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Aleksander Sokolenko. Der Rotabanner-Orden

Aufbewahren für alle Zeit

1

Der Bahnstation Ili näherte sich von Norden ein Personenzug. Die einundsechzig Häftlinge, die man bis zu dieser Station in speziell zu diesem Zweck eingerichteten Güterwaggons geschickt hatte, waren beunruhigt: „ Treffen vielleicht aus dem Lager, wohin sie kommen sollten, Begleitwachen ein, oder mußten sie bis Alma-Ata weiterfahren, um von dort aus an ihren festgelegten Bestimmungsort zu gelangen?“ Die erfahrensten unter den Gefangenen wußten schon, daß man auf dieser Wgestrecke Alma Ata – Nowosibirsk, oder umgekehrt, lange fahren kann, bevor man endlich dort ankommt, wo man hin soll.

Zum Glück traf die Konvoiwache ein. Es standen bereits drei Lastwagen mit dieser Sonderfracht bereit. Das bedeutet, daß die 25 km bis ins Lager nicht zufuß zurückgelegt werden brauchten, sondern mit Autos. Das ist ganz gut. Und sie sagen, daß das dort gar kein Lager ist, sondern ein Schlaraffenland: Wassermelonen, Tomaten und ähnliche Kost. Iß – ich will nicht, was segensreicher, fruchtbarer Süden bedeutet!

Aber warum laden sie uns so lange Zeit nicht auf die Fahrzeuge? Und was sind das für Säcke, mit denen sie da die Autos beladen?

Bald erfahren wir, daß es unsere Trockenration ist, daß sie uns nicht ins Melonen-Lager fahren werden, sondern direkt in irgendeine Lager-Außenstelle für Holzfällerei in den Bergen, einige hundert Kilometer von hier entfernt. Und somit hörten wir auch auf Gemüse und Früchte zu essen.

Der junge Unter-Leutnant, der sich neben uns zu schaffen machte und, wie sich später herausstellte, Kommandeur des Militärzuges jener Lager-Außenstelle war, zu der sie uns jetzt brachten, hielt vor unserem Aufladen auf die Lastwagen eine Ansprache.

Indem er mit den Armen nach Süden wies, wo sich die abschüssigen Wände unbekannter Berge hoch in den Himmel erhoben, die viele von uns zum ersten Mal sahen, sagte er, daß sie uns nun etwa 300 Kilometer weit zum Bergflüßchen Tschilitschka transportieren würden. Er erzählte, was uns dort für eine Schönheit erwartete. Und daß die Arbeit dort gar keine Arbeit wäre, sondern wir zur Erholung an einen Gesundungspunkt kämen: umgeben von majestätischen Felsen, am Ufer würde Mischwald, Wild und wilde Früchten in Hülle und Fülle, flußabwärts sauberes, geschmolzenes Schneewasser, in dem riesige Baumstämme schwimmen – und dort würde es unsere Aufgabe sein, lediglich am Ufer umherzugehen und darauf zu achten, daß keine von ihnen am Ufer hängen blieb.

Der Unter-Leutnant vergaß auch nicht, das wunderbare Essen zu erwähnen, das diejenigen bekommen, die ihm dienen und auf ihn hören würden, sowie die zukünftigen Kurgäste, die schon erwartungsvoll ihre Münder aufmachten.

.

Sie fuhren auf einer mit Schlaglöchern beschädigten Straße geradewegs auf die vor ihnen sichtbaren Berge zu. Die Fahrzeuge näherten sich ihnen ziemlich schnell und bogen dann nach links ab. Die Berge blieben nun die ganze Zeit über zu ihrer Rechten und funkelten mit ihren verschneiten Mützen in der Sonne. Der Anblick, der sich dort bot, war in der Tat majestätisch.

Abends schafften sie uns in Spezial-Abteilungen, Kreis-Gefängnisse. Dort ruhten wir uns aus und machten uns am Morgen erneut auf den Weg. Obwohl wir über Flachland fuhren, am Fuße der Berge entlang, fühlte es sich so an, als ob wir die ganze Zeit immer höher aufstiegen. So kamen wir am dritten Tag auf irgendein Gelände, das in leicht abfallende Hügelketten gegliedert war, und schließlich fuhren wir in ein Gebirgstal hinein. Ab und zu wechselte dieses Tal sich wieder mit engen Schluchten ab, aber die Straße führte immer weiter und weiter nach oben, bis wir einen tiefen Fluß-Canyon erreichten. Und genau das war die berühmte Tschilitschka.

Die Lager-Außenstelle für das Abflößen von Holz teilte sich in zwei Brigaden, „Beobachter“, welche die abzuflößenden Baumstämme vom rechten und linken Ufer aus beobachteten. Ich geriet in die Brigade, die am rechten Flußufer arbeiten sollte.

Da ich unter den angekommenen „Kurgästen“ der einzige politische war, fühlte ich mich schrecklich einsam und suchte nach einem Menschen, dem ich mein Herz ausschütten konnte.

Der erste Eindruck von der Lager-Außenstelle war ganz und gar nicht so, wie ihn uns der Unter-Leutnant ausgemalt hatte. Der Lagerstandort am Ufer des Flußes stellte ein trostloses Bild dar: an einem Ende, hinter den Felssteinen, waren einige Zelte aufgeschlagen, die die Verwaltung der Lager-Außenstelle und die militarisierte Wache beherbergten. Und auf der anderen Seite der Gesteinsbrocken lagen, verstreut hingeworfen und direkt unter freiem Himmel, viele ziemlich schmutzige, graue Decken. Hier verbrachten die Häftlinge, die zur „Erholung“ gekommen waren, die Nacht.

