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Robert Riedel. Das „Karlag“ und die Kartoffeln

Wir schrieben das Jahr 1955, das erste Jahr meiner Arbeit am „Karagandinsker Institut für Bergbauprojektierung“. Damals lebten alle nicht in wohlhabenden Verhältnissen, sondern, um genau zu sein, ziemlich ärmlich, und so war man in den Unternehmen bemüht, die Mitarbeiter in irgendeiner Form zu unterstützen. Eine jener Maßnahmen war die Herbstkampanie zur Gemüsebeschaffung. Die Unternehmen brachten in organisierter Form Gemüse (Kohl, Kartoffeln), die Leute kauften es auf und brachten es säckeweise zu den Häusern – manch einer auf dem Dienst-LKW (eigene Autos hatten sie nicht), und wenn bereits Schnee lag, dann geschah der Transport auch auf Kinderschlitten.

In dem Jahr kam es bei uns zu Stockungen in der Kartoffel-Versorgung – mal wurden sie in einer nur geringen Menge gebracht, mal verkauften sie „zu einem viel zu hohen Preis. Wikmann, einer der führenden Konstrukteure des Instituts, der seine Jahre im „Karlag“ (Karagandinsker NKWD KZ-Lager, befand sich im Dorf Dolinka) „abgesessen“ hatte, schlug vor:

- Wir sollten nach Dolinka fahren, in die „Karlag“-Gemüsegärten, dort kann man bei den Wachen Kartoffeln gegen Wodka bekommen. Ich bin schon einmal deswegen dorthin gefahren.

Kwon, der Leiter unserer Bergbau-Abteilung, schloss sich ihm an und schlug vor, dass auch wir, zwei junge Spezialisten (die meiner Meinung nach eher die Rolle von Ladearbeitern spielten), mitmachen sollten.

Bei der Arbeit stellte man uns einen LKW zur Verfügung, und an einem Samstagmittag (der Sonnabend war damals Arbeitstag) machten wir uns auf den Weg nach Dolinka. Kwon und Wikmann nahmen in der Kabine neben dem Fahrer Platz; sie hatten eine Tasche mit Wodka dabei, den sie zuvor gekauft hatten. Wir zwei richteten uns im Wagenkasten auf leeren Kartoffelsäcken ein.

Wikmann zeigte den Weg, und kurz vor Dolinka bogen wir zu den Kartoffeläckern ab. Dort war tatsächlich gerade die Kartoffelernte im Gange; weibliche Gefangene arbeiteten dort. Aber wie sich herausstellte, waren die Wachen schon nicht mehr dieselben, die Wikmann in Erinnerung hatte. Wir schrieben, ich wiederhole es, das Jahr 1955, Stalin war bereits tot, man war gerade dabei, massenhaft Menschen aus den Lagern zu entlassen, und natürlich wurde auch die Zahl der Mitarbeiter innerhalb der Wachmannschaften reduziert. Deswegen „klammerte“ sich jeder von ihnen, wenn man es so ausdrücken kann, an seinen „Arbeitsplatz“. Auch die Wachen, denen wir begegneten, wollten kein unnötiges Risiko eingehen – sie nahmen den von uns angebotenen Wodka nicht an, und so blieben wir auch ohne Kartoffeln.

Wir standen da und wussten nicht, was wir tun sollten. Einer der Wachmänner trat zu uns heran:

- Morgen wird in Dolinka das Erntefest gefeiert, da kann man Kartoffeln auf dem Kolchosmarkt bekommen, dort sind sie billiger.

Wikmann meinte:

- Ich finde es lohnt sich nicht, mit leeren Händen zurückzukehren. Lasst uns in Dolinka übernachten und morgen zum Markt fahren.

- Und wo übernachten wir?

- Bei meinen Bekannten.

Unser Lastwagen fuhr in Richtung Dolinka. Wir erreichten die Siedlung, als es bereits dämmerte, durchfuhren einige Dorfstraßen und hielten, noch bevor wir im Zentrum , wo das Gebäude der Karlag-Verwaltung aufragte, angekommen waren vor einem Haus, das sich vorteilhaft von den benachbarten Lehm-Stroh-Bauten unterschied. Es verfügte über ein Blechdach, hohe Fenster mit geschnitzten Fensterverkleidungen und ein hochgelegenes Kellergeschoß. Das Haus wies mit seiner Fassade zur Straße, an den anderen drei Seiten war es von einem Garten mit niedrigen Bäumen umgeben.

Wir hielten also auf der Straße an und nachdem wir die aus irgendeinem Grund unverschlossene Tür geöffnet hatten, betraten wir den Hausflur und begaben uns über eine breite Holztreppe nach oben in die Wohnetage.

