwas über „städtische Umgangsformen“ gehört. Nachdem er beispielsweise „Entschuldige!“ gesagt hatte, konnte es gut sein, dass er einen im Weg Stehenden beiseite schubste oder ganz ungeniert irgendwelche Gegenstände nahm, die er gerade gebrauchen konnte – ein Zeicheninstrument zum Beispiel. Wenn die anderen Jungs verärgert waren, wunderte er sich nur:

- Ich hab‘ doch „entschuldige“ gesagt, was muss ich denn noch machen?

Der ältere Bruder des zweiten Erstkurslers arbeitete bei irgendwelchen „Organen“. Dieser Organ-Mitarbeiter kam mehrfach in voller Offiziersuniform zu uns und bat darum, dem Bruder beim Lernen behilflich zu sein. Aber wir verfügten nicht über die Kraft, diesen Wunsch zu erfüllen – sein Brüderchen war so schwach im Lernen, dass es den Anschein hatte, als wäre er überhaupt noch niemals in der Schule gewesen.

Unser Studentenleben begann. Wir bekamen eine Bergbau-Studenten-Uniform genäht – eine schwarze, kurze Jacke mit „goldenen“ Knöpfen und schwarze Hosen, dazu einen schwarzen Uniformmantel und eine Mütze mit „Hämmerchen“. Wir trugen diese Kleidung mit großem Stolz; sie war für jeden Tag, aber auch für die Sonn- und Feiertage gedacht (wir hatten sonst keine anderen guten Sachen).

An unsere Lehrkräfte erinnere ich mich mit großer Dankbarkeit. Sie verfügten nicht nur über tiefgründiges Wissen und verstanden es, ihr Fach lebendig zu vermitteln, sondern sie lehrten uns auch ihre Umgangsformen und wie man äußerlich einen guten Eindruck macht. Bergbau-Elektrotechnik unterrichtet bei uns ein stattlicher älterer Deutscher. Während der Pausen wollte ich, wie ich es aus der Schule gewohnt war, in das vor ihm liegende Journal mit den Zensuren schauen. Er wandte sich zu mir um und meinte:

- Junger Mann, es ist nicht gut, fremde Aufzeichnungen zu lesen.

Ich wurde verlegen, und da er sagte lächelnd:

- Schon gut, schon gut, euch trifft keine Schuld – schuld ist eure Erziehung.

Viele Studenten hatten, wie man heute sagt, ein Hobby. Manche trieben gern Sport und verschwanden in der Sporthalle, andere spielten stundenlang Schach oder machten im künstlerischen Laienkreis mit, der am Technikum sehr stark entwickelt war. In unserem Unterhaltungsorchester spielten beispielsweise Studenten, die eine musikalische Ausbildung genossen hatten. Im Streichorchester, in dem ich die Domra-Prima (russische Art der Mandoline; Anm. d. Übers.) spielte, waren manche Jungs einfach virtuos.

Bevor ich zum Streichorchester kam, versuchte ich das Bajanspiel zu erlernen (im Selbststudium). Ein paar Stücke konnte ich schon, aber weiter kam ich dann irgendwie nicht – meine Finger waren eher für das Spiel auf einer Ziehharmonika gemacht, und um ganz allein umzulernen - das war mir zu schwierig.

Mit dem ersten Stipendium erwarb ich einen einfachen Fotoapparat der Marke „Komsomolze“ und fing an, mich für das Fotografieren zu begeistern. Die Aufnahmen waren nicht sonderlich großformatig (sechs mal sechs, wie wir sagen). Später kaufte ich noch so einen Fotoapparat, und baute aus dem zweiten ein Breitbild-Vergrößerungsgerät. Ich nahm die hintere Abdeckung ab und legte stattdessen einige Schichten selbst hergestellten „matten“ (mit Schmirgelpapier behandelten) Glases darauf. Den Fotoapparat befestigte ich an der trichterförmigen Öffnung eines Fässchens aus Weißblech und führte dann durch seinen Boden eine Schnur mit einer elektrischen Lampe. In der Lehrwerkstatt half man mir eine Konsole aus Wasserleitungsrohren anzufertigen. Mein Vergrößerungssystem stellte eine ziemliche grobe Anfertigung dar, aber es funktionierte – ich konnte nun Positive von beliebigem Format herstellen.

Die Fotos entwickelte ich nachts und klebte sie, um einen Glanzeffekt zu erzielen, noch feucht auf Fensterglas. Am Morgen weckte uns dann das Knacken der der von den Scheiben abspringenden Fotografien, die von der Frühsonne endgültig getrocknet worden waren.

Von dem Geld, das ich während des ersten Produktionspraktikums verdiente, kaufte ich eine FED-Kleinbildkamera und ein altes Vergrößerungsgerät. Die Qualität meiner Bilder verbesserte sich, und ich fing sogar an, mir mit der Fotografiererei etwas hinzu zu verdienen. Man lobte mich als guten Fotografen und kam zu mir, um sich in ganzen Gruppen „knipsen“ zu lassen. Aber mein Geheimnis war simpel – ich gab die schlechteren Fotos nie heraus, sondern sagte, die Bilder seien nichts geworden – und dann wurden die Aufnahmen eben wiederholt.