In der Nähe eines Felsbrockens, bei einem abgerissenen Stück schmutziger Zeltplane, das dort zwischen dürren Bäumen ausgebreitet lag, sah ich im Schatten einen Mann; ich ging auf ihn zu.

Er mochte etwa 45 Jahre alt sein, war stämmig, wohlgenährt, braungebrannt, glattrasiert und sah wie ein kräftiger junger Mann aus. In seinem Mund blitzten bestimmt zehn Goldzähne. Er hatte ein auffallend längliches Gesicht, helle, sich leicht kräuselnde Haare, und seine klaren Augen sagten aus, daß er keiner von hier war, eher sogar ein Ausländer. Schnell freundeten wir uns an. Es stellte sich heraus, daß er Moskauer war, wegen irgendeines nichtpolitischen Paragraphen einsaß (bei dieser Begegnung erzählte er mir nicht, nach welchem Artikel des Strafgesetzbuches er verurteilt worden war), aber er hatte eine hohe Haftstrafe bekommen, arbeitete hier als Friseur, lieferte als Zweittätigkeit aus der benachbarten Kolchos-Bäckerei Brot auf Last-Pferden hierher, und beklagte sich, daß es so oft regnete.

- Die Menschen, - sagte er, indem er auf die am Boden herumliegenden Wolldecken wies, -

verkriechen sich vor dem Wetter unter diesen löchrigen Planen, und ich verberge mich dort unter dem abgerissenen Stück Zeltplane.

Er hieß Leonid Fjodorowitsch Dubrowskij, der Held unseres Berichtes.

2

Das, was der Unter-Leutnant an der Station Ili berichtet hatte, daß wir nämlich an der Tschilitschka einen Kurort, eine Erholungsstätte, vorfinden würden, sollte sich das eine oder andere bewahrheiten. Es gab in der Umgebung tatsächlich auf Schritt und Tritt Wild und die verschiedenartigsten Beeren im Überfluß. Häufig sahen wir gleichzeitig Hunderte von Bergziegen, Bergwidder, wie sie auf den Gipfeln der uns umliegenden Berge herumkletterten. Aber der Gesundungspunkt war nicht für uns bestimmt - und für das Wild auch nicht.

Von der reichhaltigen Staatskost und dem Wildbret, welches oft zwei Jäger aus den Reihen der Soldaten mühsam zu den Zelten heranschleppten, futterten sich auch die militarisierten Wachen durch – und alle, die ihnen nahestanden. Die Häftlinge aber, die sich tagsüber bis zur Gürtellinie im eisigen Wasser befanden, gingen ihrer Gesundheit verlustig, und fast jede Woche ertrank in diesem „Kurort“-Flüßchen irgendein Mensch.

Die Kräfte der Gefangenen schwanden dahin: die Verpflegung konnte den Schaden nicht mehr gutmachen. Tagsüber froren sie erbärmlich im Wasser und nachts froren sie genauso schrecklich unter freiem Himmel, ohne ihre Kräfte für den nächsten Tag wiederherstellen zu können.

Sich nachts nach der anstrengenden Arbeit gut erholen – das ist schon die halbe Sache. Deshalb begann ich bereits in den ersten Tagen nach meiner Ankunft an dieser Lager-Außenstelle mir eine Laubhütte zu bauen. Am Ufer des Flußes lag genügend Bruchholz herum und es wuchs hohes Gras. Aus den Holzstücken baute ich zunächst das Gerippe für meine Hütte, mähten mit einer Sense das Gras und deckte damit meine Zufluchtsstätte ab. Es kam vor, daß es ein oder zwei Tage und Nächte regnete, aber das machte mir nichts aus: ich war im Trocknen und im Warmen und konnte mit vollständig wiederhergestellter Kraft zur Arbeit ausmarschieren.

Auf meine sorgenfreie Lage in puncto Wohnverhältnisse wurde Dubrowskij nach dem nächsten langanhaltenden Dauerregen aufmerksam und bat mich, ihn bei mir aufzunehmen. Wir kamen zu einer Einigung. Wir verbreiterten meine Hütte ein wenig, und wenn wir dann turnusmäßig an einen anderen Standort umzogen, bauten wir von vornherein gleich eine für zwei Personen.

Zu zweit ging es fröhlicher zu. Wir kooperierten in gewisser Weise. Mitunter brachte er aus

der Kolchose Maismehl mit, und wir kochten dann, unter Hinzugabe von Sanddorn-Beeren, wunderbaren Kissel (süßsaure, aus Saft und Mehl gekochte Speise; Anm. d. Übers.), der als Mittel gegen Skorbut wirkte, denn ohne frisches Obst und Gemüse klagten viele über Skorbut. Der Kissel bewahrte mich und Leonid Fjodorowitsch vor dieser gefährlichen Krankheit. Im allgemeinen festigte unser Zusammenleben auch irgendwie unsere Stellung in dieser eigentümlichen Umwelt.

