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Boris Smirnow. Erinnerungen

Boris Pawlowitsch Smirnow, ein Mensch mit einem schweren und tragischen Schicksal, wurde am 16. Juli 1891 in der Stadt Krasnojarsk geboren. Sein Vater, Pawel Stepanowitsch, Pharmazeut von Beruf, Absolvent der Kasaner Universität, war Mitglied der Krasnojarsker Stadtverwaltung und später Oberhaupt der Stadt Krasnojarsk.

Boris Pawlowitschs Mutter, Sofia Iwanowna, widmete ihr Leben, nachdem sie die Bestuschewsker Kurse (erste Frauen-Universität Rußlands, die 1878 eröffnet wurde) in Petersburg beendet hatte, ihrer Familie und zog insgesamt drei Söhne groß.

Im Jahre 1909 schloß Boris Pawlowitsch seine Schulbildung am Krasnojarsker Knaben-Gymnasium ab und wurde im September desselben Jahres zum Studium an der Tomsker Universität, an der juristischen Fakultät, eingeschrieben. Der Beruf eines Juristen zog ihn jedoch nicht in seinen Bann, so daß er 1912, im dritten Studienjahr, die Universität verließ.

Das Jahr 1914 ... Der erste imperialistsche Krieg brach aus. 1915 wurde Boris Pawlowitsch in die Armee einberufen und an die Irkutsker Militärfachschule geschickt. Nach der Ausbildung in Schnellkursen, als er bereits im Dienstgrad eines Leutnants stand, ging er mit der Armee Koltschaks, die sich in Sibirien formiert hatte, an die Front.

Als ehemaliger Soldat der Koltschak-Armee war Boris Pawlowitsch in den Jahren 1917-1920 Repressionen ausgesetzt. Von 1921 bis 1924 arbeitete er als Sekretär der Krasnojarsker Geographischen Gesellschaft, danach im Unionstransportwesen. 1930 wurde er verhaftet, 1934 freigelassen. Nicht lange währten diese Freiheit und seine Arbeit als Planer und Wirtschaftler – 1937 wurde Boris Pawlowitsch zu einer Strafe von 10 Jahren verurteilt. Gefängnis, Lager – zuerst an der Station Katscha, dann in Kemtschug.

Vor dem zweiten Weltkrieg wurden die Häftlinge aus den sibirischen Lagern in die nördlichen Lager des europäischen Landesteiles verschickt, die Gefangenen aus den Lagern des europäischen Teiles – nach Sibirien. Boris Pawlowitsch geriet in die Republik Komi. 1947 kehrte er nach Krasnojarsk zurück, mit der offiziellen Anordnung, sich an einem Wohnort niederzulassen, der nicht näher als 50 km an der Eisenbahn-Magistrale lag. Das Dorf Bolschoj Uluj in der Region Krasnojarsk war für Boris Pawlowitsch so ein Ort; hier war er der Aufsicht der örtlichen Kommandantur des MWD unterstellt. Außer Boris Pawlowitsch befanden sich in Bolschoj Uluj noch ein paar Leute, die aus Lagern eingetroffen waren. Hier wurde allen, die gewillt waren, eine Arbeit verschafft. Boris Pawlowitsch arbeitete anfangs als Kontenführer in der Kreis-Butterfabrik, anschließend in der Maschinen- und Traktorenstation (MTS); mit Hilfe eines Zimmermannes der MTS baute er aus einem vernachlässigten, unansehnlichen Badehaus ein Häuschen, wohin im Sommer, während des Urlaubs, seine Frau und seine Tochter kamen (Boris Pawlowitschs Sohn war 1943 bei den einsetzenden Kämpfen am Orlowsko-Kursker Bogen ums Leben gekommen).

Bolschoj-Uluj – ist ein Taigadorf am Ufer des Flusses Tschulym. Im Sommer kann man dort gut baden, und es gibt Beeren und Pilze in Hülle und Fülle.

B.P. Smirnow wohnte bis 1953 in Bolschoj Uluj. Als N.S. Chruschtschow an die Macht kam, wurde er vollständig rehabilitiert. Ihm wurde eine Geldsumme als Lohn für seine Arbeiten, die er in den Lagern geleistet hatte, ausgezahlt. Mit diesen Geldmitteln schaffte Boris Pawlowitsch sich ein Gartengrundstück mit Gemüseanbau an, und im Winter beschäftigte er sich mit Toponimik (Ortsnamenkunde; Anm. de. Übers.). Die Krankheit und der Tod seiner Ehefrau (1964) setzten seiner Geschäftigkeit ein jähes Ende. Nach dem Tode seiner Frau befand sich Boris Pawlowitsch die meiste Zeit über allein in der Wohnung, las viel, schrieb Gedichte und Prosa und interessierte sich für Medizin.

Wenn Boris Pawlowitschs Leben anders verlaufen wäre und er, wie er selbst sagte, statt auf die juristische Fakultät zu gehen, ein Medizinstudium absolviert hätte, dann hätte er Gelehrter und Forscher werden können, aber das Schicksal wollte es anders.

Boris Pawlowitsch starb am 13. September 1984 im Alter von 93 Jahren.

W. Smirnowa

 

14.04.1967

Nicht nur einmal habe ich mich daran gemacht, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Und jedesmal habe ich das Vorhaben wieder verworfen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Der Hauptgrund aber war, daß es schwerfällt, sich an das Durchgemachte zu erinnern. Und dann auch noch die zweifelnde Frage – wem nützen sie? Wer wird sie lesen? Werden sie nicht in den Ofen geworden? Ich bin kein Literat, kein Künstler oder Schauspieler, kein Mensch des politischen oder gesellschaftlichen öffentlichen Lebens. Aber jetzt haben sie dort oben ganz andere Gedanken im Kopf. Ich bin Zeuge der Ereignisse, die sich in einem Dreiviertel-Jahrhundert zugetragen haben. Ich habe nichts Schlechtes getan, nichts verbrochen. So mögen diese meine Erinnerungen meine einzige, wenn auch unbedeutende Tat sein - auf den Spuren meines Lebensweges, der übrigens allem Anschein nach bald zuende gehen wird. Ich bin der Meinung, daß ich in meiner frühen Kindheit anfangen muß. Eigentlich sogar noch früher – bei meinen Vorfahren.

Leider weiß ich nur sehr wenig über sie. Und dieser bedauerliche Tatbestand betrifft nicht nur mich, sondern die überwiegende Mehrheit unserer, und nicht nur unserer, Generation. Irgendwie kommt es mir so vor, daß dies in Zukunft anders sein wird. Die Menschen werden über ihre Vorfahren Bescheid wissen. Und die Vorfahren werden ihrer Nachkommenschaft ihre Tagebücher und Erinnerungen hinterlassen. Ich weiß nur wenig über meine Eltern, über ihre Jugendzeit, noch viel weniger – über meine Großväter und Großmütter, und so gut wie nichts über die Urgroßeltern. „Faul und träge sind wir, und wenig wißbegierig“. Mein Großvater väterlicherseits entstammte dem geistlichen Stand und war selber Priester; gegen Ende seines Lebens hatte er als „protoierej“ (orthodoxer Erzpriester; Anm. d. Übers.) eine gehobene Stellung inne. Undeutlich erinnere ich mich an eine Erzählung des Vaters, nach der sein Großvater mit seiner Familie auf Leiterwagen ins Tomsker Gouvernement gekommen war, wodurch sich die ganze Reise über zwei Jahre hinzog. Der Urgroßvater hieß mit Nachnamen Stepanow, sie nannten in Grigorij. Mit dem eintritt seiner Söhne ins Tomsker Priesterseminar nahmen sie alle den Nachnamen Smirnow an. Der Urgroßvater ließ sich nicht in der Stadt Tomsk selbst nieder, sondern in einem der Dörfer des Tomsker Gouvernements. Wie das Dorf hieß, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Großvater hatte mehrere Brüder und eine Schwester namens Anna Grigorjewna. Einige Brüder beendeten das Tomsker Priesterseminar und wurden Priester. Aber es gab auch welche, die den Stand der Geistlichen verließen. Anscheinend war ein Bruder sogar Artist. Der Bruder meines Großvaters, Afanasij Grigorjewitsch Smirnow, beendete die Priesterakademie und wurde Lehrer am Priesterseminar. Seine Tätigkeit als Vorsitzender des Russischen Volksverbandes erlangte im Jahre 1905 traurige Berühmtheit. Er wurde von Terroristen verwundet und starb bald darauf. Er hatte zwei Söhne – Wsewolod und Erasm – sowie eine Tochter mit Namen Konstanzija. Wsewolod war Geschichtslehrer am Krasnojarsker Gymnasium. Er starb 1932 in Tomsk, war Insasse eines Lagers. Erasm lebt auch heute noch mit seiner Familie in Moskau. Konstanzija Afanasjewna war eine hochgeschätzte Pädagogin; sie unterrichtete Geographie. Sie starb vor gar nicht langer Zeit im Alter von 83 Jahren an Leberkrebs. Wsewolod hatte zwei Töchter, die sich immer noch bei guter Gesundheit befinden. Eine von ihnen lebt in Krasnojarsk (ich glaube, sie heißt Ljudmila), die andere lebt mit ihrer Familie in Moskau. Ljudmilas Sohn ist in auffallendem Maße degeneriert. Von allen übrigen Verwandten meines Großvaters weiß ich nichts und kann mich auch an nichts erinnern.

Der Großvater selbst – Stefan Grigorjewitsch Smirnow – beendete das Tomsker Priesterseminar im Jahre 1850, diente als Priester in der Ortschaft Ust-Erba im Krasnoturansker Kreis, als Erzpriester in Abakan, setzte sich dann zur Ruhe und lebte zurückgezogen in Atschinsk. Er starb anscheinend im Jahre 1904 in Jenisejsk bei seiner Tochter Alexandra Stepanowna Ugrjumowa. Irgendwie machte ich mich daran, die Biographie meines Großvaters zusammenzustellen, aber auch jene spärlichen Kenntnisse, die es mir zu sammeln gelang, sind im Verlaufe der Durchsuchungen, Umzüge und anderer Störungen, die unserer Familie widerfuhren, verloren gegangen. Alle Bücher, die meinem Großvater zugefallen waren, sind ebenfalls abhanden gekommen, mit Ausnahme eines kirchlichen Monatsbuches aus dem Jahre 1852. Auf den sauberen Blättern dieses Buches befinden sich eigene handschriftliche Notizen des Großvaters über Familienereignisse – Geburten, Eheschließungen, Todesfälle und ähnliches. Ich begegnete dem Großvater zu der Zeit seines Lebens, als er bereits alt und gebrechlich war, und vermag deshalb nicht über seinen Verstand zu urteilen. Ich weiß lediglich, daß er ein aufrichtig gläubiger Mensch war. Die wenigen Briefe, die er an den Vater schrieb und die ich aufbewahrt hatte, sind später ebenfalls verloren gegangen. Er war mit Anna Nikititschna Loginowa verheiratet, entweder die Tochter oder das Pflegekind des Offiziers und Hauptmanns Loginow. Sie war Alkoholikerin und starb im Alter von 35 Jahren. Großvater starb mit 73 oder 75 Jahren, das heißt er lebte genauso lange, wie ich jetzt gerade alt bin. In seinen letzten Jahren war er ganz verwirrt un gebrechlich, alles vergaß er. Er war ein hochgewachsener, wohlbeleibter Mann. Die Leute sagten, daß er in seiner Jugend über große körperliche Kräfte verfügt hätte – er hatte mit den Fingern Fünfkopekenstücke aus Kupfer zusammengedrückt und manchmal ein Kutschenrad so stark festgehalten, daß sich das Fuhrwerk keinen Zentimeter von der Stelle bewegte, obwohl drei Pferde davorgespannt waren. Von den in der Familie des Großvaters geborenen Kindern überlebten nur drei – mein Großvater, Pawel Stepanowitsch Smirnow, und die Tanten Alwxandra und Jewdokia. Vom Vater erzähle ich später. Beide Tanten heirateten, wie es die Tradition verlangte, einen Geistlichen. Alexandras Mann war ein tief gläubiger, stiller und guter Mensch. Eigene Kinder hatten sie nicht, und so zogen sie fremde auf. Den Ehemann von Tante Jewdokia habe ich nicht gekannt. Ich weiß lediglich, daß er Alkoholiker und Vater einer zahlreichen Nachkommenschaft war, die zur erwähnen sich ebenfalls lohnt. In der heutigen Zeit ist es üblich, über Priester, Popen, wie sie verächtlich genannt werden, wie über Nichtstuer, Trunkenbolde, Wüstlinge, wie über Menschen zu reden, die es lieben, den Verstand zu verderben, indem sie über Gott sprechen, an dessen Existenz sie selber nicht glauben. Ja, natürlich, es gab alle möglichen Geistlichen, aber keiner von ihnen war schlecht, sondern gut. Es gab viele wahrhaft Gläubige. Die überwiegende Mehrheit der Dorfgeistlichen säte sogar selbst, pflügte und mähte Heu. Der Geistliche im Dorf war häufig der gebildetste Mann und ersetzte oft den Arzt. Die christliche Lehre war eine Lehre für das Gute, nicht für das Böse. Aus dem geistlichen Stand ging ein großer Teil unserer vorrevolutionären Intelligenz, Literaten und Gelehrten hervor.