Im September 1952 hatte ich mein erstes Produktionspraktikum. Ich leistete es im alten „Hauptschacht N° 19“ ab. Wir, zwei Studenten, wurden in eine Brigade von Streckenvortreibern eingegliedert, welche die Hauptstrecke vorbereiten sollten – eine große Arbeit im Bergbau. Ein Teil des Orts führte durch Kohle, ein Teil durch harten Sandstein. Mit Elektrobohrern (sogenannten „Widdern“) bohrten wir Löcher, luden sie mit Sprengstoff und Zündern und lösten dann Explosionen aus. Die gesprengte Gesteinsmasse luden wir mit Schaufeln auf Loren, die dann per Hand zum geneigten Schacht geschoben wurden. Mit Hilfe eines Seils und einer Metallstange, an deren Ende ein Haken angebracht war, der an das Ringelschwänzchen eines Ferkels erinnerte, hängten wir die Loren hinter die ständig laufende „Endlos-Seilbahn“, die sie nach oben zog. Anschließend wurde das Ort befestigt (dazu nahm man u-förmige Rahmen aus dicken Stämmen) und der ganze Zyklus wiederholte sich – Löcher bohren, sprengen, usw.

Für uns Jünglinge, die wir über keinerlei Routine und Fertigkeiten für das Arbeiten im Ort verfügten, war dies Schwerstarbeit – und ganz besonders das Aufladen des Gesteins mit Hilfe von Schaufeln. Wir lenkten unsere Aufmerksamkeit auf das untätig herumstehend Kohleverlade-Fahrzeug (das Ähnlichkeit mit einer der heutigen Schneeräum-Fahrzeuge hatte). Es war nicht so kompliziert, seinen schlechten Betriebszustand zu beheben; uns gelang die Reparatur, und für den Rest der Schicht konnten wir das Gestein dann maschinell aufladen. Während der nächsten beiden Schichten ging das Gerät, das nicht für harten Sandstein geeignet war, erneut kaputt, aber wir konnten es ein weiteres Mal reparieren und dann auf mechanische Weise weiter verladen. Und so wiederholte sich das noch viele Male.

Später wurden wir, die Studenten, zum Streckenvortrieb des Wassersammelbeckens verlegt – mit geringerer Kohleförderung. Die Technologie für diese Arbeit war die gleiche, aber die Loren wurden hier mit Pferdestärken zum senkrecht verlaufenden Schacht gerollt. Dafür hatten wir ein kleines Pferd zur Verfügung. Wenn gerade keine Loren fortgezogen werden mussten, kaute das Pferdchen ein wenig abseits auf herrlich duftendem Heu herum, gerade so, als ob es sich in einer ländlichen Gegend befände. Einmal pro Woche wurde es über einen schräg nach oben laufenden Schacht ans Tageslicht gebracht. Im Schacht hingen nicht selten geborstene Träger (Holzbalken) herab, gegen die das Pferd gelegentlich stieß. Deswegen trug es einen Bergarbeiter-Helm aus Fiber-Material mit Ausschnitten für die Ohren, der den Kopf des Tieres schützte.

Die Schichten im Schacht dauerten damals jeweils acht Stunden, und wenn man den Ablauf über Tage (Entgegennehmen der Anweisungen, Inempfangnahme und Abgabe der Grubenlampen und Selbstrettungsgeräte, Waschen in der Kaue) sowie den Abstieg zu Fuß nach unten und den noch viel längeren Aufstieg durch den halbzerstörten, schrägen Schacht nach oben mit dazurechnet, dann betrug die Gesamtdauer der Schicht faktisch zehn Stunden und mehr. Aber ich war jung und steckte allem Anschein nach voller Kraft und Energie, denn ich gewöhnte mich an die Tätigkeit im Schacht, ermüdete nicht, und am Ende des Praktikums gefiel es mir sogar ganz gut, als Streckenvortreiber zu arbeiten.

Beim zweiten Praktikum, dem sogenannten Vordiplom-Praktikum, arbeitete ich als stellvertretender Meister im Kirow-Schacht. An der Abbaufront, wo die Kohle gefördert wurde, vertrat ich die Bergbaumeister an ihren freien Tagen oder versah meinen Dienst in den Reparaturschichten. Für mich gab es hier andere Schwierigkeiten – hier musste während des laufenden Betriebs die Lenkung eines ganz konkreten Arbeitsablaufs erlernen, aber ich machte, besonders am Anfang, auch Fehler. Aber die Brigadiere halfen mir stets, und die erfahrenen Bergarbeiter machten dann alles ganz richtig.

In den karagandinsker Schachtanlagen, die in puncto Gas und Kohlestaub als besonders gefährlich galten, ereigneten sich häufig Methangas-Explosionen, Stolleneinstürze und Brände – und es gab immer menschliche Opfer. Wir wussten das, aber unter Tage denkst du überhaupt nicht an die Gefahren.


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