Wie ich mich bald überzeugen konnte, war Leonid Fjodorowitsch ein wunderbarer Mensch, guter Freund und guter Erzähler. Er besaß ein tiefes Einfühlungsvermögen und verstand etwas von Schönheit. Er konnte vollständig in Träumereien versinken, wenn er zum Beispiel die, wie es mir jetzt scheint, einzigartigen Sonnenuntergänge an der Tschilitschka betrachtete. Er war in der Lage, treffsicher den Charakter einiger Berufsverbrecher zu beschreiben, die aus irgendwelchen Gründen seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. In jedem von ihnen sah er vor allen Dingen einen Menschen, und er bemühte sich, daraus klug zu werden, weshalb dieser oder jener wohl so geworden war und nicht anders, und welches Milieu ihn dergestalt geprägt hatte.

Er kannte auch seinen eigenen Wert. Er sagte, daß die Natur ihn weder mit Verstand noch mit Begabung benachteiligt hätte. Aber er bedauerte sehr, daß er sich diese Gaben nicht hatte zunutze machen können und sich sich immer mit zuvielen Kleinigkeiten aufgehalten hatte. Er hatte aus irgendeinem Grund schreckliche Angst davor, in unserer Welt wie ein Sankorn verloren zu gehen, fürchtete sogar zu sterben, ohne in diesem Leben auch nur irgendeine Erinnerung daran hinterlassen zu haben, daß irgendwann irgendwo einmal ein gewisser Leonid Fjodorowitsch Dubrowskij gelebt hatte, der zwar mit Fehlern behaftet gewesen war, wenngleich er ein solcher Mensch in seinem Leben gar nicht hatte sein wollen. Aber was wilkl man machen? So ist eben das Leben: es formt den Menschen nicht nur, es kann ihn auch zum Krüppel machen.

Am späten Abend, als wir uns zur Nachtruhe begaben, erzählte er mir unter dem Zirpen der Heuschrecken aus seinem vergangenen Leben und bat mich, das Erzählte nicht zu vergessen, damit ich es später – irgendwie verließ er sich da ganz auf mich – aufschreiben und an die zukünftigen Generationen herantragen konnte.

Und wo ist Leonid Fjodorowitsch jetzt? Lebt er noch? Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist. Aber seine Bitte werde ich ein Vierteljahrhundert später erfüllen. Unsere weitere Berichterstattung wird im Namen dieses Mannes fortgesetzt.

3

Wir hatten gerade zu Abend gegessen. Es begann zu regnen. Leonid Fjodorowitsch und ich schlüpften in unsere Laubhütte. Am Oberlauf des Flußes war offenbar gestern ein warmer Regen herniedergegangen: in der Ferne waren dunkle Wolken zu sehen, Blitze zuckten, aber es war kein Donner zu hören: das Gewitter war weit entfernt. Der warme Regen hatte das Eis ein wenig aufgetaut, und der Fluß machte jetzt ein Getöse, als ob er in rasender Wut wäre. Ich konnte mich lange nicht an dieses unaufhörliche Rauschen dieses Bergflußes gewöhnen. Und wenn einer der Unseren ums Leben kam, konnte ich lange nicht einschlafen. Ich zog mir die Decke über den Kopf. Damals erinnerte mich sein Lärm an das Zischen einer kalten Schlange, die versuchte, zu mir ins Bett zu kriechen.

Leonid Fjodorowitsch hattte sich an diesen Krach gewöhnt. Er meinte zu mir: - Was ist das schon für ein Wasser? Was für ein Lärm? Sie hätten sehen sollen, was dieser Fluß ab der zweiten Junihälfte bis zur ersten Hälfte August gemacht hat. Ein wildes Tier ist und bleibt ein wildes Tier. Damals haben wir manchmal in einer Woche drei Mann verloren. Jetzt sind das schon keine Wassermassen mehr, sondern bloß ein Wässerchen.

Trotzdem hörte ich dem Tosen zu. Und als ob Leonid Fjodorowitsch mich von dem brausenden Geräusch des Flußes ablenken wollte, stellte er mir plötzlich die Frage:

- Was halten Sie von der Vererbung?

Einen solchen Themenwechsel hatte ich von Leonid Fjodorowitsch überhaupt nicht erwartet und nicht wissend, was diese Frage eigentlich ausgelöst hatte, antwortete ich:

- Die Vererbung, - fing ich langsam an zu sprechen, in dem Bemühen, meiner Antwort einen wissenschaftlichen Inhalt zu verleihen, - die Vererbung – das sind die von den Eltern durch Chromosome oder Gene - nennen Sie es, wie Sie wollen - übertragenen inneren und äußeren Besonderheiten. Zum Beispiel die Farbe der Haare, der Augen, die Art zu gehen, äußere Ähnlichkeiten, wie es beispielsweise von Familien talentierter Musikanten, Mathematiker, usw. bekannt ist.

- Mein Vater, - fuhr ich fort, - war Arzt von Beruf und arbeitete lange Zeit an demselben Ort. Wenn also bei ihm irgendein junger Kranker erschien, den er noch nie gesehen hatte, dann sah er ihn an und fragte sogleich:

- Du stammst wohl aus der und der Familie? – und er irrte sich nie.

Später wollte ich mich in die Welt der Tiere aufmachen und an den Beispielen von Pferden, Hunden, Katzen zeigen, wie elterliche Qualitäten sich auf ihre Nachkommenschaft vererben, aber ich sah, daß mich das einfach zu weit führte, denn mir kamen Mendel, Darwin, Morgan in den Sinn; ich stieg unwillkürlich wieder aus meinen Gelehrtenwolken zu Leonid Fjodorowitsch hinab und stellte ihm folgende Gegenfrage:

- Warum interessiert sie diese Frage so sehr?