In jedem Stand, in jedem Clan, in jedem Kollektiv gibt es sowohl gute als auch schlechte Menschen. Aber jetzt ist es üblich, alles zu vereinfachen. Nach dem simplen Schema: Popen, Kaufleute, Gutsbesitzer – alles Lumpen, Arbeiter – das sind ehrbare, gute Leute. Ausnahmen sind sehr selten. Tatsächlich ist alles viel komplizierter.

Mit dem Popenstand war es Ende der 1920er Jahre aus, als hunderttausende Geistliche nach Kem fortgeschafft wurden und dort an Hunger und Krankheiten starben. Lediglich den Denunzianten und den Leuten, die falsche Aussagen machten, wurde kein Schaden zugefügt.

Und nun zu den Nachkommen von Tante Jewdokia. Der Familienname ihres Ehemannes war Koschkow. Wie ich bereits sagte, war er Alkoholiker und starb früh. Sie hatten drei Töchter und vier Söhne. Wahrscheinlich gab es noch mehr Kinder, aber sie starben bereits im Kindesalter. Alle Töchter studierten an der Eparchial-Fachschule. Die älteste starb, als sie bereits erwachsen und verheiratet war. Die jüngste starb im Backfischalter. Die mittlere – Anna – zeigte noch als Studentin großen Erfolg mit Handarbeiten. Nach Beendigung ihres Studiums heiratete sie mit kühler Berechnung einen ältlichen kaukasischen Offizier. Sie hatten zwei Kinder – einen Jungen und ein Mädchen. 1914 kam ihr Mann an der Front ums Leben, und die junge Witwe heiratete zum zweiten Mal – einen Handlungsreisenden der Firma „Schwendel“ (Manufaktur). Mit ihm fuhr sie nach Moskau und ließ die Kinder bei ihrer Mutter zurück. Der Sohn starb, als er 12 Jahre alt war. Was aus der Tochter geworden ist, weiß ich nicht. Kann sein, daß sie zur Mutter fuhr. Als die Revolution begann, befanden sich Anna und ihr Mann, die in Firmenangelegenheiten unterwegs waren im Ausland, wie es scheint – in Persien. Was aus ihrem Mann geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Sie aber geriet nach Paris und fing dort in einem Modeatelier an zu arbeiten. Nach wenigen Jahren war sie bereits Firmenchefin und mit ihren Ideen ausschlaggebend für die Pariser Mode. Von den Söhnen starb Stepan, der jüngere, noch als Junge. Alexander war in der Buchhaltung tätig und wurde 1937 Opfer von Repressionen. Scheinbar ist er noch am Leben, aber ich komme mit ihm nicht zusammen und weiß nichts weiter über ihn. Lange Zeit bin ich auch Grigorij nicht mehr begegnet. Er war Facharzt für Geschlechtskrankheiten in Atschinsk. Vor 4 oder 5 Jahren wurde in der Zeitung über ihn geschrieben, ob er jetzt auch noch am Leben ist, weiß ich nicht. Eine Zeit lang, während meiner Jugendjahre, war er mein Kamerad, brachte mir das Balalajka- und Mandolinenspielen bei. Er war ein ernsthafter und guter Mensch. Was Konstantin, den älteren betrifft, so spielte der eine große Rolle im Leben unserer Familie, aber es war eine negative. Er starb 1953 im Alter von 73 Jahren.

Ich beschäftige mich so genau mit meiner Ahnentafel, weil wir alle in uns das Erbe der Ahnen tragen und in jedem von uns etwas existiert, das den Verwandten ähnlich ist, und schließlich ist doch auch das Leben eines jeden Menschen, Verwandten oder Bekannten – ein Stückchen Geschichte. So etwas wie eine archäologische Scherbe.

Mein Vater – Pawel Stepanowitsch Smirnow – wurde in dem Dorf Ust-Erba, Krasnoturansker (Bogradsker) Kreis, am Jenissej geboren, wo sein Vater zu jener Zeit Priester war. Er zeichnete sich nicht gerade durch eine gute Gesundheit aus; in seiner Kindheit hatte er an Rachitis gelitten. Anfangs lernte er an der geistlichen Fachschule und später am Tomsker Seminar, das er jedoch wegen einer Erkrankung nicht beendete. Zwei Jahre lebte er zuhause beim Vater; dann fing er an, als Schreiber im Krasnojarsker Konsistorium zu arbeiten und wurde bald in das Amt des Bürovorstehers befördert. Er gab die Arbeit am Konsistorium auf und wurde Lehrling in einer Apotheke. Nach Ableistung der festgesetzten Probezeit fuhr er nach Kasan, wo man ihm an der Universität die Bezeichnung Provisor (1. Gehilfe des Apothekers; Anm. d. Übers.). Er leitete die Apotheken in Krasnojarsk. Er beschäftigte sich mir Unternehmertum. Er war Besitzer eines Apotheker-Ladens, Mitinhaber einer Bierbrauerei, einer Buch-und Steindruckerei, einer Seifensiederei und einer Fabrik, in der künstliches Mineralwasser hergestellt wurde. Ab 1902 widmete er sich gesellschaftlichen Aktivitäten – er war zunächst stellvertretendes Stadtoberhaupt, später stand er ganz an der Spitze der städtischen Hierarchie. Das Ergebnis seiner Tätigkeit in diesem Amt war der Bau des städtischen Kraftwerkes und der städtischen Wasserleitungen. Im Frühjahr 1914 wurde er krank, und die Ärzte schickten ihn zur Behandlung nach Deutschland, nach Kissingen. D er der deutschen Sprache nicht mächtig war, fuhr er zusammen mit dem Provisor F.F. Baden-Müller dorthin. Dort wurden sie vom Kriegsausbruch überrascht. Nachdem sie verschiedene Schicksalsschläge erlitten hatten, kam der Vater mit seinem Reisegefährten auf Umwegen über die Schweiz, Italien, das Mittelmeer und die Balkan-Halbinsel in Odessa an. Von dort aus fuhr der Vater aufgrund eines Telegramms, das er von seinem Stellvertreter erhalten hatte, nach Petersburg, wo er irgendwelche Angelegenheiten erledigen wollte. Schwerkrank kehrte er nach Hause zurück. Auf dem Weg von Petersburg nach Krasnojarsk kam ihm sein Tagebuch abhanden, das er geführte hatte, als er im Ausland gewesen war. Die Krasnojarsker Ärzte schickten ihn zur Operation nach Tomsk, wo er auch starb. Er wurde mit großen Ehrenbezeigungen in Krasnojarsk begraben. Sein Grab innerhalb der Mauer des Alten Domes wurde verwüstet und entweiht, ebenso wie auch der Alte Dom selbst – ein Architektur-Denkmal des XVIII Jahrhunderts – zerstört wurde.

BILANZ

Ziemlich viele Jahre habe ich gelebt,
Ich habe bereits aufgehört zu blühen.
Bald werde ich allen „auf Wiedersehen“ sagen.
An der letzten Türschwelle,
Dort, wo der Weg endet,
Muß man wenigstens ein Abbild
Seiner Lebensbilanz ziehen.

September 1968, B.S.

Für gewöhnlich zieht man am Ende seines Lebens die Bilanz dessen, was man vollendet und erreicht hat. Aber ich habe das nicht. Ich will die Bilanz meiner Gedanken und Überzeugungen ziehen, zu denen ich gegen Ende meines Lebensweges gelangt bin.

Ich bin einer von über drei Milliarden Menschen, die auf dieser Erde leben. Außerdem haben viele Menschen vor mir gelebt, und noch mehr werden nach mir leben. Natürlich nur, wenn die Menschheit nicht als Resultat eines Atomkrieges oder wegen irgendeiner anderen plötzlichen Katastrophe zugrunde geht. Wenngleich ich den anderen Menschen ähnlich bin, so habe ich mich doch zu jener Zeit durch irgendetwas von ihnen unterschieden. Es gibt auf der Welt keine zwei völlig gleichen Menschen. Darin unterschieden sich die Menschen von Küchenschaben und allen anderen Lebewesen. Ich bin die kleine Zelle eines lebenden Organismus, den man Menschheit nennt.

Nach Meinung mancher Denker (hauptsächlich Denker der Vergangenheit), besteht der Mensch aus Körper und Seele. Nach Ansicht anderer Leute gibt es überhaupt keine Seele. Wer hat recht? Und was soll man unter dem Begriff Seele verstehen? Die Substanz oder Funktion des Gehirns. Die Materialisten behaupten a piori das Zweite. Aber, selbst wenn ein Atom unerschöpflich und der Bereich der Dichte der Materie grenzenlos ist (weiße Teilchen und verdünnte Gase), so kann doch die Möglichkeit und Existenz einer Seele nicht ausgeschlossen werden – als ungewöhnlich feine Substanz, die sich im menschlichen Körper als Folge der Gedankentätigkeit und bewährter Emotionen gebildet hat. Es läßt sich vermuten, daß diese feine Substanz, dieses Ich, nach dem Sterben des Körpers auch weiterhin existiert. Ob es so ist oder nicht, das muß die Wissenschaft klarstellen, die Wissenschaft der Zukunft. Wir wissen nicht, was es mit diesem menschlichen Ich auf sich hat. Ob es nur das Erinnerungsvermögen des menschlichen Organismus ist oder vielleicht etwas anderes.

Der dialektische Materialismus, fals man sich im einzelnen damit auskennt, ist voll von logischen Widersprüchen.

Siebzig Jahre sind vergangen seit ich das Licht der Welt erblickt habe. Nach Behauptung der Physiologen hat sich innerhalb dieser Zeit mein Körper nicht weniger als zehnmal vollständig erneuert, und trotzdem bin ich ich selbst geblieben. Nach meinem Tode wird mein Ich entweder vollständig aufhören zu existieren oder es wird seine Existenz in Gestalt einer gasförmigen Substanz fortsetzen. Beide Varianten sind meiner Meinung nach wenig anziehend. Aber ich würde die Unsterblichkeit meines Körpers auch gar nicht wollen. Das erschreckt vielleicht auch nicht weniger, als der Tod selbst.

Ich erinnere mich an ein Beispiel von Syllogismus aus der formellen Logik:

Die Menschen sind sterblich. Ich bin ein Mensch. Folglich bin ich – sterblich.

Man kann nur diejenigen beneiden, die an ein Leben nach dem Tode glauben – ebenso wie die Atheisten; die einen wie die anderen sind von ihrer Schuldlosigkeit überzeugt, wenngleich dies unbegründet ist.

03.01.1969

Ich weiß nicht, warum ich gestern an meinen Aufenthalt im Mariinsker Verteilungslager im Jahre 1931 denken mußte. In jenem Jahr fand in Moskau der Prozeß gegen die Industriepartei statt. Im Zusammenhang damit rollte eine Welle von Verhaftungen durch die ganze Sowjetunion. 1931 wurde die „Jagd nach Gold“ durchgeführt. Die Gefängnisse waren überfüllt. Außerdem war das Krasnojarsker Gefängnis mit tassejewsker Aufständischen vollgestopft. Unter Koltschak hatte es eine Tassejewsker Republik gegeben, welche die Koltschak-Herrschaft nicht anerkannt hatte. Es existierte eine Tassejewsker Front. 1931 kämpften die Tassejewsker gegen die Kollektivierung. Ich wurde am 3. März 1931 verhaftet und verbrachte ungefähr 8 oder 9 Monate im Gefängnis, genau weiß ich das heute nicht mehr. In den letzten Monaten des Jahres 1931 wurde ich (natürlich per Fernurteil) nach § 58 (wegen Agitation) zu 3 Jahren Lagerhaft verurteilt und ins Mariinsker Verteilungslager geschickt. Das Lager nahm eine ziemlich große Fläche ein, und die Umzäunung aus Stacheldraht unterteilte es in eine bestimmte Anzahl von „Zonen“. In der Mitte des Lagergeländes befand sich der rote, dreigeschossige Backsteinbau des Mariinsker Gefängnisses. 1931 waren die Gefängniszellen mit Lagerinsassen belegt. Aber natürlich war nur ein geringer Teil von ihnen dort untergebracht. Alle übrigen kamen in den verschiedenen Barackenarten unter und teilweise sogar in Zelten. Bei vielen Baracken handelte es sich um sogenannte „aufgeschüttete“: in den Raum zwischen zwei dünnen Bretterwänden waren Sägespäne oder Erde geschüttet worden. Vor der Abfahrt aus dem krasnojarsker Gefängnis wurden wir, die Etappenhäftlinge in irgendeinem Kellerraum gesammelt, in dem es weder Fenster noch Pritschen gab. Insgesamt waren etwa vierzig Mann für den Gefangenentransport bestimmt. Darunter befanden sich drei Städter. Der Rest waren Entkulakisierte. Glücklicherweise gab es unter uns nicht einen einzigen Berufsverbrecher. In Mariinsk wurden wir einer ärztlichen Untersuchung unterzogen und kamen dann in eine riesengroße Baracke aus Schüttwänden. Darin befanden sich Pritschen in fünf Reihen übereinander, und dort waren einige tausend Gefangene untergebracht. Es gab zwei katastrophale Zustände. Der erste war die unglaubliche Menge Wanzen, der zweite – die urkas (harte Kriminelle; Anm. d.Übers.). Nachts führten sie in ganzen Banden Überfälle durch und stahlen alles, was ihnen unter die Finger kam: Kleidung, Geschirr, Schuhwerk, Lebensmittel. Gegen die Wanzen anzukämpfen war unmöglich. Für den Kampf gegen die Urkas bewaffneten wir uns mit Holzscheiten und Knüppeln und stellten nachts Wachposten auf, welche bei Überfällen die Schlafenden weckten. Und damals fanden regelrechte Schlachten statt. Ein Drittel, wenn nicht mehr, derer, die sich in dieser Baracke befanden, waren nationale Minderheiten. Hauptsächlich Kasachen und Kirgisen. Wahrscheinlich waren es entkulakisierte Bais (mittelasiatische Großbauern; Anm. d. Übers.). Sie sahen alle unglücklich aus, viele waren krank und hilflos. Sie waren den Überfällen der Urkas ganz besonders ausgesetzt. Bei den Überfällen leisteten sie keinen Widerstand, sondern schrien und weinten nur. „Kursak (Stadt in der Swerdlowsker Region) ist verloren, - wehklagten sie. Zu allem Unglück kam noch hinzu, daß die meisten von ihnen kein Russisch verstanden. Sie wurden bei der Ausgabe der Brotration betrogen, und viele von ihnen verhungerten buchstäblich.