Oben gab es ebenfalls Türen. Wikmann klopfte an eine von ihnen. Eine Frau öffnete und bat uns, als sie Wikmann sah, einzutreten. Wir kamen in einen Korridor, der mit massiven und, wie mir schien, teuren Möbel vollgestellt war. Man führte uns in ein großes Zimmer, in dem ebenfalls viel mehr Möbel als nötig standen. Inmitten des Zimmers befand sich ein breiter Eichentisch, an dem wir dann auch Platz nahmen.

Die Frau, die uns führte, war etwas über vierzig Jahre alt. Sie hatte ein sonnenverbranntes, hübsches Gesicht, glatt gekämmte dunkle, aber bereits graumelierte Haare, und trug ein bescheidenes schwarzes Kleid. In ihrem Anblick lag, wie mir schien, etwas unbegreiflich Trauriges.

Wikmann kannten sie hier (wahrscheinlich seit der Zeit, als er im “Karlag” „gesessen“ hatte), denn die Hausherrin begann ihn auszufragen und ihm Vorwürfe zu machen, weil er sich so lange nicht hatte sehen lassen. Er versuchte sich zu rechtfertigen; anschließend stellte er uns vor und erklärte, weshalb wir gekommen waren. Die Frau sagte, sie hieße Vera Nikolajewna und fügte hinzu:

- Natürlich könnt ihr hier übernachten, nur zum Abendessen habe ich nichts – nur die Wassermelonen da.

Und sie wies in die Ecke, in der ein paar große Wassermelonen lagen.

Wir dankten ihr und sagten, dass Melonen für uns zum Abendessen völlig ausreichend wären. An dem großen Tisch zerteilten wir eine hellrote Melone, jemand lief los, um die Tasche mit dem Wodka zu holen (um nichts Gutes umkommen zu lassen). Die geschliffenen Gläser wurden für alle zu gleichen Teilen gefüllt.

Plötzlich ertönte unten ein wilder Schrei, kurz darauf lautes Gebrüll, ein Mann schrie. Wir sprangen auf, rannten in den vollgestellten Korridor hinaus, von dort weiter ins Treppenhaus und blieben auf dem obersten Absatz der breiten Treppe stehen. Unten an der Treppe stand ein bis auf die Unterhosen entkleideter Bursche, der den Eindruck vermittelte, als ob er gerade bis aufs Blut durchgeprügelt worden wäre. Während er seine zusammengeballten Fäuste vorschob und sich nach allen Seiten umsah, als ob er bereit wäre die Prügelei fortzusetzen, rief er betrunken:

- Ma-ama“ Ma-ama!

Als er uns bemerkte, hielt er inne und starrte mit irrem Blick auf die Gruppe der im unbekannten Menschen. Das erste, was ihm in den Kopf schoss – sie waren hinter ihm her und wollten ihm noch mehr verpassen. Aber als er unter uns auch Vera Nikolajewna entdeckte, brüllte er aus dem tiefsten (Innern seiner Seele:

- M-a-a-m-a-a!!

Und mit wenigen Sprüngen lief er nach oben. Vera Nikolajewna umarmte ihn schweigend und brachte ihn fort.

Wir kehrten an den Tisch zurück. Alle schwiegen. Schließlich brachte Kwon einen Trinkspruch über die Gelassenheit in diesem Hause aus, und jeder trank sein Glas leer. Sie aßen die riesigen, zuckersüßen Melonenstücke. Und es war das erste und letzte Mal, dass ich, nachdem ich ein ganzes Glas Wodka leergetrunken hatte, dies nicht einmal bemerkte. Und auch die anderen waren, wie man sagt „noch ganz Herr ihrer Sinne“, das kann ich bestätigen. Entweder hatte sich die Erschütterung von dem gerade erst Gesehenen ausgewirkt oder es war das „Verdienst“ der roten Wassermelone.

Mit rotgeweinten Augen kehrte Vera Nikolajewna zurück. Und sogleich fuhr sie aus der Haut. Sie sagte, dass nach dem Tode ihres Mannes (er war im „Karlag“ irgendein wichtiger Vorgesetzter gewesen) alles, wie sie es ausdrückte, zu Asche geworden sei. Man hatte ihren Wohnraum eingeengt, sie hatten die Möbel, die seinerzeit eigens für sie angefertigt worde4n waren, mit hierher nehmen müssen, obwohl der Platz, wie man sehen könnte, dafür nicht ausreichte. Ich dachte – daher also stammen die „teuren“ Möbel – sie waren von Gefangenen angefertigt worden, und offensichtlich hatte es unter ihnen eine genügende Anzahl Kunsttischler gegeben.