- Sehen Sie mal, - antwortete er, - ich interessiere mich schon seit langem dafür. Ich bin sozusagen ein Mensch ohne Erblichkeit. Ich habe niemals einen Vater, eine Mutter und Großeltern besessen.

- Wollen Sie damit sagen, daß sie aus Meeresschaum entstanden sind? – fragte ich ihn.

- So ungefähr – ja. Das Meer hat für mein Erscheinen auf dieser göttlichen Welt wohl keine geringe Rolle gespielt.

Und er fuhr fort von sich zu erzählen:

- An einem Sommermorgen wurde im Vorbau des Waisenhauses der Stadt Eupatoria (Stadt an der Westseite der Halbinel Krim; Anm. d. Übers.) ein Bündel gefunden. Als die Kinderfrauen es öffneten, entdeckten sie darin einen kleinen Jungen, eingehüllt in teure Windeln und eine Seidendecke. In die rechte Hand hatten sie ihm ein Stückchen Papier geklemmt. Darauf stand mit fester Frauenhandschrift geschrieben: „Leonid Dubrowskij wurde am 15. Mai 1901 geboren, er ist getauft“.

- Leider, - so fuhr Leonid Fjodorowitsch fort, - war das euer ergebener Diener. Seit der Zeit, als ich anfing zu denken, hat die Frage, wer meine Eltern waren, micht nicht mehr losgelassen. Eupatoria – ein Kurort, umgeben von Schlössern. Zur Sommerzeit füllte sich der berühmte Meeresstrand von Eupatoria mit auserlesenem Publikum aus Petersburg – Fürsten, Grafen, ranghohe Beamte. So fand das Leben Leonid Dubrowskijs seinen Ursprung. Die Liebe erwies sich wohl als unhaltbar und zerbrechlich, und so hat, glaube ich jedenfalls, meine Großmutter ihre Tochter unter dem Schein einer dringenden Heilbehandlung nach Eupatoria gebracht, an den alten Ort, weit entfernt von den bösen Petersburger Zungen. Als sie sich, wie man so sagt, wieder ein ansehnliches Aussehen erworben hatte, brachte sie ihre Tochter wieder zurück, wobei sie vorher unbarmherzig für die Zukunft ihres Spößlings das Waisenhaus vorherbestimmte.

Ich bin ganz sicher, daß es sich so zugetragen hat, denn das Kinderwaisenhaus der Heiligen Gottesmutter Maria in Eupatoria war ein spezielles Waisenhaus für eben solche Kinder.

44 Jahre sind vergangen, seit Dubrowskij das Licht der Welt erblickte. Aber nachdem er davon erzählt hatte, geriet er in heftige Erregung, und man konnte hören, wie er schluchzte.

Er fing an, mir leid zu tun. Jedes Lebewesen zieht es zu seiner Mutter, es sucht Liebe, Geborgenheit, Zuneigung. Aber der zarte, erstaunlich feinfühlige Leonid Fjodorowitsch fand sie nicht – diese Zuneigung.

4

- Denken Sie nicht, - sagte mir Leonid Fjodorowitsch nach ein paar Tagen, - daß ich stolz auf meine hohe Herkunft bin. Es sind eben bloß diese Vermutungen über meine Eltern. Aber diese Vermutungen haben bei mir seit frühester Kindheit eine heftige Abneigung und glühenden Haß gegen die Vertreter der gehobenen Gesellschaft hervorgerufen. Von Kindesbeinen an habe ich immer die einfachen Leute gern gemocht, die Menschen der Arbeit. Meinen Vatersnamen trage ich von einem Bauern namens Fjodor aus dem ukrainischen Teil der Krim – das war mein Pflegevater. Es war nämlich so, daß sie uns bis zum 7. Lebensjahr im Waisenhaus behielten. Danach machte die Verwaltung des Waisenhauses Bauernfamilien mit wenigen oder gar keinen Kindern ausfindig und wir wurden diesen Familien nach entsprechender Vereinbarung übergeben, damit man uns dort zur Arbeit erziehen sollte.

Das Waisenhaus von Eupatoria war eine Einrichtung für privilegierte Kinder. Neben staatlichen Mitteln gingen auch zahlreiche Geldbeträge von bekannten Persönlichkeiten als Spenden ein ( offenbar war der eine oder andere von seinem Gewissen gequält worden). Jedenfalls verfügte das Waisenhaus über Geldmittel und sorgte sich um seine Zöglinge, bis sie so groß geworden waren, daß sie bereits eine entsprechende Ausbildung erhielten.

So nahm also im Jahre 1908 der ukrainische Bauer Fjodor Iwanowitsch Fesenko aus dem Dorf Aktatsch, einem großen Dorf am Ufer des Sasyk-Sees, vier Zöglinge des Waisenhauses (zwei Jungen und zwei Mädchen) zur weiteren Erziehung bei sich auf. Das Waisenhaus zahlte an unseren Erzieher einen vorher vereinbarten Betrag, der uns zugute kommen sollte. Und dann verbrachten wir, die Stiefbrüder und –schwestern, vier Jahre bei unseren Pflegeeltern, an die wir die wärmsten Erinnerungen zurückbehielten. Wir nahmen bei unseren Erziehungsberechtigten an allen landwirtschaftlichen Arbeiten teil und lernten gleichzeitig in der 4-Klassen-Grundschule. Als wir ins Waisenhaus zurückkehrten, bereiteten uns die auf Kosten des Waisenhauses eingestellten Lehrkräfte auf den Eintritt in die mittlere Fach-Lehranstalt vor. 1913 kam ich in Eupatoria zur Mittelschule. Ich wollte anschließend gern zur Universität. Aber die Realschule gab keine Reifezeugnisse aus, und ohne ein solches Zeugnis war so einem wie mir der Zugang zur Universität versperrt. Während ich noch zur Realschule ging, spezialisierte ich mich auf Anraten meiner Erzieherinnen (die Beziehungen zum Waisenhaus hielten wir noch lange Zeit aufrecht) auf die wirtschaftlichen Unterrichtsfächer. Nach Abschluß der Realschule kam ich durch Vermittlung des Waisenhauses 1916 ans Institut für Wirtschaft in Kiew und studierte dort eineinhalb Jahre.