Zufällig mußte ich einmal mit ansehen, wie die Urkas wegen irgendeiner Sache mit einem der Ihren abrechneten. Ein paar Mann umringten ihn mit Messern. Dem weiteren geschehen mochte ich nicht zusehen. Später erzählte man sich, daß sie ihm den Todesstoß versetzt und ihn in die Latrine geworfen hatten.

Zum Glück blieb ich in dieser Baracke nicht lange. Es war wohl nicht mehr als eine Woche. Genau weiß ich das nicht mehr. Dann wurde ich, wahrscheinlich aufgrund der in meinem Fragebogen gemachten Angaben, herausgerufen, mußte erneut eine ärztliche Untersuchung durchlaufen und kam anschließend in eine Baracke für Spezialisten. Die Baracke war sauber, neu, und vorher hatte noch niemand darin gewohnt. Es war eine kleine Baracke. Zweistöckige Pritschen. Es gab keine Wanzen, kein Urkas. Ich war aus der Hölle ins Paradies geraten. Bei den meisten von denen, die mit mir zusammen in diese Baracke geraten waren, handelte es sich um Ingenieure, die sich irgendwie Ramsin und seiner Industrie-Partei angeschlossen hatten (Ramsin, Leonid Konstantinowitsch, 1887-1848, Wärmetechniker, Professor; Direktor des Instituts für Wärmetechnik,. Mitglied des Obersten Volkswirtschaftsrates; 1930 als Führer der Industriepartei verurteilt, später freigelassen und rehabilitiert). Ich weiß noch, daß es eine recht große Gruppe von Textil-Ingenieuren gab. Und ich erinnere mich an einen Ingenieur für Bodenbewirtschaftung. Er besaß eine Geige, auf der er virtuos spielen konnte. Da war auch noch ein Jude – Spezialist für den Bau von Hochspannungsleitungen. An keinen einzigen Familiennamen kann ich mich erinnern. Doch – einen habe ich im Gedächtnis behalten. Den Textil-Ingenieur Kuprijanow. Ich begreife nicht, wie es ihm, der durch Gefängnisse gegangen und auf Gefangenentransporten gewesen war, gelingen konnte, seine Kleidung und sein Schuhwerk in unversehrtem und sauberem Zustand vollständig zu erhalten.

Er hatte das Aussehen eines wichtigen Beamten. Er verließ und betrat mit gewichtiger Miene die Zone, und die Wachposten machten keinerlei Anstalten, ihn zurückzuhalten. Auch in der Spezialisten-Baracke brachte ich nicht lange zu, nicht mehr als zehn Tage. Manchmal jagten sie uns für ein oder zwei Stunden zum Schneeschaufeln hinaus. Es gab einen Eisenbahn-Ingenieur, der prinzipiell keinen Finger rühren wollte und der, während die anderen den Schnee wegschoben, nur herumstand und sich auf seine Schaufel stützte – wahrscheinlich ist er erfroren.

Eines schönen Tages kamen sie an und schlugen mir vor, als Statist in der Holzabteilung zu arbeiten; ich war einverstanden. Aus der Baracke der Spezialisten wurde ich verlegt in das dreigeschossige Gebäude des ehemaligen Gefängnisses, wo Häftlinge untergebracht waren, die zu ständigen Mitarbeitern der mariinsker Verteilungsstelle geworden waren. In der Zelle, in die ich nun kam, waren sogenannte „Angestellte“ untergebracht. Als mein Pritschen-nachbar erwies sich ein Kanzlei-Angestellter aus der Abteilung ISO – der Informations- und Untersuchungsabteilung -, und das war mit anderen Worten die Lager-GPU. Da die Holzabteilung außerhalb der Zone lag, erhielt ich einen Passierschein. Dank dieses Erlaubnisscheines konnte ich die Zone ungehindert verlassen und wieder betreten. Einmal, in meiner Freizeit, schaute ich kurz bei einem Bekannten herein, der in der Baracke wohnte, die dem Innenhof des steinernen Gebäudes gegenüber lag. Als ich die Baracke wieder verließ, begleitete mich mein Bekannter. Zu dem Zeitpunkt kam gerade der Müllwagen in den Innenhof gefahren. Mich überraschte der Anblick eines der Gefangenen, die oben auf den Fässern saßen. Er besaß ein unverkennbar intelligentes Gesicht und war mit einer akkurat sitzenden, sauberen Arrestantenjacke im Matrosenschnitt bekleidet. „Wissen Sie, wer das ist?“ – fragte mein Bekannter. – „Das ist der bekannte moskauer Arzt Kalita“. – „Warum arbeitet er denn nicht im Krankenhaus, sondern bei der Müllabfuhr?“ – wollte ich wissen. - „Im vergangenen Jahr ist aus der Revisionsabteilung der GULag-Verwaltung der in den Lagern wohlbekannte Kostandoglo hierher gekommen. Bei der Überprüfung des Lager-Krankenhauses hat Kalita mit irgendetwas dessen Unzufriedenheit hervorgerufen, und daraufhin befahl Kostandoglo ihn zur Arbeit bei der Müllentsorgung zu versetzen“. Von Kostandoglo hatte ich bereits damals im Gefängnis gehört. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hatte er in den turuchansker Lagern eine Revision durchgeführt. In ihnen herrschte damals eine derartige Ordnung, daß die gesamte Verwaltung aus kriminellen Häftlingen bestand, welche die Gefangenen, die wegen konterrevolutionärer Aktionen und Verhaltensweisen verurteilt worden waren, mit unglaublichem Hohn und Spott überschütteten und schlimme Grausamkeiten an ihnen verübten. Sie zwangen sie, 14-16 Stunden zu arbeiten, zogen den gut Gekleideten die Sachen aus, übergossen sie bei Frost so lange mit kaltem Wasser, bis sie zu Eissäulen erstarrt waren, und erschossen alle Protestierenden und Schwachen, die nicht in der Lage waren zu arbeiten. Bei der Befragung der Häftlinge in einem der Lager mußten diese vor den Baracken Aufstellung nehmen. Kostandoglo fragte, ob irgendjemand irgendwelche Forderungen oder Beschwerden hätte. Alle schweigen. Die Verwaltung hatte sie vorgewarnt, daß derjenige, der anfangen würde etwas über die Ordnungszustände im Lager zu erzählen, getötet würde. Kostandoglo forderte zum zweiten Mal dazu auf, eventuelle Beschwerden auszusprechen und sagte, daß demjenigen der etwas vorzubringen hätte, nichts geschehen würde. Da trat aus den Reihen einer der Häftlinge hervor und erzählte von zwei schrecklichen Geschehnissen, die sich im Lager zugetragen hatten. Der Lagerleiter sagte mit scharfer Stimme, daß all das eine Lüge sei. Da sagte der, der sich beklagte hatte: „An der Stelle, an der wir hier stehen, sind zweihundert Erschossene verscharrt, die nie rechtskräftig verurteilt wurden oder ein gerichtliches Untersuchungs-verfahren durchlaufen haben“. Da befahl Kostandoglo zu graben, und als sie mit den Spaten bis zu den Leichen vorgedrungen waren, erschoß er eigenhändig en Lagerleiter und befahl seinen Begleitsoldaten auch dem Leben der übrigen Verwalter ein Ende zu bereiten. Wodurch war die Nachprüfung Kostandoglos ausgelöst worden und weshalb rechnete er mit den kriminellen Lagerleitern ab? Das Holz, das die Gefangenen der turuchansker Lager beschafften, war für den Export bestimmt; es ging nach England. Und da begannen auf den entrindeten Baumstämmen, die nach London geraten waren, mit Bleistift geschriebene Mitteilungen über grauenvolle Ereignisse aufzutauchen, die sich in den turuchansker Lagern abspielten. Irgendwie wurden diese Nachrichten dann in den englischen Zeitungen berichtet.

Dies fiel zeitlich mit einer Reihe von Artikeln zusammen, die in sowjetischen Zeitungen erschienen waren, und in denen die Engländer der Zwangsarbeit in Arbeitskolonien beschuldigt wurden. Jetzt konnten die Engländer es ihnen heimzahlen.

Die Holzabteilung war in einem kleinen Zimmer eines Holzhäuschens untergebracht. Insgesamt waren hier, zusammen mit dem Leiter, 4-5 Mann. Zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehörte die Holzbeschaffung in 10-12 Lagerpunkten. In jenem Zimmer befand sich auch die Veterinär-Abteilung mit 2-3 Tierärzten. Natürlich waren sie alle Gefangene, einschließlich der Leiter. Meiner Pflicht oblag es, auf Grundlage der eingehenden Angaben in puncto Holzbereitstellung Aufstellungen zu machen und diese der Verwaltung des mariinsker Lagers vorzulegen. Das mariinsker Lager bestand aus zwei Abteilungen: der Verteilungsstelle, von wo die Häftlinge in die verschiedenen Lager geschickt wurden, und die Lagereinheit für wirtschaftliche Belange, wozu auch die Holzbeschaffung und die Landwirtschaft (Ackerbau und Viehzucht) gehörten.

Eines schönen Tages verkündete uns der Lagerleiter, daß das Eintreffen des grausamen Kostandoglo bevorstand. Überall setzte ein fieberhaftes Aufräumen und Reinemachen ein. Es wurde gesagt, daß Kostandoglo die Angewohnheit hätte, jeden zu befragen, was seine Beschäftigung wäre, und daß er knappe und genaue Antworten gern hätte. Den ganzen Tag warteten wir auf ihn, aber er kam erst am nächsten. Als er auf mich zukam, schnurrte ich als Antwort herunter, daß ich Statistiker wäre und daß meine Pflichten in der Erledigung dieser und jener Aufgaben bestünden. Auf seine Frage nach der im vergangenen Monat geschlagenen Holzmenge, gab ich ihm ebenfalls Antwort, begriff aber später, daß ich einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte. Aber dank meines überzeugenden Tonfalls machte er keine Anstalten, das zu kontrollieren. Die Revision in der Holzsektion ging gut aus, in der Veterinär-Abteilung hingegen nicht. Als er den Schrank mit den tierärztlichen Instrumenten in Augenschein nahm, entdeckte er auf einem von ihnen eine Roststelle. Der betagte Tierarzt, in dessen Obhut sich die Instrumente befanden, wurde aus dem Dienst entfernt und auf Kolonnenarbeit geschickt.

In der Holzsektion arbeitete ich zwei oder drei Monate. Dort hielten sich oft die Leiter der einzelnen Lagerpunkte auf, welche die Holzbeschaffung lenkten. Mit ihnen mußte man stets Gespräche über Statistiken und Rechenschaftsberichte führen. Als einmal der Leiter des Lagerpunktes Kemtschug ankam, schlug er mir vor, bei ihm zu arbeiten – im Amt eines Planers. Ich erklärte mich einverstanden und wurde kurz darauf nach Kemtschug geschickt.

04.07.1969

Es ist unangenehm, sich an die Vergangenheit zu erinnern. War ich doch von 1917 bis 1955 kein gleichberechtigter Staatsbürger. Fünfmal wurde ich verhaftet, dreimal verbüßte ich eine Haftstrafe (insgesamt saß ich fünfzehn Jahre), fünf Jahre war ich in der Verbannung, soviele Jahre mußte ich mich immer wieder registrieren lassen, jahrelang besaß ich nicht das Recht, meinen Wohnsitz in Krasnojarsk zu beziehen. Und all das nur, weil meine Eltern wohlhabende Leute und ich ehemaliger Offizier der Weißgardisten gewesen war. Achtunddreißig Jahre lang, in der besten Zeit meines Lebens, war ich ein rechtloser Mensch. Nichts ist aus meinem Leben herausgekommen. Mein Wille wurde gebrochen und untergraben. Im Leben konnte ich keinen Platz einnehmen, der meinem Streben und meinen Fähigkeiten entsprochen hätte. Deshalb ist es einfach schwer für mich, meine Erinnerungen niederzuschreiben. Und ich habe auch Vieles vergessen. Und trotzdem mache ich mich erneut daran, meine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Wozu und für wen? Ich weiß es selbst nicht. Es ist bloß so ein instinktives Gefühl.

