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Jewgenij Warkentin. Einschränkungen

Literarische Seiten
Almanach 2009 - 2010

Literarische Gesellschaft der Deutschen aus Russland

Jewgenij Warkentin
geboren 1937 in der Ukraine. Geriet 1943 zusammen mit seinen Eltern in den Warthegau, 1945 – nach Sibirien. Absolvierte die pädagogische Fachschule und das pädagogische Institut.
Arbeitete als Lehrer der russischen Sprache, war anschließend 26 Jahre lang Mitarbeiter der Zeitungen „Freundschaft“ und „Neues Leben“.
Lebt seit 1994 in Deutschland.

„EINSCHRÄNKUNGEN“

Vor mir liegt das kleine, im Selbstverlag herausgebrachte Buch „Einschränkungen“, mit einem Epigraph, das den aufmerksamen Leser sogleich zum Nachdenken zwingt:

Keine leichten Zeiten.
Und die Erinnerung prägt sich nur ein
Bei demjenigen,
Der getragen hat
Diese ganze Schwere
Auf sterblichen Schultern.
Naum Korschawin, 1952

Ein Leser der älteren Generation errät natürlich, dass es sich um ein Buch handelt, in dem es um die Vergangenheit, unser kompliziertes Schicksal, das Schicksal der älteren Generation geht. Ja, um unsere Vergangenheit – damals war der Autor noch ein kleines Jungchen, ein Erstklässler. Er hieß Robert, lebte in einer Stadt an der Wolga und ging oft zum Ufer – um zu baden und vom Wasser glattgeschliffene Steinchen in die Wellen zu werfen und dann zu zählen, wie viele „Pfannküchlein“ er zustande bekam.

Und dann kam der Krieg. Und Robert wurde zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater und anderen in den Osten geschickt, nach Sibirien. Und Robert erinnerte sich für den Rest seines Lebens daran, dass es ein wunderschöner, farbenfroher Herbst war, aber alle, die hierher verbannt wurden, bekamen von dieser Schönheit nicht so recht etwas mit. Er musste vom Vater Abschied nehmen. Er wurde irgendwohin gebracht – Mama sagte : zum Bäumefällen. Der Junge verstand nicht gleich, wozu man Bäume fällen musste. Er wusste nur, dass man Holz normalerweise zersägte.

Bald darauf brachten sie auch die Mutter fort; sie kam ebenfalls in die Holzfällerei, und auf Robert „warteten“ nun die Kinderheime.

Ich will Roberts Schicksal nicht nacherzählen, viele Jahre hindurch hat er das selber getan – er hat überlebt, wurde erwachsen, erhielt eine Ausbildung, wurde zum Spezialisten und lebte jetzt in Deutschland. Hier hat er seinen Kurzroman „Einschränkungen“ geschrieben, der unlängst in der Zeitschrift „Kontinent“ (N° 137, 2008) veröffentlicht wurde. Aber zuerst band er ein paar Exemplare ein und schenkte mir davon eines zur Erinnerung.

Ich muss zugeben, ich habe mit Interesse von seinem nicht leichten Schicksal, über ihn, die Eltern und andere ganz unterschiedliche Menschen gelesen, die ihm auf seinem Lebensweg begegneten. Ich erinnerte mich an Tante Schura, in deren Obhut man ihn zurückließ, und mit der er bald darauf in den Nord-Ural gelangte, nach Krasnoturinsk, wo Tante Schura ihren Mann Christian Horst wiederfand.

Ich musste sofort an diese Stadt denken, weil wir nach Kriegsende nach Kasachstan, in das Dorf Bogorodka, kamen. Und es gab in diesem Dorf einige Familien, deren Männer sich in einem der Lager im Ural befanden. Und unsere Mama schrieb ständig diktierte Briefe an die Männer in Krasnoturinsk. Ein paar Male musste auch ich das tun.

Roberts Hauptpflicht bestand darin, Brennholz für den Herd zu beschaffen, Futter für die Ziege zu besorgen, was in der Stadt keineswegs ein leichtes Unterfangen war. Außerdem gab er auf ein kleines Kind acht und verkaufte auf dem Markt Töpfe, die Onkel Christian in aller Heimlichkeit herstellte.

Aber der heranwachsende Robert begriff, dass er zur Schule gehen musste, dass er in Tante Schuras Familie nichts lernen würde. Und einmal nahm er seinen ganzen Mut zusammen, packte seine persönlichen Dokumente ein und begab sich zur Städtischen Abteilung für Volksbildung. Dort zeigte er Charakter, denn man wollte dort mit ihm nicht sprechen, und so ließ er sich im hölzernen Vorbau nieder und blieb dort den ganzen Tag sitzen und las Baschows „Schatulle aus Malachit“. Und er erreichte, was er wollte. Man nahm ihn im Kinderheim von Klenowskoje auf. Ich wiederhole: er hat sein Schicksal selbst in die Hand genommen. Und es gab viele solcher Momente bei ihm – er musste mehrere Kinderheim, sowohl im Ural, als auch in Sibirien, durchlaufen.

Ich gebe zu, dass ich die Abschnitte über die Kinderheimen, in denen Robert sich aufhielt, mit ganz besonderem Interesse gelesen habe. Es ist nämlich so, daß ich einige Jahre in einem Schulinternat tätig war. Natürlich sind ein Kinderheim jener Nachkriegsjahre und ein Schulinternat der 19780er Jahre ein riesengroßer Unterschied. Aber auch das Internet ist nicht dasselbe wie das Elternhaus, in dem man die Eltern um sich hat, die einem helfen und einen beschützen.