Im Frühjahr 1918, als die Deutschen Kiew einnahmen und dort der Hetman Skoropadskij aktiv war, machte ich mich als siebzehnjähriger Bursche schnell aus Kiew aus dem Staub und kehrte auf die heimatliche Krim zurück. Ich sage Ihnen, daß ich mich mit Beginn der Revolution als typischer Vertreter der Unterdrückten und Gekränkten mit ganzem Herzen auf die Seite der Bolschewiken stellte.

Aber auf der Krim war es noch viel schlimmer als in der Ukraine. Dort wüteten tatarische Nationalisten und russische Monarchisten. Ich trat zu den Partisanen über. Dort erwarb ich das Fachwissen eines Gewehrschützen. In den Steinbrüchen von Eupatoria, wo sich die Partisanen versteckt hielten, bestand ich die erste Feuertaufe. Die Revolution begeisterte mich. Später schoß ich mit dem Maschinengewehr an verschiedenen Fronten, und indem ich für meine verpatzte Kindheit Rache nahm, setzte ich mich für die Festigung der höheren Wahrheit auf der Erde ein.

1920 wurde mir für meine aktive Teilnahme in den Gefechten und das an den Tag gelegte heldenhafte Verhalten bei der Befreiung der Krim von den Wrangel-Truppen der Orden des Roten Banners verliehen.

5

Der Bürgerkrieg ging zuende.Die Kanonen donnerten, die Gewehre knatterten. Die Demobilisierung setzte ein. Das Land kehrte zur friedlichen Arbeit zurück. In allen Städten und Winkeln unseres großartigen Staates tauchten Helden und Sieger auf. Die einen, die am bescheidensten waren, begaben sich zu ihren Familien und begannen, entweder die Landwirtschaft in ihren Dörfern wieder in Ordnung zu bringen, oder, falls sie in der Stadt zuhause waren, dort aus Schutt und Asche die Betriebe und Fabriken wieder herzurichten; die anderen, Vertreter jenes russischen Eigensinns, dessen sich Mütterchen Rußland seit eh und je rühmte, erhoben nun Anspruch auf wärme Plätze unter der Sonne. Sie waren energisch, undiszipliniert und hatten sich bereits in der Armee der Losung verschworen: „Schlag die Klassenfeinde kurz und klein“. Und jetzt, unter friedlichen Gegebenheiten, erklärten sie sich als absolute Revolutionäre und ergriffen die Macht in den Sowjets (Räten; Anm. d. Übers.) der Gouvernementskreise und Amtsbezirke, Menschen wurden auf eigene Faust verprügelt, es wurde zerstört – unter dem Schein, die Sowjetmacht festigen zu wollen. Und nun ging es schon nicht mehr darum die Klassenfeinde in die Falle zu locken, sondern die Bauern, die Intelligenz, all die, die unzufrieden waren. Kaum war der Bürgerkrieg vorbei, da tauchten auch schon in den Wäldern und Städten die „Grünen“ auf, häufig aus den Reihen derer, die noch vor kurzem Budjonowka-Gewehre in den Händen gehalten hatten. Das sind die Unzufriedenen.

Und die Ober-Revolutionäre, die eine ungeheure, übertriebene Wachsamkeit gegenüber den anderen hegten, vergaßen sich selbst nicht. Sie nahmem ihren Wohnsitz in Kaufmannshäusern und heirateten Kaufmannstöchter. Umgeben von Teppichen, teuren Möbeln, Waffen, Pferden, Automobilen, Trunksucht. Zum Schutz dieser „Führer“ waren deren Wohnungen von Rotarmisten umstellt.

Nach und nach sickerten die Nachrichten über sie bis nach Moskau durch - von irgendeiner Bauernverschwörung. Als die Gründe für die Unzufriedenheit klar geworden waren, trat das Revolutionstribunal in Erscheinung. Auf Grundlage des revolutionären Gewissens endeten solche Angelegenheiten dann gewöhnlich mit Erschießung.

Ich ging keinen dieser beiden Wege. Vor allem hatte ich niemanden, zu dem ich hätte zurückkehren können. Während des Krieges hatte ich das Zusammengehörigkeitsgefühl meiner Waffenkameraden empfunden. Als der Krieg zuende ging, und alle auseinandergingen, um nach Hause zurückzukehren, empfand ich eine schreckliche Einsamkeit. So lange der Krieg noch im Gange gewesen war, war ich bis über beide Ohren in der heroische Schlacht gesteckt. Ich hatte meine eigene Person vergessen. Aber jetzt mußte ich an meine eigene persönliche Zukunft denken.