Die soziale Revolution – eine Errungenschaft der Menschheit. Aber schon wollten sich die Bolschewiken, nachdem sie die Macht ergriffen hatten, gegen den Verlust dieser Macht absichern und vergossen deswegen viel zuviel Blut. Übermäßigen Mißbrauch trieben sie mit Erschießungen. Auch das Rachegefühl spielte seine Rolle. Und all jene ihrer Gegner, die nicht den Tod durch Erschießen fanden, wurden Repressionen und Diskriminierungen ausgesetzt. Der Apparat, geschaffen für den Kampf gegen die Konterrevolution, begann unter Stalin nicht nur mit den Konterrevolutionären abzurechnen, von denen es schon gar nicht mehr so viele gab, sondern auch mit jenen, die auf Seiten der Bolschewiken kämpften und auch mit den Bolschewiken selbst. Wenn in den 1920er Jahren ehemalige Offiziere, Beamte, Industrielle und Händler, 1930/31 die Kulaken und Mittelbauern Opfer der Repressionen wurden, so waren es 1932 hauptsächlich die Bolschewiken, die bei irgendeiner Gelegenheit eine gewisse Selbständigkeit in ihrer Denkweise geäußert oder an den Tag gelegt hatten. In den 1920er Jahren endete die Mehrheit der Verhafteten vor den Erschießungskommandos. 1930/31 fanden bereits nicht mehr so viele Erschießungen statt. Es entstanden massenhaft Lager. 1928/29 fungierten gefangene Kriminelle als Lagerverwalter und Lagerwachen. Für die Schreckenstaten, die sie verübten, kann man keine Worte finden, aber ich habe davon auch nur gehört. In der Lagerperiode zwischen 1937 und 1947 wurde die Sterblichkeitsrate (nicht weniger als 90%) größtenteils durch mangelhafte Ernährung verursacht. 1937 fanden nicht weniger Erschießungen statt, als im Jahre 1920.

16.10.1969

Nehmen wir einmal an, daß mir zum Leben nur noch ein paar Stunden blieben, und daß ich während dieser Zeit eine kurze Beschreibung meines Lebens geben sollte. Die Mutmaßung über die Kürze der mir verbleibenden Stunden ist gar nicht so abwegig. Ganz und gar nicht, denn ich bin 78 Jahre alt und mein Herz ist nicht in Ordnung. Na ja, gesetzt den Fall, daß ich noch ein paar Jahre lebe: aber mit jedem Jahr verringern sich doch die Kräfte und nehmen nicht zu, und das Gedächtnis läßt nach, und aus dem Grunde habe ich beschlossen, heute einen kurzen Abriß über mein vergangenes Leben zu schreiben. Mein Leben an sich wird kein Interesse wecken, denn ich habe nichts Bemerkenswertes geleistet, aber auf dem Boden der geschichtlichen Ereignisse mag es interessant sein.

1915, im zweiten Jahr des 1. Weltkrieges, wurde ich als Krieger der Landwehr in die Armee einberufen. Im weiteren Verlauf folgten ein Schnell-Kursus and der Irkutsker Militär-Fachschule, zwei Jahre an der Front, zwei Jahre in der Koltschak-Armee. Gefangenschaft. Einige Monate Dienst als Militär-Ingenieur an einem Eisenbahnabschnitt. Verhaftung, Gefängnis. Konzentrationslager. Erneut Gefängnis. Insgesamt zwei Jahre hinter Schloß und Riegel. Später stand ich unter Kommandantur, wo ich mich regelmäßig registrieren lassen mußte. Ich arbeitete drei Jahre als Sekretär der geographischen Gesellschaft. Ich wurde als fremdes Element hingestellt. Einige Monate arbeitete ich für Sojustrans, dann wurde ich wieder verhaftet. In den zwanziger Jahren war die Diskriminierung im Zusammhang mit allen „Ehemaligen“ besonders stark, und ich, der ich „unter Sonderkommandantur“ stand, erlebte dadurch Unannehmlichkeiten in höchstem Ausmaße. Es war schwer, und manchmal gänzlich unmöglich, eine Arbeit zu finden. Zu meinem Glück wurde ich nicht vor 1931 verhaftet. Diejenigen, die in Krasnojarsk in dieser Zeit verhaftet wurden, gerieten in die turuchansker Lager und kamen dort ums Leben. Diese Lager wurden von Kriminellen verwaltet, welche die „kontriks“ (Konterrevolutionäre; Anm. d. Übers.) beraubten und umbrachteten, sie in jeglicher Hinsicht verhöhnten und verspotteten und ihnen alle möglichen Grausamkeiten antaten (Prügel, Übergießen mit Wasser bei Frist, u.ä.).

Ich wurde am 3. März 1931 verhaftet. Alle erdenklichen Beschuldigungen „hängten“ sie mir an, eine unsinniger als die andere, aber nichts blieb an mir hängen, und ich bekam 3 Jahre gemäß § 58, Absatz 10 „wegen Agitation“. Denn, nach den Worten des Untersuchungsrichters, „konnte es nicht angehen, daß ich in all diesen Jahren überhaupt keine antisowjetischen Äußerungen gemacht hatte“. Ferner wurde mir gesagt, daß man mich in die Freiheit entlassen wollte, falls ich mich einverstanden erklären würde, als geheimer Mitarbeiter der GPU tätig zu werden. Diese Verhaftung hatte ich mir selber eingebrockt. Bei uns wohnte ein gewisser Alexander Lamanow. Über ihn und seine Ehefrau hatte ich kleine Verschen geschrieben, welche meine Tochter Wera laut vor sich hin sang. Die Lamanows wurden böse. Ein Zechkumpan kam zu Lamanow. Er war Mitarbeiter der GPU - wahrscheinlich war er es auch, der meine Verhaftung begünstigt hatte.

Über meine dreijährige Inhaftierung habe ich schon geschrieben. Während meines siebenmonatigen Aufenthaltes im Gefängnis ereignete sich der tassejewsker Aufstand. Zur Zeit Koltschaks gab es in der Ortschaft Tassejewo eine Tassejewsker Republik. Der Aufstand geschah infolge der Zwangskollektivierung. Man beschloß, keine Rotarmisten zur Unterwerfung des Aufstandes zu schicken, weil man fürchtete, daß sie auf die Seite der Aufständischen überlaufen könnten. Es wurden Parteimitglieder und Komsomolzen mobilisiert, aber diese unausgebildete Armee konnte gegen die Aufständischen, die sich zum größten Teil aus ehemaligen Frontsoldaten zusammensetzten, nichts ausrichten. Und erst Verrat und das Versprechen auf Straffreiheit zwangen die Aufständischen letztendlich die Waffen niederzulegen. Die Zusage auf Straffreiheit wurde gebrochen, und einige hundert Tassejewsker wurden verhaftet. Wir sahen, wie sich ein Fahrzeug nach dem anderen den Gefängnistoren näherte, überfüllt mit Verhafteten.

Zur Zeit der Tassejewsker Republik war in großem Maße die äußerst wohlhabende Familie Buda an deren Organisation und dem Widerstand der Koltschak- Macht beteiligt. Die sieben Brüder und eine Schester Buda waren so etwas wie die Seele der Republik. So kam es mir wenigstens zu Ohren. Mit Eintreffen der Roten Armee in Sibirien fuhren die Budas von dort weg, alle oder einige Brüder traten der Partei bei und lebten in Krasnojarsk. Durch sie wurden auch die Verhandlungen mit den Tassejewskern geführt. Meiner Meinung nach legten sie sich selbst herein, als sie den Tassejewskern die Zusicherung für deren Unantastbarkeit gaben. Vorweggreifend möchte ich erwähnen, daß 1937 einer der Brüder, wahrscheinlich der älteste, eine Zeit lang Leiter der GPU war; er wurde dann selbst verhaftet und beseitigt, ebenso wie fünf seiner Brüder. Nur der jüngste Bruder und die Schwester kamen durch, aber letztere wurde wohl auch ein Opfer von Repressionen. Bis 1937 lebte die Familie Buda (ich weiß nicht, mit wieviel Personen) in der ul. Lenina 84, neben dem winzigen, schäbigen Häuschen, in der wir wohnten.

Im Jahre 1932 war das Krasnojarsker Gefängnis völlig überfüllt. Es gab viel mehr Kriminelle als „Kontriks“. Als Politische wurden wir nicht bezeichnet. Viele Leute saßen „wegen Gold“. Dafür, daß sie als ehemals vermögende Leute, die Gold besessen hatten, dies nicht bei den Finanzbehörden abgegeben hatten. Sie waren unter Androhung von Gewalt dazu gezwungen worden. Folterungen fanden zu jener Zeit selten Anwendung. Über meinen Aufenthalt in der Mariinsker Verteilungsstelle habe ich bereits geschrieben. Von dort geriet ich zum Lagerpunkt Kemtschug. Er lag mitten in der Siedlung Kemtschug, in der Nähe der gleichnamigen Bahnstation. Der Leiter des Lagerpunktes war in der ersten Hälfte meines dortigen Aufenthaltes ein Häftling, der nach § 58 des Strafgesetzbuches verurteilt worden war und der zu seiner Zeit die Sibirische Akademie in Omsk absolviert hatte. Ich mußte mich dort nicht mehr unter der Aufsicht von Begleitsoldaten bewegen. Das heißt ich konnte mich frei außerhalb der Lagergrenzen aufhalten und sogar in die Umgebung fahren. Die Konvoimannschaften waren ausschließlich Militärpersonen. Es gab keinerlei „Selbstschutz“-Truppe aus den Reihen der Kriminellen. Der Leiter der Wachbegleitung war ein sehr netter Mensch. Seine Ehefrau machte sogar bei der Liebhaberaufführung mit, die von den Mitarbeitern des Kontors inszeniert wurde.

Die zweite Frauenrolle wurde von der Ehefrau des Bahnhofsvorstehers gespielt. Man gab irgend so ein Stück von Ostrowskij. Ich glaube es hieß „Armut ist kein Laster“. Meine Aufgabe bestand darin, als Souffleur und Maskenbildnerer zu fungieren. Im Kontor arbeitete ich als Planer. Es ließ sich gar nicht so schlecht leben, aber wir hatten ziemlichen Hunger. Zu diesen Pflichten gesellten sich noch hydrologische Beobachtungen über den Wasserspiegel des Flußes, denn am Lagerpunkt wurde nicht nur Holz beschafft und abgefahren, sondern von hier wurde es auch abgeflößt. Wegen erfolgloser Holzabflößerei, bei der ein Großteil des Holzes an die Ufer geschwemmt war, wurde der Leiter seines Postens enthoben, in ein niedrigeres Amt versetzt und stattdessen ein ehemaliger Tschekist zum Leiter ernannt. Er fing damit an, alle Kontorsmitarbeiter gegen andere einzutauschen. Anstelle der „Kontriks“ setzte er nichtpolitische Häftlinge ein, Leute, die vor ihrer Verhaftung Parteimitglieder gewesen waren. Einen Monat später passierte ein Unglücksfall. Ein Häftling, ehemaliger Sekretär, fälschte Dokumente, entwendete staatliche Gelder sowie den Stempel und machte sich mit zwei oder drei Kameraden auf die Flucht. Sie wurden übrigens bald auf dem krasnojarsker Bahnhof aufgegriffen, wo sie ein Gelage veranstaltet hatten. Auch ich hielt mich nicht auf dem Posten des Planers. Aber ich wurde nicht zu Kolonnenarbeiten geschickt, sondern an eine „Lagerzweigstelle“ nahe der Station Badaloschna. Meine Aufgabe bestand darin, die für die Holzbeschaffung in Frage kommenden Bäume über eine Entfernung von 10-15 km vom Zweiglager ausfindig zu machen und zu untersuchen. Den ganzen Winter über hauste ich in einer Holzkate, gemeinsam mit noch einem Gefangenen (welche Pflichten und Aufgaben er innehatte, weiß ich nicht mehr), und jeden Tag unternahmen wir auf unseren Skiern Spaziergänge in alle möglichen Richtungen. In jenem Jahr war der Winter sekr kalt. Es gab Tage, an denen das Thermometer minus 50 Grad anzeigte. Aber im Wald, wo es windstill war, kam einem der Frost nicht so beängstigend vor.