Und auch um die Kinder, fuhr sie fort, stehe es ziemlich schlimm. Der ältere, Wolodja, wäre krank geworden – irgendeine psychische Erkrankung. Er geht und schweigt, spricht mit niemandem. Manchmal streune er die ganze Nacht irgendwo herum, auch jetzt wäre er nicht zuhause. Und mit dem jüngeren, Nikolaj, ist es auch nicht gut bestellt – ihr habt ihn ja gesehen. Er trinkt, benimmt sich wie ein Rowdy, hält sich in schlechter Gesellschaft auf, spielt Karten – auch heute hat es dabei wieder eine Schlägerei gegeben. Und schon mehrfach ist die Miliz zu uns gekommen.

Das Gespräch wurde unterbrochen, als Nikolaj auftauchte. Er hatte sich gewaschen und trug einen schönen Anzug. Er setzte sich in einen etwas abseits von uns stehenden Sessel und begann lässig zu rauchen. Man konnte sehen, dass er „Eindruck machen“ wollte.

- Mama, was haben wir denn da für Besuch? – fragte er Vera Nikolajewna.

Sie erklärte ihm – die Leute wären gekommen, um Kartoffeln zu holen. Aber das gefiel ihm aus irgendeinem Grunde nicht.

- Es ist banal –wegen Kartoffeln her zu kommen, - meinte er hochnäsig und verließ das Zimmer.

Er hatte gehofft, dass wir ernsthafte „Freier“ wären, die man sich „vornehmen“ könnte (als „Freier“ werden in der Gaunersprache Personen bezeichnet, die nicht zur Welt der Kriminellen gehören, die von diesen jedoch gern beraubt, betrogen usw. werden; Anm. d. Übers.)

Für unser Nachtlager schlug die Hauswirtin uns dasselbe Zimmer vor; zum Glück standen hier mehrere Diwans, weiche, aber auch solche mit Holzschnitzereien.

- Aber das Auto solltet ihr in den Hof stellen, ich traue Nikolaj nicht, - meinte sie, - und am allerbesten wäre es, wenn ihr den Wagen bewacht. Außerdem ist Wolodja noch irgendwo unterwegs, aber vor ihm braucht ihr keine Angst zu haben – er ist friedfertig.

Natürlich kannte sie ihren Nikolaj besser als wir, deswegen nahmen wir ihren Ratschlag das Fahrzeug zu bewachen durchaus ernst. Wir beschlossen, diesen Wachdienst abwechselnd zu leisten, wobei auf jeden ein Zeitraum von zwei Stunden entfiel. Ich war der Erste, der nach draußen ging, um Wache zu schieben.

Unser Fahrer setzte den Wagen in den Hof um, der sich als ziemlich klein erwies, denn die Bäume reichten ganz dicht ans Fahrzeug heran. Nachdem er uns gezeigt hatte, wo in der Fahrerkabine der Schraubenschlüssel („zur Verteidigung“) lag, ging er fort. Ich kletterte in die Kabine, sperrte von ihnen die Türen zu, prüfte, wie sich die Scheiben öffnen und wieder schließen ließen und „trat meinen Dienst an“.

Beim schwachen Schein des Mondlichts waren die Bäume in einen grauen Nebel gehüllt.

Während ich angespannt in diesen Nebel starrte, befand ich mich in der ständigen Erwartung auf einen Überfall von Nikolajs Bande oder der stillen Erscheinung des geistig verwirrten Wolodja. Mitunter kam es mir so vor, als ob in den Nebelschwaden irgendjemandes Silhouette erschien, aber sie verschwand wieder. Einmal drehte ich mich ungeschickt um, und im selben Augenblick schien es mir, als ob sich ein weißes Gesicht an die Scheibe drückte …

Unter solchen Ängsten verrann der Wachdienst unmerklich wie im Fluge. Erleichtert verließ ich die Fahrerkabine, weckte den nächsten Diensthabenden und legte mich schlafen. Ich erwachte am Morgen, als unsere Gesellschaft sich bereits zur Abfahrt rüstete.

Wir dankten der Hauswirtin, stiegen die Stufen der breiten Treppe hinab und traten hinaus auf die Straße. Ich blickte mich noch einmal nach diesem Haus um und erinnerte mich an die unangenehm schwere Atmosphäre, die darin herrschte, und die ausweglose Tragödie der Frau in Schwarz. Und ich dachte, dass diese Frau und ihre unglückliche Familie vielleicht über all das Leid weinen würden, das tausende Gefangene durchgemacht hatten, als sie von ihrem verstorbenen Mann, einem der Leiter des „Karlags“, „kommandiert“ wurden…

Und die Kartoffeln kauften wir auf dem Kolchosmarkt.


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