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Wladimir Konstantinowitsch Schawkunow. Erinnerungen

W.K. Schawkunow, Charbin Geboren wurde ich 1918. Eine Zeit lang lebte ich in der Mandschurei in der Stadt Chimgen; ich besuchte eine russische Von 1929 bis fast zum Jahr 1945 lernte ich Japanisch. Danach arbeitete, oder wie man damals sagte, diente ich 11 Jahre in der Firma TSCHURIN als Übersetzer aus der japanischen und chinesischen Sprache. Ich arbeitete in Tschumtschun (1934-1935), in Mukdyn (1936-1937) und ab 1937 in Charbin in einem dreigeschossigen Geschäft an der Schiffsanlegestelle. Im Jahre

1945 marschierte die Sowjet-Armee ein. Japan kapitulierte am 16. August, in den Tagen nach dem 20. August fand irgendwann eine Parade der sowjetischen Truppen statt, und am 28. August kamen nachts Mitarbeiter der Spionage-Abwehrorganisation „Smersch“. Sie brachten mich irgendwohin. Und so verstrichen 10 Jahre und 10 Monate. In einer Vorstadt im Bezirk Tsiantse in Charbin blieb meine Frau zurück, die einen Sohn gebar, als ich bereits nicht mehr zuhause war.

Am 30. September wurden wir in die Sowjetunion abtransportiert. Zuerst nach Gwordejskij oder Nikolsk-Ussurijsk, wie der Ort früher hieß, und von dort dann im Dezember in den Ural, zum WostokUralLag-Komplex, ins TawdaLag. Mir wurde die Nummer I-776 mitten auf den Rücken und links auf die Brustseite der Kleidung genäht. „I“ – das bedeutet Ausländer. Man gab an uns Matrosenjacken, Hanfschuhe und Gummi-Halbschuhe aus der Tscheljabinsker Traktorenfabrik aus, das waren noch nicht einmal richtige Schnürschuhe, sondern ganz einfach am Fuß festgeschnürte Schuhsohlen. Das war ganz traditionelles Schuhwerk, aus dritter Hand, und sehr haltbar. Und im Winter liefen wir in Bastschuhen herum. Bei uns im Lager saßen extra Leute, die diese Bastschuhe flechten konnten. Diese Art Schuhwerk wurde jeden Tag erneut ausgegeben, denn jedesmal, wenn ein Tag zuende ging, waren sie auseinandergefallen. Später fingen sie dann schon an Filzstiefel auszuteilen, auch schon dreiunddreißig Mal getragen – genäht und immer wieder ausgebessert und geflickt.

Jeden Tag gab es eine garantierte Ration von 600 g Brot. Bei Übererfüllung der Norm bekam man 750, 850 bis zu maximal 950 g, aber wer nicht zur Arbeit ging – 300 g. Ferner erhielten die Häftlinge Linsen, Hafergrütze, so eine dünne Perlgraupensuppe und Maisbrei. Sie zwangen uns, einen Sud aus Tannennadeln zu trinken. Das galt als wirksames Mittel gegen Skorbut. Und wir mußten sie selber sammeln.

Die Baracken waren für 120-150 Mann gedacht. Darinnen befanden sich zweistöckige, durchgehende Pritschen die zweifach auf dem Boden angekettet waren. Es herrschte ein strenges Regime – ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach links – und schon der Begleitsoldat ohne Vorwarnung von seiner Waffe Gebrauch. Die Leute wurden einfach erschossen.

Im TawdaLag saßen Japaner, Chinesen, Koreaner. Als man uns aus Charbin fortbrachte, floh ein Koreaner aus dem Zug. Und an der nächsten Station ergriffen sie einen anderen. Sie brachten ihn herbei, fragten nach seinem Familiennamen, und er nannte ihn auch. Und sie sagten: „Wie? Warum lügst du? Der erste war geflohen, und diesen hier hatten Sie aufgegriffen, damit es zahlenmäßig stimmte. Was machte das für sie schon für einen Unterschied aus – zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf, das war doch schließlich auch ein Mensch zum Arbeiten.