Der der Leiter, der frühere Tschekist, hielt sich nicht lange an seinem Platz. Er brachte sich durch sein Verhältnis mit einer Gefangenen in Mißkredit, einer Ukrainerin mit Nachnamen Sosulja. Sie war sehr eindrucksvoll, diese Sosulja. Um sich mit ihr ohne Zeugen treffen zu können, ernannte er sie zur Leiterin der Bäckerei, die sich außerhalb des Lagers am Rande der Siedlung befand. Natürlich erfuhr die Ehefrau des Leiters von diesem Verhältnis. Und sie tat einen „Schachzug“. Sie schloß mit Sosulja Bekanntschaft und organisierte ihre Flucht. Sie besorgte Sosulja Kleidung und Geld, gab ihr ihren Paß und ließ sie, nachdem sie eine Fahrkarte gekauft hatte, in den Schnellzug einsteigen. Da dies mit der Abfahrt des Leiters in Nowosibirsk zusammenfiel, wurde die Flucht nicht sofort entdeckt, und Sosulja verschwand spurlos. Sowohl diese Sache, als auch die Geschichte mit dem Sekretär, spielten ihre Rolle – und so wurde der Leiter ausgewechselt. Der neue Leiter war ein phantasieloser Mensch. Er versetzte die Büromitarbeiter mit dem § 58 zurück an ihre alte Arbeit, darunter auch mich. Meine Haftzeit näherte sich dem Ende zu, und in diesem Moment wurde eine Direktive über die Erstellung eines Jahresplanes erlassen. Einen Tag nach Beginn meiner Arbeit an diesem Plan kam der Leiter ins Kontor und sagte mir, nachdem er mich zur Seite gerufen hatte, daß die Papiere für meine vorzeitige Entlassung gekommen wären, er mich jedoch bitten würde, die Ausarbeitung des Planes erst zu beenden, da mein Gehilfe noch nicht lange arbeitete und nicht wußte, wie man so einen Plan aufstellte. Dabei versprach er mir, meine Arbeit zu bezahlen. Ich willigte ein. Ich, mein Gehilfe und noch zwei Mann, die sich mit den arithmetischen Berechnungen auf der Rechenmaschine befaßten, arbeiteten drei Tage und Nächte fast ohne jegliche Pause, zwanzig Stunden täglich, und dann war der Plan fertig. Dann fuhr ich wegen der Dokumente nach Kemtschug, wo sich noch zu jener Zeit die URTsch (Registrierungs- und Verteilungsstelle; Anm. d. Übers.) befand, als das übrige Kontor bereits nach Badaloschka umgezogen war.

Die Welle der Verhaftungen im Jahre 1934 anläßlich der Ermordung Kirows berührte mich in keiner Weise. Vier Jahre lebte ich in Freiheit und arbeitete als Wirtschafter und Planer in der Holzfabrik Nr. 3, die sich am rechten Flußufer befand. An die Arbeit gewöhnt ich mich recht schnell. Es war nur schwierig, von zuhause zur Arbeit und umgekehrt zu gelangen. Besonders beschwerlich war dies im Frühling und Herbst bei Matschwetter. Im Winter ging ich zufuß über den Jenissej. Manchmal schickten sie mir allerdings auch ein Pferd, ummich abzuholen. Im Sommer fuhr ich mit dem plaschkout (einer Art Holzfähre aus zwei Booten, die mit einer gemeinsamen Plattform verbunden ssind; Anm. d. Übers.) über den Fluß und mitunter auch mit dem Werkskutter. Im Frühling, als das Eis anfing zu tauen, war es gefährlich über das Eis zu gehen, aber ich riskierte es trotzdem, denn sonst mußte man mehrere Stunden an der Station Jenissej zubringen. Die Vorortzüge fuhren damals nur sehr unregelmäßig, weil es nur eine einzige Eisenbahnbrücke gab, und daher ging die zweigleisige Schienenstrecke an dieser Stelle in eine einspurige über, was verständlicherweise die Geschwindigkeit verlangsamte. Und die Vorortzüge kamen ganz zuletzt dran. Mit den Personenzügen ließen sie uns nicht fahren und das Fahren auf Güterzügen war riskant, denn man mußte mit einer Geldstrafe rechnen und außerdem während der Fahrt herunterspringen. Dennoch fuhr ich manchmal mit so einem Güterzug und sprang herab. Aber nachdem ein solcher Passagier, der ebenfalls vom Waggon abgesprungen war, mit dem Kopf an eine vergrabene Eisenbahnschiene gestoßten war und sich den Schädel zersplittert hatte, stellte ich das Fahren auf Güterzügen ein.

12.12.1969

Heute morgen, als ich im Bett lag, hörte ich eine Sendung im Radio. Es wurde ein Essay des Heimatkundlers Dmitrij Anatoljewitsch Bugajew (wenn ich das richtig verstanden habe) über Nikolaj Nikolajewitsch Jakowlew vorgelesen, der Ende 1919 in Krasnojarsk vor der Einnahme der Stadt durch die Truppen der 5. Armee eine revolutionäre Umwälzung vollbracht hatte. Wenige Tage zuvor war ich mit den zurückweichenden Truppenteilen der Koltschakow-Armee in Krasnojarsk angekommen, als junger Offizier des 3. Regiments. In Krasnojarsk sollte das Regiment lediglich übernachten und am nächsten Morgen weiterfahren. Ich blieb in Krasnojarsk, denn hier war meine Familie, und noch weiter „zurückweichen“ wollte ich nicht. Eigentlich war das kein Rückzug, sondern eher Flucht. Augenzeuge der in Krasnojarsk vor sich gehenden Ereignisse war ich nicht, denn ich saß zuhause. Ich nehme an, daß der Autor dieses Essays die Geschehnisse, die sich damals zutrugen, richtig dargestellt hat. Der Zufall wollte es, daß ich N.N. Jakowlew mehrere Male und unter ganz unterschiedlichen Umständen begegnete. Wenngleich wir beide gebürtige Krasnojarsker und fast gleichaltrig waren, so traf ich ihn bis zum Jahre 1916 nicht ein einziges Mal, obwohl ich von seiner Existenz wußte.

Er war der Stiefsohn eines getauften Juden, des Untergrundadvokaten Bliz, der sich mit dunklen Geschäften abgab und in irgendwelche Affären des Nonnenklosters verwickelt war.

An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern. Er hatte eine Schwester namens Ksenja und einen Bruder Alexander (Bliz’ Sohn). Nach Beendigung des Schnellkursus an der Irkutsker Militär-Fachschule kam ich beim 30. Reserve-Regiment zum Eisatz, welches sich in Krasnojarsk befand. Der Regimentsstab schickte mich als Unteroffizier in die Kompanie, welche das genau war, weiß ich nicht mehr. Sie war im Schulgebäude einquartiert – in der Straße, die heute nach Lomonossow benannt ist. Als ich im Kompanie-Kontor erschien und mich ihrem Kommandeur vorstellte, da sagte der mir, daß man ihm das Kommando entziehen würde und das in etwa einer halben Stunde ein neuer Kommandeur auftauchen müßte, dem er die Kompanie übergeben würde. Tatsächlich erschien bald darauf der Neue; es war N.N. Jakowlew. Er sagte, daß Unteroffiziere bei der Übergabe nicht anwesend sein dürften. Der alte Kompanie-Kommandeur gab dem Feldwebel den Befehl, und kurz danach nahm die Kompanie mitten auf der Straße, vor dem Schulgebäude, in Zweierreihen Aufstellung. Die Kompanie war sehr groß – sie umfaßte etwa 1500 bis 2000 Mann. Zu jener Zeit bestanden alle Kompanien in den Reserve-Regimentern aus so vielen Soldaten. Nach entsprechender Ausbildung wurden daraus dann Marsch-Regimenter von jeweils 250 Mann an die Front geschickt.

Die in Zweierreihen formierte Kompanie erstreckte sich über die Länge ein ganzes Straßenviertels. Das Kompanie-Büro befand sich im zweiten Stock. Ich war mit einem der Offiziere ins Gespräch vertieft, als ein anderer Offizier, der am Fenster stand, ausrief: „Seht mal, seht mal! Der neue Kommandeur zeigt sich!“ Alle stürzten ans Fenster. Der alte und der neue Kommandeur schritten die Front ab, und der neue schlug von Zeit zu Zeit mal diesem, mal jenem Soldaten ins Gesicht. Unter der Leitung Jakowlews blieb ich nicht sehr lange. Ich kann mich nicht genau erinnern, wegen welcher Vergehen sie mich ins 14. Reserve-Schützenregiment versetzten und mich von dort ziemlich schnell, an der Spitze einer Marsch-Kompanie, an die Front schickten.

Als ich im Sommer 1917 auf Urlaub nach Krasnojarsk kam, erfuhr ich, daß Jakowlew auch nicht an die Front gekommen, sondern in Krasnojarsk geblieben war, um dort für die Offiziere und Soldaten, die an die Front geschickt worden waren, Vorlesungen über Giftstoffe abzuhalten.

Begegnen sollte ich Jakowlew im Frühjahr 1919 im Krasnojarsker Militärlager bei der Wachablösung. Ich war zum Diensthabenden bei der Wache bestimmt worden, und er – war deren Leiter. Wir unterhielten uns ein wenig. Er erzählte mir, daß die Front den Ural überschritten hatte, daß man ihm nicht vertraute. Er sah niedergeschlagen aus. Einige Tage später erfuhr ich, daß Jakowlew verhaftet und ins Gefängnis geschickt worden war. Man erzählte sich, daß er wohl während der Fahrt ins Gefängnis gesagt hätte, daß die Koltschakow-Macht bald fallen würde, daß die ihn eskortierenden Kosaken ihn, Koltschakow, hätten niedermetzeln wollen und daß nur der ihn begleitende Offizier dies mit Mühe verhindert hätte.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ob es im Jahre 1924 oder ein, zwei Jahre später war, als ich bei der Gerichtsverhandlung über N.N. Jakowlew anwesend war. Wie und weshalb ich in diese Verhandlung hineingeriet, weiß ich nicht mehr. Neben mir, auf den Plätzen, die für das Publikum bestimmt waren, saß Jakowlews Schwester – die Frau des Ingenieurs Marweew (vor einem Jahr lebte sie noch; ich sah sie auf der Straße). Zur Zeit der NEP (Neue Ökonomische Politik; Anm. d. Übers.) war sie zusammen mit Marksons Schwester Besitzerin eines Cafés. Jakow wurde beschuldigt, daß er, als er sich unter den Weißen im Gefängnis befand, der Spionageabwehr-Organisation der Weißen zur Rettung seines eigenen Lebens die Mitteilung gemacht hatte, daß in der Zelle Gespräche geführt wurden, denen es zu verdanken war, daß ein paar Bolschewiken ums Leben kamen. Ich erinnere mich nicht, was sich vor Gericht abspielte. Ich glaube, sie haben nicht einmal Zeugen zum Verhör vorgeladen. Die Fortsetzung des Gerichtsprozesses wurde auf den nächsten Tag festgesetzt. Aber am folgenden Tag fand keine Verhandlung statt, vielmehr wurde das Verfahren gegen Jakowlew eingestellt und er aus der Haft entlassen. Vermutlich geschah das aufgrund von Anweisungen aus der Hauptstadt, denn beim Hinausgehen sagte die Matwejewa mir, daß sie eine Reihe von Telegrammen an Personen schicken würde, die sich zur Zeit der Umwälzung in Krasnojarsk befunden hatten und die Macht besaßen, den Prozeß einzustellen.

Was weiß ich noch über Jakowlew? Bald darauf heiratete er Nina Posnjanskaja. Sie war eine sehr schöne und kluge Frau. Später fielen mir ihre Artikel in den Kritik-Rubriken verschiedener dicker Zeitschriften in die Hände. Die Jakowlews lebten in der Marx-Straße (in dem Haus, das neben dem der Krutowskijs lag). Die Nachbarn erzählten, daß sie häufig herzzerreißende Schreie hörten. Es war Nina, die da schrie, wenn sie von Jakowlew mit einer Riemenpeitsche bis aufs Blut geprügelt wurde. Jakowlew starn Ende der 1920er Jahre an Flecktyphus. Er war ein typischer Abenteurer – klug und grausam.

30.11.1970

Einer reiner Zufall regte mich dazu an, dieses Mal zur Feder zu greifen. Gestern war Sonntag. Ungeachtet des freien Tages war Wera früh aufgestanden und zum Friseur gegangen, um sich die Haare schneiden zu lassen. Aber der Frisuerladen, den sie aufsuchte, hatte nicht geöffnet, und so bat sie mich, als sie nach Hause zurückkam, ihr die Haare zu schneiden. Das hatte ich auch früher schon machen müssen, und ich erfüllte ihre Bitte mehr oder weniger erfolgreich. In der Nacht konnte ich nicht schlafen, und als ich daran dachte, daß ich am Morgen als Friseur fungiert hatte, da kam bei mir irgendwie so eine Gedankenverbindung hoch und ich fing an mich daran zu erinnern, was ich alles hatte machen müssen, welche Arbeiten ich durchgeführt hatte, als ich damals ein Häftling gewesen war. Dort hatte eine Arbei die andere abgelöst, man hatte nicht das tun dürfen, was man wollte und was seinen Fähigkeiten entsprach, sondern nur all das, was einem befohlen worden war. Die Liste der Arbeiten war ziemlich lang, und im Zusammenhang damit fielen mir auch wieder die Begleitumstände und Verhältnisse ein, unter denen sie ausgeführt werden mußten.

Viermal wurde ich verurteilt. Dreimal davon zu Lagerhaft und einmal – zu Verbannung. Die erste Haftstrafe erhielt ich Ende der 1920er Jahre. 5 Jahre Lager. Damals verurteilten sie entweder zu Lagerstrafen bis fünf Jahren oder zur Höchststrafe. Ich saß die fünf Jahre nicht vollständig ab. Zur Entlastung der Haftverbüßungsorte war eine Prüfungskommission geschaffen worden. Sie verkürzten mir die Haftzeit um die Hälfte, aber ich saß insgesamt zwei Jahre und wurde dann entlassen, da ich als Invalide nicht zum Arbeiten geeignet war. Ich trat die Strafe im Konzentrationslager an und wurde dann als „höhergradiger Verbrecher“ ins Gefängnis überführt.