Unsere Einheit stand zu jener Zeit in der Stadt Zarizyn. Hochgewachsen, jung (ich ging ins zwanzigste Jahr), in roter Reithose, mit dem Rot-Banner-Orden an der Brust, machte ich auf die zarizyner gnädigen Fräulein einen bezaubernden Eindruck. Hinter mir, das sage ich ganz offen, waren nicht nur sogleich diese jungen Vertreterinnen des schönen Geschlechts her, sondern auch ihre Väter und Mütter, bei denen es sich gewöhnlich um „Ehemalige“ handelte und die mich nicht bloß durch die Schönheit ihrer Töchter gefangennahmen, sondern ebenfalls durch ihre in geheimen Verstecken verwahrten Goldanlagen, auf die ich, so gaben sie mir zu verstehen, aufgrund des Verwandtschaftsrechtes gute Aussichten haben könnte.

Kurz gesagt: als zwanzigjähriger Bursche heiratete ich eine Kaufmannstochter und erhielt für sie eine nicht geringe Mitgift. Wenn Sie wüßten, was ich für eine Hochzeitsfeier veranstaltete! Das war so eine Mischung aus Neuem und Altem: von meiner Seite meine Kampfgenossen in roten Reithosen, mit Gürteln zusammengehalten, bewaffnet und umgeben von Roten Bannern, die aus unserem Truppenteil kamen, und von der anderen Seite – die gepflegten Dämchen in Seide und mit Perlenschmuck, die wohlbeleibten Väter und Mütter an den Tischen, voll mit allen möglichen Köstlichkeiten, teuren Weinen, stilvollen Möbeln drumherum, Teppichen, Bildern.

Nach der Hochzeit siedelten unsere Eltern absichtlich sofort in das Seitengebäude über, das sich dort im Hof befand, und wir, die jungen Leute blieben mit der alten Dienerschaft in dem großen Haus zurück. Als die örtlichen Behörden die Häuser der ortsansässigen Bourgeoisie beschlagnahmten, fing mein Rot-Banner-Orden an, als eigentümliches Tabu zu dienen: Die Sonderkommissionen für die Enteignungen sahen noch nicht einmal kurz in das Hofgebäude hinein, in dem ich mit meiner jungen Frau wohnte.

Natürlich verstand ich jene ganze komische Situation, in die ich seit meiner Verheiratung hineingeraten war, und ich fühlte mich dadurch ziemlich bedrückt. Im Jahre 1922 wurde ich demobilisiert und zog mit meiner Frau sogleich nach Moskau, weiter von der Verwandtschaft fort, die sich in all ihren Machenschaften hinter mir verbarg, wie hinter einem Schutzschild.

6

Die Stadt Moskau mit ihren weißen Steinen. Ich habe eine Wohnung mit sieben Zimmern in einer Villa, ein paar Pferde für Ausfahrten, einen Kutscher; meine Frau besitzt ein Zimmermädchen, eine Köchin. Alle leben auf großem Fuße, alles läuft auf althergebrachte Weise. Aber weshalb kann so der rote Kommandeur nicht leben, und dazu noch ein Ordensträger. Es gab damals wenige Ordensträger. Sie genossen ein hohes Ansehen. Offenbar floß dieser Hochmut aus zwei Quellen: auf der einen Seite - die Kapitalanlagen des Schwiegervaters, auf der anderen – der Sieger, der Ordensträger. Irgendwie ergänzten sich beide. Ohne Kapital kannst du mit einem einzigen Orden auch nicht weit kommen. Mit Leichtigkeit konnte man sich irgendwo an einem warmen Plätzchen in einer sowjetischen Behörde einrichten, aber man wollte seine Freiheit, seine Unabhängigkeit nicht verlieren; wenn du über irgendjemandem stehst, dann steht auch irgendwer über dir. Von meiner beruflichen Ausbildung her war ich sowieso Großhändler. Aber das Land befand sich noch in einer dermaßen erbärmlichen Lage, daß an Kommerz überhaupt nicht zu denken war.

Aber man machte sich Gedanken darüber. Die Sowjetmacht verkündete die Neue Ökonomische Politik. Lenin riet, von jener Bourgeoisie zu lernen, der wir gerade erst vor ein paar Jahren die Köpfe abgehackt hatten. Dem Privatkapital wurde grünes Licht gegeben.

Langsam gelangte diese neue Leninsche Idee bis zu den Ehemaligen vor, deren Reihen sich zu dieser Zeit erheblich gelichtet hatten. Dennoch kam eine ungewisse Hoffnung auf: die Sowjetmacht will von ihnen lernen. Wie kann das angehen? Ist das nicht wieder eine der turnusmäßigen Fallen? Man versammelte und organisierte sich, damit man in der neuen wirtschaftlichen Situation nicht allein handeln mußte, sondern gemeinsam, und so holten sie alles aus verborgenen Winkeln und Verstecken und zählten ihr Kapital. In Gesellschaft war das gut. Aber die alten, allen bekannten Namen der Ehemaligen hörten sich in den Ohren des neuen, sowjetischen Bürgers, der gegen sie gekämpft und sein proletarisches Blut vergossen hatte, merkwürdig an.

Später, falls Sie sich noch daran erinnern, brachte die sogenannte „Arbeiter-Opposition“ eine gewisse Panik in die Reihen der Ehemaligen - mit dem damals bekannten Schljapnikow an der Spitze, welche in der Neuen Ökonomischen Politik eine Wiederherstelluntg des Kapitalismus im Lande sah, obwohl doch dieser Kapitalismus soeben erst liquidiert worden war.