1946, im Winter, arbeiteten wir im Wald und mußten Bäume fällen. Und im Frühjahr, als wir nach dem Holzeinschlag schon so entkräftet waren, daß wir, wie man so sagt, unsere Beine nur noch mit den eigenen Händen fortbewegen konnten, da legten sie mich in die stationäre Krankenabteilung, damit ich mich ein wenig erholen konnte. Ich ging damals ins 28. Lebensjahr. Danach schickten sie mich zu Verladearbeiten. Im Jahre 1947 schickten sie mir mein Urteil (das sie bereits 1945 gefällt hatten), aus dem ich dann erfuhr, daß ich nach §58-Absatz 4, 6, 10, 11 und 19 zu 15 Jahren verurteilt worden war. Na ja, 15 Jahre würde ich nicht überleben, dachte ich, und versuchte zu fliehen. Ich, Wassilij Tschikisubow, Wiktor Popow und Nikolaj Tjaschew (aber der war keiner der unseren, der war von hier, ein Ortsansässiger), wir sprangen aus der Zone heraus und flüchteten. Wir hatten nicht vorbereitet. Wenn sie uns töten – dann töten sie uns eben. Ich mußte sowieso wieder in jenem Gefängnis sitzen. Aber es ist gut, daß wir in der Taiga einen Hundeführer getroffen haben. Er war ein ehemaliger Raufbald, wie man sehen konnte, bewaffnet – und wir hatten weder eine Axt noch sonst irgendewtas bei uns. Er fragte: „Habt Ihr was zu rauchen?“ – Und wir antworteten:“Nein“. Und da warf er uns etwas zum Rauchen zu. Wir setzten uns eine Zeit lang hin. Er fragte, wohin wir gehen würden, und ich sah nach der Sonne uns sage: „Dorthin, da ist der Weg nicht so weit, durch die Taiga“. Wir rechneten uns aus, wie es wäre, durch das Altai-Gebirge fortzugehen. Wir gingen los, und kamen sogleich an einer Eisenbahnlinie heraus. Dort liefen sie bereits mit Drillingen (Gewehren mit drei Läufen; Anm. d. Übers.) und mit Maschinenpistolen herum. Sogleich war die ganze Zone umzingelt. Mich und Tjaschew ergriffen sie und fingen an, uns zu schlagen. Der Hundeführer verteidigte uns; er ließ es nicht zu, daß man uns verprügelte. Das war nicht seine Arbeit. Sie steckten uns in den Isolator, wo es nur nackte, mit kleinen Ästen ausgelegte Stangen gab. Dreihundert Gramm Brot pro Tag. Wir saßen hier einen Tag, zwei, eine Woche. Dann riefen sie uns zur Gerichtsverhandlung und erhöhten unser Strafmaß noch einmal. Sie brachten uns in einer gesonderten Baracke unter, in der nur Rezidivisten (wiederholt Verurteilte; Anm. d. Übers.) lebten. Wanzen! Flöhe und Läuse gabe es allerdings nicht, aber diese vielen Wanzen! Während ich dort war, hielten sie einem die Hände fest und stachen ihm buchstäblich die Augen heraus – dafür, daß er sich irgendeiner Sache schuldig gemacht hatte. Zwei hielten ihn fest, und einer riß ihm die Augen aus. Vor aller Leute Augen. Und wie sie uns auch als Faschisten beschimpften. Plötzlich wurde die Baracke zur Entgasung geschlossen – um die Wanzen auszuräuchern. Man brachte uns in die normale Zone, in der kein verschärftes Regime herrschte. Und dort erklärten wir dann, daß wir in einen Hungerstreik treten wollten. Vier waren wir insgesamt. Sieben Tage und Nächte aßen und tranken wir nichts – ein trockener Hungerstreik. Unser Urin war bereits ganz blutig. Auf den Armen trug man uns in die Krankenstation. Dort päppelte uns Major Poliwin oder Boliwin, man wußte nicht genau, ob er Este oder einer aus dem Westen war, mit Hühnerfleisch und Brühe wieder auf, wir kamen wieder ein bißchen zu Kräften. Ungefähr einen Monat lagen wir dort; dann ging es zurück in die gewöhnliche Zone.

Im Straflager, daran kann ich mich noch erinnern, war es schon Herbst, Matschwetter, man ging in Bastschuhen zur Wache – zieh dich aus, mach Gymnastik – das war so eine Art Filzen, um herauszufinden, ob man irgendetwas bei sich hatte. Dann zieh dich wieder an und geh in die Taiga.

Und als ich in Asanka war, da brach ich mir beim Verladen von Holz das linke Bein.

Doktor Karmalenko behandelte mich. Man sagte von ihm, daß er angeblich Beteiligter oder Mittäter an der Vergiftung Maxim Gorkijs gewesen war. Er kurierte mich ziemlich schnell, und bis heute hat das Bein nicht mehr wehgetan, obwohl es zwei Brüche gegeben hatte: einen offenen und einen geschlossen.