Das Konzentrationslager war damals hinter dem Militärlager in Erdbaracken untergebracht, in denen man zuvor österreichische Kriegsgefangene gehalten hatte. Mich, als lese- und rechtschreibkundigen Menschen, setzten sie im Lagerkontor ein, das sich in einem Steinbau befand. Nachts schlief ich an demselben Tisch, an dem ich tagsüber meine Arbeit verrichtete. In den Räumen war es kalt, im Tintenfaß erstarrte die Tinte, und man mußte sie auf dem Herd oder dem Eisenofen auftauen. Nachdem ich ein oder zwei Nächte am Tisch geschlafen hatte, wechselte ich meinen Schlafplatz und zog auf den Herd um. Damit ich darauf nicht geröstet wurde, legte ich ein Brett darauf. Im Konzentrationslager blieb ich insgesamt nur ein paar Tage; dann wurde ich zur Verfügung der Unterabteilung für Zwangsarbeiten der Verwaltungsabteilung des Jenissejsker Gouvernementsexekutiv-Komitees abberufen. Damals war es so, daß die Anzahl der Leute, die bei Schreibarbeiten in den Büros saßen, größer war, als die Zahl der Arbeiter in den Fabriken und Betrieben. Natürlich gab es nicht genügend Papier. Man schrieb auf allen möglichen Papierfetzen. Das ganze Archiv der Jenissejsker Gouvernementsverwaltung ging an die Kanzlei, um diese mit Papier zu versorgen. Und in diesem Archiv befanden sich zahlreiche interessante und wertvolle Dokumente. Einige von denen, die mir in die Finger gerieten, bewahrte ich auf, aber später sind sie verloren gegangen. Der Verwalter der Unterabteilung für Zwangsarbeit trug, wenn ich mich nicht irre, den Nachnamen Winokurow. Mein Tisch befand sich neben seinem. Seine Sympathien erwarb ich mir dadurch, daß ich anfing Kohlepapier herzustellen. Als Materialien dafür dienten mir: dünnes Papier, Ruß und Butter. Winokurow erzählte mir seine Biographie. Teilweise. Er hatte den höchst eingeschätzten Beruf innerhalb der Verbrecherwelt inne – er war nämlich „Bärenjäger“, d.h. er war bei der Öffnung von Panzerschränken dabei gewesen. Nachdem er einen Haufen Dreck am Stecken hatte, kam er ins Gefängnis. In jenem Jahr, als er im Gefängnis saß, kam die Sowjetmacht, ließ ihn frei, er trat der Partei der Bolschewiken bei und kam auf irgendeine Weise nach Krasnojarsk.

Nachdem eine ganze Reihe von Papierkram geschrieben worden war (Antworten auf Fragen sowie Anfragen), versetzten sie mich als Leiter an den Schalter, wo die Personenakten der Häftlinge des Konzentrationslagers geführt wurden. Hinter mir stand ein großer Schrank mit Personenakten, darin waren so viele Schubfächer, wie das Alphabet Buchstaben hat, und in jedem Fach lagen „Akten“. Jede „Akte“ bestand aus einer farbigen Hülle und einer eingenähten Verordnung der Jenissejsker Gouvernements-Tscheka. Jede Verordnung war für 10, 12, 15 Personen abgefaßt, von denen lediglich zwei oder drei zu einer Lagerhaftstrafe verurteilt wurden – alle übrigen zum Tod durch Erschießen. Die Massenerschießungen hörten zum 7. November 1920 auf, als eine Teil-Amnestie verkündet wurde. Ich hatte Glück. Sie fanden und verhafteten mich am 25. November 1920, und deswegen entging ich der Erschießung.

Während ich in der Unterabteilung für Zwangsarbeiten tätig war, übernachteten ich und die anderen Häftlinge (es waren 20 Mann), die im Jenissejsker Gouvernements-Exekutivkomitee arbeiteten, in verschiedenen Räumen unter der Aufsicht von Wachen, aber zur Arbeit gingen wir ohne Bewachung. So lebten wir eine Zeit lang beim Gouvernements-Exekutivkomitee und übernachteten an Schreibtischen. Später brachte man uns sowieso im Lager unter, welches aus den Erdbaracken des Militärstädtchens in die Räumlichkeiten des ehemaligen Durchgangsgefängnisses verlegt worden war. Hier begegnete ich vielen interessanten Menschen. Unter ihnen gab es einen Polen, Professor für Weltkultur, namens Dybosskij (ich bin nicht sicher, ob ich seinen Nachnamen richtig in Erinnerung habe). Er hielt äußerst interessante Lektionen (natürlich abends, wenn wir Feierabend hatten und bis 9 oder 10 Uhr im Lager herumgehen konnten) über das Thema Weltliteratur. Er hielt seine Vorlesungen sowohl in russischer als auch in polnischer Sprache, denn im Lager gab es eine ganze Menge Polen. Ich besuchte mal diese, mal jene Vorlesung, obwohl ich kaum ein Wort verstand.

Dort befand sich auch der Enkel des Dekabristen Viktor Alexandrowitsch Mosgalewskij. Als Tausendkünstler leitete er die Lagerwerkstatt. 1937 wurde er erschossen. Dort war auch Sergej Wolkonskij, der es irgendwie zuwege gebracht hatte, mit irgendeiner konterrevolutionären Mission in London ins Außenministerium zu gelangen. Im Lager organisierte er mit Erlaubnis der Leitung eine handgeschriebene Zeitschrift. Da war auch so ein Regisseur aus Moskau oder Leningrad, der es verstanden hatte, aus den Häftlingen eine Laienspielgruppe zusammenzustellen. Ich weiß noch, daß ich eine der Aufführungen besuchte. Sie gaben ein Stück von Gorkij – „Nachtasyl“. Das Spiel der Artisten und die Dekorationen waren allerhöchste Klasse. Sogar die Gouvernementsleitung war anwesend und belohnte die Schauspieler mit Applaus. Ich kann mich auch noch an den Künstler Solomin und seine Ehefrau erinnern. Ihre Kostüme waren aus gewöhnlichen Säcken zusammengenäht und äußerst hübsch mit Ölfarben bemalt. Natürlich gab es auch andere interessante Leute, aber entweder kam ich mit ihnen nicht näher in Kontakt oder ich habe sie vergessen.

 

Inzwischen war der Leiter der Unter-Abteilung für Zwangsarbeiten, Winokurow, irgendwohin verschwunden, und an seiner Stelle wurde ein gewisser Tipunow ernannt, scheinbar genau jener, der später Minister des Innern war. Einmal fragte er mich, ob ich Fremdsprachen könnte. Ich sagte, daß mir Französisch, Deutsch und Englisch ein wenig geläufig wären. In dem Zimmer, in dem er sich damals befand, waren noch zwei Leute anwesend – der eine klein und stämmig, der andere hochgewachsen und hager. Tipunow wollte danach wissen, ob ich auch Polnisch könnte. Ich erwiderte, daß ich es ein bißchen lesen könnte, aber weniger als die Hälfte verstehen würde. Er meinte das würde genügen, und indem er auf seine Leute am Tisch zeigte, sagte er, daß ich mich zu seiner Verfügung halten sollte. Sie fungierten als Bevollmächtigte bei der Repatriierung polnischer Bürger und waren beide Bolschewiken. Der Nachname des Kleinen, Stämmigen war Korwowskij. Aus den folgenden Unterhaltungen stellte sich heraus, daß er von Beruf Schneider war. Wie der andere hieß, weiß ich nicht mehr. Er war wohl tuberkulosekrank und von Beruf Musiker. Sie erklärten mir, daß sich in Krasnojarsk eine große Anzahl von Polen angesammelt hatte. Das waren auch Angehörige der polnischen Legionen, welche gegen die Bolschewiken gekämpft hatten, sowie Flüchtlinge aus Polen aus den Jahren 1914 und 1915. Sie mußten erfaßt, in Listen eingetragen und in die Heimat zurückgeschickt werden. Da weder Korwowskij noch der andere Pole der russischen Sprache mächtig waren, wälzten sie die ganze Arbeit bezüglich der Erstellung der Listen, Statistiken und der eigentlichen Registrierung auf mich ab. Mir wurden Muster von polnischen Legionärs- und Flüchtlingsdokumenten gezeigt, nach denen ich die Zahl der Repatrianten berechnen und eine bestimmte Reihenfolge für die Verschickung festlegen sollte. In jeden Transport paßten bis zu tausend Menschen. Tipunow sagte, daß ich mir aus den Lagerhäftlingen 8 Mann als Helfer aussuchen könnte. Für die Registrierung wurde ein großer Saal im dritten Stock des Gouvernements-Exekutivkomitees zur Verfügung gestellt (in diesem Gebäude befindet sich heute das Hotel „Jenissej“). An einem Ende des Saales stand ein Tisch, an dem ich untergebracht wurde. Später standen dort auch noch die Tische meiner Gehilfen, und am anderen Ende – der Tisch der Bevollmächtigten.

Am Morgen des Tages, an dem wir mit den Registrierungen begannen, bildete sich eine lange Menschenschlange. Sie nahm ihren Anfang vor der Tür des Zimmers, in dem die Registrierungen stattfinden sollten, zog sich dann über die Treppe von der dritten Etage bis zum Eingang des Gebäudes hin und endete irgendwo beim nächsten Häuserblock. Die Registrierung ging, soweit ich mich erinnere, folgendermaßen vonstatten: zuerst kamen diejenigen, die in die Heimat zurück wollten, zu mir an den Tisch. Ich überprüfte ihre Papiere und machte, sofern sie in Ordnung waren, mit verschiedenfarbigen Bleistiften Anmerkungen, je nachdem, mit welchem Transport sie verschickt werden sollten. Und dann verwies ich sie an den entsprechenden Tisch eines meiner Gehilfen. Wenn der Repatriant mit meiner Entscheidung nicht zufrieden war, schickte ich ihn zum Bevollmächtigten, der meinen Beschluß fast immer unterstützte. Falls die vorgelegten Dokumente merklich schlecht „gefälscht“ waren, sagte ich demjenigen, der sie vorgezeigt hatte, er sollte morgen wiederkommen und dann ein „echtes“ Dokument mitbringen. Ich weiß noch, wie einmal ein Pole ankam, ein gebürtiger Krasnojarsker und Bekannter von mir, der mir ein schlecht leserliches Dokument mit der Abbildung des polnischen Adlers vorzeigte. Ich nannte ihn einen Dummkopf und gab ihm den Rat, irgendeinen der echten Legionäre zu bitten, das Papier auszustellen. Am nächsten Tag brachte er mir eine Beglaubigung, an der selbst der mäkeligste Registrator nichts hätte aussetzen können. Ich kann mich auch noch an eine andere Episode erinnern. Ein Junge Pole kam und verkündete, daß die notwendigen Papiere ihm abhanden gekommen wären. Ich schickte ihn zu den Bevollmächtigten. Man konnte hören, daß sie dort groß debattierten und einer der beiden Bevollmächtigten schließlich irgendwohin telefonierte. Danach tauchten zwei Typen von der GPU auf, die den Polen verhafteten. Später hörte ich, daß man ihn erschossen hat. Drei Tage dauerte die anstrengende Arbeit mit der ganzen Registrierung und der Aufstellung dieser polnischen Listen. In jedem Transport ließen sich etwa tausend Leute unterbringen. Soweit ich mich erinnere (es ist kein Wunder, daß man so etwas vergißt, denn seitdem sind 50 Jahre vergangen), sollten mit dem ersten Transport nur Legionäre ohne Familienanhang in die Heimat zurückgeschickt werden. Die Bevollmächtigten wurden von den polnischen Frauen belagert. Dies waren entweder polnische Flüchtlinge oder Russinnen, welche Polen geheiratet hatten. Alle wollten so schnell wie möglich abfahren und mit dem zweiten Transport fortkommen.

Offensichtlich hatte die Gouvernementsführung genug von dem Gedränge vor dem Gebäude des Gouvernementsexekutiv-Komitees und auf den Treppen. Außerdem war die Registrierung im wesentlichen beendet. Noch nicht erfaßt waren nur die Polen, die am Stadtrand lebten. Und deswegen verkündeten die Bevollmächtigtem am Ende des dritten Registrierungstages, daß ich die Registrierungen am rechten Flußufer, in den Räumen der Umsiedler-Baracken, abschließen sollte (heute steht dort das Krankenhaus auf dem Predmostnaja-Platz). Zusammen mit meinen beiden Gehilfen begab ich mich auch dorthin. Einer von ihnen war ein vollkommener, phlegmatischer und unnachgiebiger Lette, der andere ein nervöser junger Mann mit deutschem Nachnamen. Die ganze Zeit zankten sie sich und bescherten mir viele Unannehmlichkeiten. Dort war ein kleines Zeltstädtchen für die eingetroffenen Polen eingerichtet worden. Es gab wenig zu tun. Dafüpr ging ich viel spazieren und baden. Zu jener Zeit redete niemand von dem Teil der Stadt Krasnojarsk, der am rechten Flußufer lag. Über viele Kilometer erstreckte sich hier nur freies, offenes Feld.