„Es wäre gut, wenn man für eine solche Gesellschaft irgendetwas finden würde, wenn auch vielleicht nur eine schon etwas abgenutzte, aber rote Fahne. Unter der Farbe rot wäre es auch bei den Kapitalisten ruhiger“ – so dachten viele der ehemaligen Kaufleute.

Die großen Tiere und wichtigen Persönlichkeiten in Moskau verfügten seit altersher über bedeutende Verbindungen mit allen Winkeln unseres riesigen Landes. Durch die Zarizyner Geschäftsleute hatten sie erfahren, daß sich bei ihnen in Moskau, direkt vor ihrer Nase, genau das befand, was sie so dringend haben wollten und was sie selbst verpaßt hatten:

ein junger, gesunder Ordensträger, der übrigens seiner Ausbildung nach Kaufmann war. Sie erraten schon, daß die Rede von ihrem ergebenen Diener war.

Mein Rot-Banner-Orden begann in meinem Leben irgendwie eine magische Bedeutung zu bekommen.

Schon bald stand ich an der Spitze der Gesellschaft aller moskauer Restaurants und Cabarets. Das war für die damalige Zeit ein riesiges Unternehmen mit zehntausenden Arbeitern und Angestellten. Unsere Verkaufsstände bedienten eintausend Mann, alles nur Artisten und Musikanten. Das war eine höchst gewinnbringende Angelegenheit. Die sowjetischen Zehnrubelscheine flossen nur so in die Taschen der Teilhaber.

Und nun sagen Sie mal, warum bin ich nicht der sowjetischne Handelsorganisation beigetreten, warum bin ich wieder unter die Ehemaligen geraten?

In dem hier vorliegenden Fall lief schon alles ganz nach Lenin. Lenin, wie ich bereits sagte, forderte dazu auf, Handel und Wirtschaft zu studieren. Der damalige sowjetische Handel war mickrig, Kleinkram. Dorthin gehen, das hieß Lehrling werden, und ich, als Wirtschafts-fachmann konnte und sollte Lehrer sein – das war es, wozu Wladimir Iljitsch aufrief. Hier ist mein Gewissen rein.

Damit beendete Leonid Fjodorowitsch sein Erzählung, denn es war bereits sehr spät.

x x x

- Wo waren wir denn stehengeblieben? – mit dieser Frage begann Leonid Fjodorowitsch für gewöhnlich seinen Bericht wiederaufzunehmen.

- Moskau. Sie stehen an der Spitze von „Dubrowskij & K.“.

- Ach ja! Die interessanteste Periode. Wie man so sagt, die Zeit des Aufstiegs in meinem Leben. Und dann gerät alles auf die schiefe Ebene, bis zu diesem verfluchten Tschilitschka hier.

Und so wurden wir damals mit der Handelskompagnie unglaublich reich. Mein Orden spielte auch weiterhin eine magische Rolle. Im Kampf gegen die verschiedenen privaten Konkurrenten erstickte ich diese mit meiner roten Stellung bereits im Keim: die entsprechenden sowjetischen Einrichtungen gewährten ihnen einfach keinen Zutritt. Ich verheimliche es nicht: hier spielten auch „Geschenke“ an die betreffenden Personen „für ihre Mühe“ eine gewisse Rolle. Das habe ich zu verantworten.

Stellen Sie sich mein moskauer Kontor vor: ein wunderschönes zweigeschossiges Gebäude mit Säulen, in allen Zimmern jede Menge Büroschreiber verschiedenen Geschlechts. Mein Kabinett in der zweiten Etage lag hinter massiven Eichentüren, die man mit einem lärmabsorbierenden Material überzogen hatte, damit sie schalldicht waren. In dem Raum selbst, an den Wänden, hingen riesige Porträts von Lenin und den ihm nahestehenden Kampfgefährten. Und an einem Tisch, der ebenso massiv war, wie die Türen, saß ihr ergebener Diener mit dem besagten Rot-Banner-Orden an der Brust. Die Beauftragten der Finanzorgane, die sich bei uns meldeten, wurden sogleich ganz klein und willfährig.

Innerhalb kürzester Zeit nach dem Leninschen Aufruf zur Neuen Ökonomischen Politik fing meine Gesellschaft an, auf einer, wie die Marxisten sagen, soliden Grundlage zu stehen.

Ich möchte übrigens noch anmerken, daß die sowjetischen Zehnrubelscheine, die haufenweise in unsere Taschen flossen, nicht von den Werktätigen stammten. Ich sage ganz offen heraus, daß wir keine Ausbeuter waren.

Unsere Arbeiter und Angestellten erhielten in der Regel ein doppelt so hohes Gehalt, manche sogar das Dreifache von dem, was die Leute in vergleichbaren Positionen bei den staatlichen Unternehmen bekamen.

Sehr hohe regelmäßige Gehälter wurden bei uns an die Buchführungskräfte gezahlt, sofern sie nicht zu unseren Kompagnons gehörten, sowie verschiedene Personen, die mit den materiellen Werten in irgendeinem Zusammenhang standen. Und nie gab es bei uns unter ihnen Fälle von Unterschlagung oder Diebstahl.