In Asanka waren wir ungefähr 1500 Mann. Einige Männer kamen aber gar nicht erst bis dahin – sie starben unterwegs. In dem Waggon, mit dem ich fuhr, starben neben mir ein alter Mann und noch ein paar andere. Und im Lager starben jeden Tag bis zu zehn Häftlinge. Sie wurden hinter der Zone begraben. Ich erinnere mich noch an Maximenko; so ein gesunder Bursche – und der beging einen Fluchtversuch. Sie töten ihn. Ich habe seinen Leichnam höchstpersönlich gesehen.

W.K. Schawkunow, WichorewkaIm Jahre 1948 sprachen sie ein neues Urteil aus, 25 Jahre sowie 5 + 5. Das hieß 5 Jahre Verbannung und 5 Jahre Entzug aller bürgerlichen Rechte, ohne Besitz der sowjetischen Staatsbürger-schaft. Nach der Flucht Artikel 58-4, 58-3, das änderten sie in § 82 um – Fluchtversuch; und dann schickten sie mich noch tiefer in die Taiga. Dort stand nur eine einzige Baracke; wir nannten sie „Blinows Schloß“. Das war Tawda in der Region Swerdlowsk. Irgendwann Ende der 1940er Jahre brachten sie uns ins TajschetLag, von dort nach Wichorewka, von Wichorewka in die 043-er Arbeitskolonne - zuerst Anseb; und dann schickten sie mich als Bauarbeiter nach Taijschet. Dort führte ich eine Brigade von 50 Mann. In der ersten Zeit ließen sie uns in den Bereich hinter der Zone gehen, wir bauten Tajschet, genauer gesagt: wir erneuerten den „Koloß“, das sogenannte Haus der Kultur. Später verlegten sie mich zu den Zentralen Reparatur-Werkstätten, wo ich ebenfalls Brigadier war. Hier nahmen wir alle Gebäude-Reparaturen vor. Von dort holten sie uns bereits irgendwann Ende 1953 weg und brachten uns 1954 zurück nach Wichorewka. Dort arbeiteten wir in der Hilzbeschaffung und fällten Bäume.

Man begann schon mit den Freilassungen. Die ersten Chinesen und Japaner durften abfahren, aber wir blieben zurück. Meine Brüder, Schwestern und meine Mutter wußten, daß ich am Leben war, sie freuten sich, packten ein paar Sachen zusammen und kamen hierher gefahren, auf das unberührte Neuland nach Barabinsk. Und als die Entlassungskommission eintraf, da ließen sie mich zuallererst frei. Es hatte eine Amnestie gegeben. Alle wurden von ihren Strafparagraphen freigesprochen, und es berührte alle Paragraphen. Ich fragte: „Und wohin kann ich nun gehen?“ – „Na, wohin sie wollen“, sagten sie. „Wenn du willst, dann fahr in die Mandschurei zurück!“ Ein paar von uns fuhren auch: Keschka Afonow, Agejew. Aber meine Mutter machte meine Schwester ausfindig, und sie zogen nach Tscheremchowo um, und meine Frau, Soja Alexandrowna Nikolskaja, lebt heute in Nachodka. Ich fuhr mit der Mutter nach Tscheremchowo, wo wir eine Zeit lang lebten. Dann machte sie ihre Schwester, unsere Tante, ausfindig, und wir fuhren nach Krasnojarsk. Alle drei Monate mußte ich mich als Ausländer einmal registrieren lassen, in einem kleinen Häuschen in der Straße der Diktatur 23.

W.K. Schawkunow, 17.02.90, Interview Irgendwann im Juni 1960 stellte ich einen Antrag auf Erhalt der sowjetischen Staatsbürgerschaft, und am 3. November  erhielt ich bereits einen russischen Paß, hier in Krasnojarsk,  sowie einen Militärpaß. Meine Mutter, die Brüder und Schwestern hatten die Staatsbürgerschaft noch in Charbin angenommen, aber ich lebte drei Jahre als Staatenloser, weil ich sie nicht annehmen wollte. Zu jeder beliebigen Zeit konnte ich abreisen. Jetzt läuft schon seit drei Jahren zwischen mir und Nikolaj

Grigorewitsch Bandura, dem Direktor des spezialisierten Fahrzeugzentrums ein Rechtsstreit. Er hat mich als Vaterlandsverräter beschimpft. Und was für ein Verräter bin ich? Und so bin ich gegen ihn vor Gericht gezogen. Bis keine Entscheidung gefallen ist, gehe ich auch keiner Arbeit nach.

Aufgezeichnet von Alexej Babij, Jelena Porochnjawaja,
Krasnojarsker Gesellschaft MEMORIAL

Seehe Ein japanischer Onkel macht seine russische Nichte ausfindig!


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