Die Seiten des Buches von Robert Riedel über diesen Zeitraum sind sehr interessant zu lesen, sie sind lebhaft geschrieben, emotional – über seine Altersgenossen, die Erwachsenen, Erzieherinnen, demobilisierte Offiziere. Im Gedächtnis haften geblieben ist Wladimir Petrowitsch, mit dem die Jungs einmal in den Wald gingen, aus Stangen Flöße zusammenfügten und diese dann auf dem Fluss bis zu dem am Ufer stehenden Kinderheim schwimmen ließen. Wladimir Petrowitsch bekam dafür eine gehörige Standpauke, aber die Burschen sprachen für ihn. Und einmal gab es einen Fall, als er ein paar Jungs zusammensuchte, die dann, wie die Ameisen, einen langen Stamm auf ihren Schultern herantrugen. Und sie waren dabei ganz fröhlich, indem sie ausgelassen ein Lied sangen:

Aus dem Wald, aus dem dunklen,
Haben sie den Riesen gebracht.
Sie brachten ihn auf sieben Ochsen.
Er, der Arme, war in Ketten gelegt.

Mich erinnerte diese Geschichte an Anton Makarenko, der in den 1920er Jahren Straßenkinder „geradebog“. Und außerdem an einen Direktor, mit dem ich jahrelang zusammenarbeitete – Nikolaj Sawelewitsch Kobkalo, einen Pädagogen, der uns jungen Pädagogen viel beibrachte – sehr viel sogar. Aber er arbeitete bis zur völligen Erschöpfung und schied früh, viel zu früh, aus dem Leben.

Und der Autor berichtet auch noch über einen weiteren Erzieher – Wasilj Sidorowitsch Utkin, ebenfalls ein Frontoffizier. Von ihm hörte Robert zum allerrersten Mal Gedichte von Sergej Jesenin, von dessen Existenz viele überhaupt nichts wussten. Ja, und Robert konnte nicht wissen, dass der Poet in jenen Jahren verboten war. Wasilij Sidorowitsch nahm den Jungen beiseite und zitierte die Verse auswendig. Robert war begeistert.

Lebst du noch, meine Alte?
Ich lebe auch. Ich grüße dich! Ich grüße Dich!

Es war ein großes Glück, wenn heranwachsende Schüler während ihrer Schulzeit auf solche Pädagogen trafen. Es gab sie auch bei mir – in meiner Dorfschule.

Aber unser Gespräch über das Buch von Robert Riedel, der, nachdem er an sechs verschiedenen Schulen den Unterricht besucht hatte, in jenen Jahren seine mittlere Ausbildung erhielt, absolvierte das Bergbau-Abendinstitut, wurde Kandidat der technisch3en Wissenschaften und in den 1980er Jahren auch Laureat der Staatsprämie der UdSSR.

Während ich an diesem Essay arbeitete, dachte ich ständig darüber nach, dass Robert Iwanowitsch nicht nur überlebte, sondern sich auch in den Kinderheimen mit ihren damals nicht gerade besten Schulen gute Kenntnisse erwarb. Vieles hatte er natürlich von den Eltern mitbekommen, aber in seiner Familie hatte er nur bis zum Krieg verweilen können, und danach musste er dann irgendwie selber „zurechtkommen“.

Meine Gesprächspartner, mit denen ich meine Gedanken zu diesem Buch teilte, erwiderten – das sind die Gene. Zweifellos ist das so. Aber auch die Tatsache, dass ihm auf seinem Weg bemerkenswerte Pädagogen begegneten, zeigte ihre Auswirkungen. Aber auch das ist noch nicht alles: erinnern Sie sich daran, wie der Direktor des Swerdlowsker Technikums mit ihm umsprang – er jagte ihn schlicht und ergreifend fort. Jedoch gab es in seiner Umgebung viel mehr einsichtsvolle, vernünftige Menschen. Ich erinnere mich an seinen älteren Mitschüler am Karagandinsker Technikum – Naum Korschawin, der jetzt ein bekannter Poet ist und in den USA lebt, sowie Alik Jesenin-Wolpin, den Sohn von Sergej Jesenin, einen Mathematiker, der seine Verbannungszeit in Karaganda verbrachte.

Robert Riedel denkt noch heute daran, was für eine wichtige Rolle diese jungen Leute und noch viele, viele andere Menschen spielten, denen er auf seinem Lebensweg begegnete.

Bleibt noch zu sagen, wie Robert Iwanowitsch und ich uns kennenlernten. Dies geschah per Telefon noch im vergangenen Jahrtausend für ein Interview in DER Zeitung „NL“. Damals war er stellvertretender Direktor des Instituts „Karagandinsker Staatliches Institut für die Projektierung von Schachtanlagen“. Und er sagte, dass er schon als ganz junger Mann an der Projektierung des gigantischen Tagebaugebiets „Bogatyr“ in Ekibastus teilgenommen hätte. Es hatte auch andere Objekte gegeben. Abschließend fügte er hinzu, dass all dies möglicherweise für die Neujahrsglückwünsche ziemlich trocken klingen würde, aber es sei eben genau das, womit er und seine Kollegen sich täglich befassten – das sei ihr Leben …

Dortmund, 2009


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