Dieser angenehme Zeitvertreib hielt etwa zwei Wochen an. Nachdem die Arbeit beendet und alle Transportzüge abgefahren waren, meldete ich mich in der Unter-Abteilung. Dort wurde mir gesagt, daß ich nun ins Lager zurückkehren und die Registrierung der lettischen, estischen und litauischen Repatrianten durchführen sollte, und zwar nicht nur derer, die im Lager einsaßen, sondern auch der anderen, die dort aufgrund der Meldepflicht erscheinen würden.

Auf meine Frage, wer den hier der Bevollmächtigte für die Registrierung und Repatriierung sei und an welche Dokumente ich mich halten sollte, winkte der Leiter ab und meinte, daß es keinen Bevollmächtigten gäbe und keine Papiere angefordert werden brauchten. „Je mehr wir von ihnen dorthin fortschicken – um so besser“. Die Erfassung war nach 5-6 Tagen beendet. Aus der Stadt kam niemand zum Registrieren. Wahrscheinlich hatten sie Angst, daß man sie, wenn sie erstmal im Lager angekommen waren, nicht mehr herauslassen würde. Es wurden lediglich Lagerinsassen registriert, bei denen es sich überwiegend um Letten handelte; es gab nur wenige Esten und überhaupt keine Litauer. In fünf, sechs Tagen war diese Registrierung erledigt, und ich wollte an meine Arbeit zu dem Tisch mit den Personalakten zurückkehren. Aber ... jetzt wurde mit befohlen, mich mit der Registrierung der Madjaren (Ungarn) zu befassen. Ihr Lager befand sich im Militärlager. Sehr viele Madjaren, aus den Reihen ehemaliger Kriegsgefangener, waren in die Rote Armee eingetreten; einige von ihnen hatten russische Frauen geheiratet und wollten nicht nach Ungarn zurückkehren. Es gab aber auch solche, die gemeinsam mit ihren russischen Ehefrauen nach Ungarn ausreisen wollten. Als Dolmetscher stellte man mit einen Dolmetscher namens Tschesnjak zur Verfügung. Wirtschaftsleiter war ein Ukrainer aus unserem Lager mit dem Nachnamen Rusnak. Und dann war da noch ein Mann in unserer Repatrianten-Gruppe – Andrej Bojzow. Ich weiß nicht mehr, was er für eine Funktion oder einen Dienstgrad hatte. Heute scheint es mir so, als ob er damals als eine Art Kommissar bei mir fungierte. Er war etwa dreißig Jahre alt. Seinem Aussehen und seinen Manieren nach – ein ehemaliger Kompanie-Feldwebel der Zaren-Armee. Er war ebenfalls Lagerinsasse, von einem Gericht zu 10 Jahren verurteilt. Aber früher hatte ich ihn im Lager nie gesehen. Wir, die vier Männer aus der „Verwaltung“, hatten mehrere Zimmer in dem leeren, dreigeschossigen Steinbau eingenommen. Die Registrierung hätte man in 2-3 Tagen erledigen können, aber es gab Unklarheiten und Komplikationen, vermutlich wegen irgendwelcher Probleme bezüglich der russischen Ehefrauen, die zusammen mit ihren Männern nach Ungarn fahren wollten. Und so zog sich die Registrierung der Madjaren über einen ganzen Monat hin.

Irgendwie versuchte Tschesnjak mich und Rusnak zu einem ungarischen Nationalgericht einzuladen – frischem Kohl, der mit roten Paprika gekocht war. Aber als wir dieses Essen probierten, traten uns, wie man so sagt, die Augen aus dem Kopf, und es kam uns so vor, als ob wir glühendheiße Kohle im Mund hätten.

Es herrschte ein warmer Herbst – Ende August, Anfang September. Ich ging in der Umgebung des Militärlagers spazieren und sammelte Champignons. Rusak kochte daraus, unter Zugabe von Mehl, Salz und noch irgendwelcher Zutaten, ein schmackhaftes Essen, das weder Suppe noch Brei war, sondern so ein Mittelding, aber jedenfalls sehr wohlschmeckend und nahrhaft. Manchmal bewirteten wir damit sowohl Tschesnjak als auch Boizow. Seine Ehefrau lebte bei ihm. Sie war eine kleine Frau, viel jünger als ihr Mann und sehr schweigsam. Ab und zu lud Boizow mich zu sich zum Teetrinken ein. Außer Tee gab es auch Trinkgelage – eine kleine Menge Alkohol und eine Kleinigkeit zu essen – Hering oder Pferdewurst. Obwohl er gewöhnlich äußerst sparsam mit Worten umging (auf meine Frage, wofür man ihm zehn Jahre aufgebrummt hatte, antwortete er nicht), wurde er nach dem Genuß von Alkohol gespächig. Das Thema seiner Erzählungen war stets dasselbe. Irgendwie war es dazu gekommen, daß er aktiver Teilnehmer am Petrograder Terror geworden war. Während er erzählte, stand auf dem Gesicht seiner Frau das blanke Entsetzen geschrieben. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich ebenfalls. Aber er sprach mit einer ruhigen, monotonen Stimme. Als er geendet hatte, meinte er – na, dann laßt uns das Spritchen mal austrinken. Danach ging ich fort.

Einmal erklärte Rusnak mir, daß bei ihm großer Mangel an Lebensmitteln herrsche und er sich davor fürchtete, daß man seine Haftstrafe verlängern würde. Er war ein sehr religiöser Mensch; fast täglich ging er in die Stadt, um in der Pokrowskaja- Kirche zu beten. Eines schönen Tages sagte er mir, daß Gott ihm geholfen und sich die Sache mit den fehlenden Lebensmitteln erledigt hätte. Wie das gelungen war – das erzählte er nicht, und ich fragte ihn auch nicht weiter aus.

Schließlich fuhren die Ungarn ab, unter ihnen auch Tschesnjak. Ich un Rusnjak kehrten ins Lager zurück. Was mit Boizow geschah und wohin er kam – das weiß niemand. Im Lager erfuhren wir, daß unser Lager liquidiert werden sollte. Diejenigen, die nur noch eine kurze Zeit abzusitzen zu hatten, wurden in die Freiheit entlassen. Die, die eine lange Haftstrafe hatten und als gewöhnliche Arbeiter an anderen Orten eingesetzt waren, wurden in einem besonderen Gebäude in der Stadt konzentriert, wo sie unter Konvoi-Bewachung arbeiten sollten. Und jene, welche in der Verwaltung tätig waren, würden ihre Reststrafe im Gefängnis absitzen. Im Oktober oder November 1921 wurden wir ins Gefängnis verlegt.

Mir ist so, als ob ich das, worüber ich weiter oben geschrieben habe, schon einmal früher erwähnte und nun wiederhole, aber ich wollte nicht in meinen alten Aufzeichnungen herumkramen, und deswegen gibt es möglicherweise Wiederholungen und vielleicht sogar widersprüchliche Aussagen. Es ist schwer, sich an das zu erinnern, was vor einem halben Jahrhundert geschehen ist.

Winter, Frühling, Sommer und Herbst des Jahres 1921 waren für mich nicht besonders schwer, aber ich empfand die ganze Zeit das bedrückende Gefühl, ein Häftling zu sein. Das machte sich besonders beim Umgang mit freien Menschen bemerkbar. Nachdem ich damit begonnen hatte, mich an die Arbeiten zu erinnern, die ich während meiner Inhaftierung verrichten mußte, habe ich darüber ganz vergessen, daß ich mich bis zu meiner Strafe im Konzentrationslager, genauer gesagt, bis zu meiner Verhaftung am 25. November 1920, einige Monate lang in Kriegsgefangenschaft befand, und während ich im Militärlager wohnte, im 3. Bezirk des Eisenbahnabschnittes für militärisch-ingenieurtechnische Aufgaben zuerst als Aufseher des Militärlagers und später als Gebäudekommandant tätig gewesen war. Die zurückweichende Koltschak-Armee blieb fast vollständig in Krasnojarsk und wurde im Militärlager interniert. Weiter gen Osten gingen nur die Kappel-Anhänger – die Ischewsker und die Wotkinsker Division. Im Militärlager wurden 32.000 Soldaten und 8.000 Offiziere interniert. Die Soldaten wurden überprüft und entlassen. Die Offiziere durchliefen ebenfalls eine Überprüfung. Einige von ihnen kamen ins Gefängnis, andere wurden erschossen oder aus Krasnojarsk ins Wologodsker Gouvernement evakuiert, nur wenige wurden in die Freiheit entlassen. Ich sollte mit dem 2. Transport ins Wologodsker Gouvernement verschickt werden, aber dank meiner Bekanntschaft mit dem Leiter des militärisch-ingenieurtechnischen Eisenbahnabschnitts wurde ich im allerletzten Augenblick aus den Reihen hinausgeführt und in Krasnojarsk zurückbehalten.

Das Militärlager bestand aus drei Revieren, auf denen Gebäude aus Stein errichtet worden waren – dreigeschossige Gebäudekomplexe für die Offizierswohnungen und zweietagige Kasernen für die Soldaten. Des weiteren gab es noch eine vierte Sektion – Erdbaracken, in denen vor der Revolution österreichische Kriegsgefangene gelebt hatten. Alle vier Grundstücke waren besetzt mit der internierten 40.000-Mann-Armee.

Die Überprüfung und Entlassung der Soldaten ging nur schleppend vor sich. In dem Militärlager wütete der Flecktyphus. Einige Hospitäler waren eingerichtet worden, aber sie konnten nicht alle Erkrankten aufnehmen. Auf dem Gelände liefen hungrige Pferde herum, die bald darauf eingingen. Das ganze Gebiet sowie Schuppen und Scheunen wurden abgebrannt. Neben den Krankenhäusern wurden in großem Maßstab die Leichen der an Flecktyphus Verstorbenen aufgestapelt. Der Verwaltung des 3. Bezirkes des militärisch-technischer Eisenbahn-Streckenabschnitts wurde die Aufgabe gestellt, beim Einsetzen des Frühlings das Militärlager zu säubern.

Zur Reinigung und Herstellung geordneter sanitärer Verhältnisse wurden Arbeitsgruppen aus kriegsgefangenen Polen gebildet. Meine Aufgabe als Leiter des Reviers und später als Gebäude-Kommandant war es, alle Räumlichkeiten sowie das Inventar und die in den Räumen wohnenden Personen aufzulisten bzw. zu registrieren. Wenigstens war die Arbeit nicht besonders schwer, aber auch nicht gerade angenehm.

Bereits im Sommer, als ich Kommandant des Gebäudes war, trafen aus irgendeinem Anlaß, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, minusinsker Partisanen ein. Sie soffen andauernd, machten Unfug und begingen Gewalttätigkeiten. Sie ritten mit Pferden durch die inneren Lagerräume, sogar nach oben in den zweiten Stock. Die gesamte Lagerleitung, meistenteils Parteiangehörige, schlossen sich in ihren Wohnungen ein und verbarrikadierten sich dort. Ich wurde zu Schtschetinkin gerufen. Er war beunruhigt, verlangte jedoch von mir kategorisch, daß ich zwei große Kasernen für die Partisanen freimachen sollte. Ich sagte ihm, daß dies nur der Kommandant des Militärlagers veranlassen dürfe und der wäre irgendwohin verschwunden. Schtschetinkin schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: tu was - und keine Widerrede. Es war bereits Abend. Ich mußte loslaufen und die Mitarbeiter irgendwelcher Verwaltungen und Organisationen aus den Kasernen herausklopfen, und als sie protestierten und verkündeten, daß sie nirgendwo hingehen würden, sagte ich ihnen: wenn ihr euch nicht beeilt, macht ihr es nur noch schlimmer – dann werden die Partisanen herkommen und euch hinauswerfen. Dabei wurde ich vom Schreien ganz heiser. Nach zwei Stunden erschien ich bei Schtschetkin und meldete ihm, daß die Kasernen geräumt wären. Ich weiß nicht mehr, ob die Partisanen sich lange in Krasnojarsk aufhielten. Wahrscheinlich nicht mehr als eine Woche.

Der Sommer verlief ruhig, aber am 25. November wurde ich verhaftet. Bei der Untersuchung sagte der Ermittlungsrichter nicht mir, sondern Lew Terskoj, der in der Stadt verhaftet worden war, daß man uns erschossen hätte, wenn alle von uns vor dem 7. November 1920 (dem Tag der Amnestie) ausfindig gemacht worden wären.

Im Gefängnis verbrachte ich etwa einen Monat, danach kam ich ins Lager; meinen einjährigen Aufenthalt dort habe ich bereits beschrieben.

Aus dem Lager wurden wir (die „Gefährlichsten“) Ende 1921 ins Gefängnis verlegt. In der Gefängniszelle blieb ich nicht lange. Ich wurde zum Arbeiten in die Gefängnis-Kanzlei bestellt. Dort arbeitete ich als Registrator und führte ein Buch über eingehende und ausgehende Papiere. An die Kanzlei grenzte ein Raum, der aus drei kammerähnlichen Zimmern bestand – einem großen und zwei kleineren. In ihnen waren die Häftlinge untergebracht, die in der Gefängnis-Kanzlei und den Werkstätten tätig waren. Insgesamt etwa 20-25 Mann.

Der Gefängnisleiter war zu der damaligen Zeit Matson-Karatschun, ein erfahrener und humaner Mensch. Später war er Vorsitzender des Gouvernementsgerichtes. Neben der Kanzlei befand sich eine kleine Mechanik-Werkstatt, in der, zusammen mit einem Gehilfen, ein gewisser Arzichowitsch (ich bin nicht sicher, ob ich seinen Nachnamen richtig in Erinnerung behalten habe) arbeitete –wie die Leute sagten, die rechte Hand des berühmten Falschmünzers Petja, der erschossen worden war. Meine Tätigkeit gehörte nicht gerade zu den schwersten. Auch die Lebensbedingungen waren gar nicht so schlecht. Bei Arbeitsende und vor dem Morgenappell konnten wir, die wir in den drei ans Büro angrenzenden Zimmerchen untergebracht waren, frei auf dem Wirtschaftshof spazierengehen. I den Kammern standen Bettstellen, daneben Hocker. Kriminelle gab es in diesen Räumen nicht, und es kam auch niemandem etwas abhanden. Aber die Atmosphäre war unheimlich. Aus dem Gefängnis wurden häufig ganze Wagenladungen von Menschen zur Erschießung abtransportiert.

***

Die Sieger werden nicht verurteilt.
Macht und Ruhm sind – ihr Los.
Sehr bald wird die Welt die Liste ihrer
Frevelhaften Handlungen vergessen.
Rühmen wird man ihre Taten.
Vergöttern wir man ihre Persönlichkeit.
Ihr Talent wird man übermäßig hervorheben.
Man wird ihr Äußeres ausschmücken.
Es war so, und so wird es bleiben,
Davon bin ich überzeugt.
Die Sieger werden nicht verurteilt.
Sie richten die, die besiegt wurden.

***

Sie schreiben sich alles von der Seele,
die Skalden (altnordische Dichter und Sänger; Anm. d. Übers.),
Über das Böse, darüber, daß der Faschismus die Welt getragen hat,
Über Auschwitz, Buchenwald ...
Ich werde die Skalden verehren
Und ihre Malereien in allen Farbnuancen,
Wenn sie anfangen, über das Grauen der
Stalinistischen Folterkammern zu schreiben.
Sind doch die Verbrechen dort und hier
Irgendwann verübt worden.
Wozu den ganzen Staub vom „Dort“ vergeuden,
Und den vom „Hier“ so ganz vergessen.

***

Fort gingen Ehefrau, Freunde, Feinde,
Und es begann ein Leben in Finsternis.
Meine letzten Schritte
Gehe ich auf der Erde.
„Ich“ werde nicht mehr da sein,
Aber meine sterbliche Hülle.
Na und was schon, soll es
Doch so kommen, wie es kommen wird.
Irgendwohin ist die zähe Angst verschwunden,
Zurück blieb nur die Trauer.
Ihr „Nichts“ weit aufsperrt seinen Rachen
Und nähert sich mir.
Und ich soll in einen Abgrund fallen,
Gerade so, wie ich in den Schlaf gefallen bin.
Aber ich werde hineinfallen, wenn
Ich seinen Boden streife,
Vielleicht, genauso wie damals,
Werde ich im Traum wieder erwachen.

***

Im Keller der „GPU“
Wart ihr wahrscheinlich gar nicht,
Und ihr habt wohl kaum gehört
Und auch wohl kaum gesehen,
Wie Menschen dort hingemetzelt wurden,
Wie Menschen dort umkamen.
Ja, wohl kaum ...
Das Blut haben sie mit Sand bedeckt,
Den Boden mit Wasser aufgewischt,
Ins Auto hat man sie geladen und
Irgendwohin fortgebracht.
Dort haben sie sie vollständig entkleidet,
Nackt haben sie angefangen in der Erde zu graben.
Habt ihr davon nicht gehört?
Was wißt ihr schon vom Leben?
Euch hat man wahrscheinlich nicht gefoltert
Euch keinen Hering zu essen gegeben,
Ohne Wasser waren sie ungenießbar.
Hat man euch nicht die Finger gebrochen?
Bei den Verhören eine Anklage gegen euch erfunden?
Was wißt ihr schon vom Leben?
Anfangs waren sie noch höflich,
Aber dann haben sie euch angeschrien,
Euch beschimpft, beleidigt und gekränkt,
„Lumpengesindel“ haben sie zu euch gesagt
Und euch mit Mutterflüchen übersät.
Nein, das habt ihr nicht gewußt!
Im Keller der „GPU“
Seid ihr nie gewesen.
Ihr zuckt mit den Schultern.
Seid ihr nicht den Henkern begegnet?
Seid ihr nicht in ihrer Gewalt gewesen?
Euer Glück, euer Glück ...

***

„Wie sich heute der weise Oleg bereit macht ...“
A.S. Puschkin

Wie sich heute unser Leonid bereit macht,
Wieder im Ausland spazierenzufahren.
Zwei Monate sitzt er bereits zuhause,
Und länger will er dort nicht sitzen.
Da ist ein Haufen Spickzettel, die er mitnehmen will,
seinen ganzen mächtigen Willen hat er angestrengt,
Mit dem Aussehen eines Herzogs oder Grafen
Schreitet er über das sommerliche Feld.

Und hinter ihm konnten sie nicht den Schritt und die Reihen halten
gebrannt von ihrer Leidenschaft und ihrem Ehrgeiz,
Es war keineswegs eine einträchtige Menge,
wie seine Speichellecker da einherschritten.

Ihm entgegen geflogen kommt gerade aus
Ausländischen Ortschaften,
In stattlicher Pose der poetische Löwe –
Der Poet Jewgenij Jewtuschenko.

Mit dem Schreiben von Gedichten verbrachte er ganze Tage.
Und da stießen sie mit den Nasen aufeinander.
Leonid beendete den Vormarsch
Und spricht sogleich wie folgt zu Jewtuschenko:

„Na, sag mir mal, Jewtuschenko,
Was wird mit mir im Leben geschehen?
Droht mir Verderb in fremdem Land,
Was kann mir wohl passieren?
Zünde die prophetische Gabe in deinem Herzen an.
Dafür wirst du ein großzügiges Honorar bekommen“.

Da antwortete Jewgenij: „Ich werde es Ihnen sagen.
Denn ich benötige das Honorar sehr dringend.
Aber vieles kann ich jetzt nicht ausplaudern,
Denn ich bin stark erkältet.
Stark, absolut ist jetzt ihre Macht,
Aber in einem einzigen Augenblick können Sie stürzen.
Früher oder später, aber die Zeit wird kommen.

Der Zeitpunkt ist für uns verborgen,
Und ein gewisser Typ wird sie vom Sockel stoßen,
So wie sie Nikita zu Fall gebracht haben.
So wird sich die Geschichte der Vergeltung vollenden.
Good-bye! Und nun erwarte ich das Honorar“.

Leonid geht, den Blick gesenkt,
Ein Gedanke geht durch seinen Schädel,
Ein einziger Gedanke dessen, was Jewegenij gesagt hat ...
Er will es nicht glauben, aber er glaubt.
Leonid geht und blickt auf sein Gefolge,
Der Gedanke fließt in eine neue Richtung:
„Wer ist dieser Judas, wer ist dieser Bandit?
Wer ist er? Kirilenko oder Suslow?
Oder jemand anders? Wie soll ich nur die Dunkelheit vertreiben?
Wer ist mein unbekannter, bösartiger und intriganter Feind
Mit seiner verschwörerischen Bande?
Jemand aus dem Gefolge? Wer?“

Schon fliegt Leonid mit dem Flugzeug,
Fliegt über Flüsse und Berge,
Und ein Wort geht ihm durch den Kopf:
„Wer? Wer? Wer?“

***

Wer auch nur ein kleines bißchen denken kann,
Der sollte folgendes begreifen:
Die Liebe ist natürlich keine Kartoffel.
Und warum? Darum eben.
Eine Kartoffel kann man mit Butter essen,
Und sehr viel kann man essen.
In der Liebe kann man eine Liebeserklärung hören,
Und darin liegt das Vergnügen.
Eine Kartoffel kann man einfach wegwerfen,
Wenn die Kartoffel die Ehe ist.
Aber mit der Liebe ist es eine komplizierte Sache –
Man darf sie niemals wegwerfen.

***

Es gibt Mörder und Ermordete,
Opfer gibt es und Henker.
Es gibt verborgene Verbrechen,
Die des Nachts verübt werden.
Mögen die Zeugen – die Gestirne,
Die nach unten in das Dickicht blicken,
Jedoch wer? findet der Bösewichter Vergeltung
In den Tiefen der eigenen Seele.
Und laß ihn? sich nicht daran gewöhnen
in der Fortführung des Lebens aller,
Trotzdem muß er es eingestehen
Vor seinem Gewissen.
Aber wir mußten uns Romane anhören,
Und solche Menschen gibt es,
Die ganz ohne jegliches Gewissen leben,
Die Scham und Ehrgefühl verloren haben.
Über solche Leute wird noch in jüngster Zeit geschrieben:
Daß sie bereits bestraft worden sind –
Daß sie schon keine Menschen mehr sind.

***

Vergeblich grämen wir uns
Und machen uns viel zu früh Sorgen,
Daß wir auftauchen, verschwinden.
Wir sind genau eine Filmszene auf dem Bildschirm.
Aber man muß sich damit abfinden –
Und die Filmszenen können sich wiederholen.

***

Jene, die waren.
Jene, die schon nicht mehr sind,
Viele Jahre, wenige Jahre.
Jene, die man bereits vergessen hat,
Leben vielleicht noch irgendwo.
Aber nicht hier.

 

DAS LAGER

Wir drängten uns in den Baracken, wie Maden in einer Leiche,
Und diese Leiche verwest immer mehr.
Wir sind Statisten in irgendeiner riesigen Truppe,
aber das Theaterstück auf der Bühne läuft ohne uns.
Und die Tage vergehen, und die Tage verschwinden.
Die Lagerzonen, die Hunde und Menschen bewachen uns.
Die Sehnsucht zerreißt unser Herz wie ein Rabe.
Und die Nerven zittern wie straff gespannten Saiten.
Sklaven sind wir – und ein Ende der Sklaverei ist nicht in Sicht.
Arbeite mal jeden Tag, damit sie dir zu essen geben.
Und die Seele ist so wund und bis zu Tränen verletzt,
Und im Herzen entstehen Verbitterung und Wut, Angst und Rachegefühle.
Manchmal geht einem ein Gedanke durch den Kopf:
Soll uns doch der Tod schneller dahinraffen,
Wie Gras.
Aber plötzlich sieht du alles in einem ganz anderen Sinn:
„Einem lebenden Hund geht es besser, als einem toten Löwen“.

***

In Amerika herrschen strenge Gesetze.
Ein Dieb wird verurteilt, weil er einen Scheck gestohlen hat.
Aber wenn es ein Millionen-Scheck ist,
Dann ist der Dieb – ein verdienstvoller Mensch.
Bei uns gibt es keine Ehrfurcht vor dem Geld.
Und jeder Dieb ist eben bloß ein Dieb,
Und wenn er auch die halbe Welt gestohlen hat,
Dann ist ihm eine Verurteilung sicher.
Aber mit Mord – da ist die Sache schon schwieriger.
Jemand hat eine Alte umgebracht – acht Jahre.
Aber tausenddreihundert – da ist es möglich,
Daß der Mörder nicht bestraft wird.
Man verherrlicht den Mörder deswegen,
Ihm gebühren Ruhm und Ehre.
Und ein Monument muß für ihn errichtet werden,
Und sie geben ihm die Bezeichnung eines Genies.

***

Wenn mir ein Hund nachbellt,
Hat er auf seine Weise recht.
Das ist der Hunde Pflicht – so versteht
Es der Hundekopf.
Wenn er läuft und flieht,
Werfe ich nicht mit Steinen nach ihm.
Und selbst wenn er beißt,
Dann verzeihe ich ihm trotzdem.
Aber es wird mir sehr schwer fallen,
Zornige Worte zurückzuhalten,
Dann, wenn er mich anbellt,
Ist es schon nicht mehr des Hundes Kopf.

***

Nun sagen Sie mal, ist das etwa kein Unsinn,
Diese unsere, diese „unsere“ Wahlen?
Es ist nicht bekannt, warum und woher
Wir einen von nur einem vorhandenen wählen.
Obwohl sie ihn bereits ohne uns gewählt haben,
Sollen wir ihn noch einmal wählen.
Das ist, in der Tat, genau genommen, ein Kinderspiel –
Diese unsere, diese „unsere“ Wahlen.

Sie gehen hier mit uns um, wie mit Kindern:
„Na, Kindchen, dann nimm mal das Papierchen
Und wirf den Stimmzettel in das Ürnchen,
Und anschließend geh den ganzen Tag frei spazieren!“
Ich werfe das Stimmzettelchen einfach so hinein,
Ohne Protest, ohne etwas zu sagen.
aber eines will mir nicht in den Kopf hinein:
Wofür braucht der Bürger eine solche Pflicht?

Unter Josif war all das zum Brauch geworden,
Und, wie man sieht, hat es sehr kräftig gewirkt.
So ist es bequemer für jene, die oben sitzen.
Und sie bewahren dieses ganze dumme Zeug.
Wenn die Wahlen wie Wahlen wären,
Könnte man ihnen drei Federn anstecken,
Sie könnten von oben nach unten fallen
Und ihre Stellung und ihre Macht verlieren ...

„Tag und Nacht“
Ausgabe 4/5-98


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