Die Einnahmen floßen in Strömen von denen herein, die aus der Neuen Ökonomischen Politik Profit schlugen. Wir schöpften die Sahne davon ab. Unsere Restaurants waren für die Arbeiter schlichtweg zu teuer. Nach den damaligen Löhnen konnten sie es sich einfach nicht leisten zu uns zu kommen.

Hinter unseren zahlreichen Tischen versammelten sich die wohlbeleibten NÖP-Nutznießer mit ihren ebenso fettwanstigen Söhnen und teuren Halbweltdamen, verschiedenen ausfindig gemachten Betrügern und Falschspielern aus ehemaligen Fürsten- und Grafenfamilien - diese ganze buntgemischte, an schnellem Profit habgierig interessierte Elite jener Jahre.

Hinter jenen Tischen wurden Geschäfte zum Abschluß gebracht, Geschäftsverträge geschlossen, hier kamen Bekanntschaften zustande, hier wurde man miteinander verwandt.

Für dieses nichtwerktätige Publikum also bemühten wir uns, bei uns verschiedene, verführerische Lockmittel zu schaffen, damit daraus für uns noch mehr Geld heraussprang: geheime Zimmer für Stelldicheins, Ein Kabarett mit halbnackten Mädchen, ein Casino mit geschniegelten Croupiers in Smoking-Anzügen und gepflegten Dämchen.

Na ja, und auf einer solchen Basis, über die die Dubrowskij-Handelsgesellschaft verfügte, wuchs, um es in jener Sprache auszudrücken, auch der entsprechende Überbau: all unsere Kompagnons hatten plötzlich Luxuswohnungen, Stilmöbel, Anzüge, die bei den besten ausländischen Schneidern bestellt worden waren, und unternahmen Fahrten in ihren eigenen Transportmitteln – sie verbrachten den ganzen Sommer an der Schwarzmeer-Küste. Und dort gab es neue Zusammenkünfte, Stelldicheins und Liebschaften. Es schien so, als ob von all dem kein Ende abzusehen war.

7

Leider fing diese paradiesische Lebensweise an, sich ihrem Ende zu nähern. Es ist bekannt, daß Lenin die Neue Ökonomische Politik ernstlich und für lange Zeit eingeführt hatte. Aber Lenin starb bald darauf. Nach seinem Tod begannen unter den ihm Nahestehenden innere Fehden. Wie Sie wissen, wollte jeder von ihnen seine Schuldlosigkeit beweisen, seine Auslegung der Leninschen Instruktionen erklären. Es muß übrigens gesagt werden, daß sich gegen Ende der zwanziger Jahre die wirtschaftliche Situation in unserem Land merklich verbessert hatte. Lenin hatte sich nicht geirrt: die Geschäfte waren voll mit Waren, und mit dem Brot verhielt es sich so, wie im alten Regime. Die Nutznießer der NÖP taten viel. Obwohl vieles ihnen auch noch nicht gelungen war zu tun. Sie hatten den sowjetischen Händlern noch nicht beigebracht, wie man richtig Handel treibt, und schon fing man an, die Lehrer mit allen möglichen Mitteln zu unterdrücken - durch das neue System der Besteuerung von privaten Einnahmen.

Im Kreml gewannen die Gegner der Neuen Ökonomischen Politik Lenins nach und nach die Oberhand. Den vielen Hitzköpfen, die mit ihren Ansichten vom realen Leben weit entfernt waren, schien es, als ob es ihnen nur genügte, sich mit der Industrie und dem Handel zu befassen, damit alles wie geschmiert lief. Es wurde gesagt, daß unser Vorsprung vor der schlafenden Konkurrenz die Planmäßigkeit war.

Dieser ganze Wechsel von einer ökonomischen Politik zur anderen ging nicht freiwillig vonstatten, ohne Ausbeutung der Ausbeuter, so, als ob es gar nichts Neues war, aber dem Geschäftsleben wurde ein Schlag versetzt, der nicht wiedergutzumachen war. Die Wirtschaft, die an Kraft gewonenn hatte, funktionierte nun plötzlich nicht mehr einwandfrei. In den Geschäften bildeten sich kilometerlange Schlangen. Die Steuern für Handelsgesellschaften stiegen dermaßen an und es entstand eine solche Situation, daß die Privat-Unternehmen anfangs ihre Aktivitäten verringerten, bis zu einer erträglichen Grenze der Steuerskala, ihren Betrieb dann aber ganz einstellten.

Um sich irgendwie über Wasser halten zu können, gingen viele Profiteure der NÖP so weit, daß sie ihre Einnahmen verheimlichten. Auf dieser Grundlage, wie immer in solchen Fällen, gingen sie zur Bestechung der Mitarbeiter der Finanzorgane über. Vielleicht erinnern Sie sich an die damaligen Gerichtsprozesse in Moskau und Leningrad gegen Finanzangestellte und NÖP-Anhänger, die Schmiergelder angenommen bzw. gezahlt hatten?

In Zusammenhang mit dem „Vormarsch“ auf das Privat-Kapital verringerte sich auch unsere Kundschaft beträchtlich. Aber die Einnahmen waren noch ganz erträglich. Man konnte davon noch leben. Dieser „Vormarsch“ war sogleich auf Privat-Unternehmen ausgerichtet, welche Waren produzierten. Die Unternehmen des Dienstleistungssystems, in der Art wie unsere Restaurants, blieben bestehen, und zwar auf dem leninschen Stand von früher.

Aber dieser Wohlstand hielt nicht sehr lange an. Auch auf ihn ging nun der „Vormarsch“ los. Der magische Einfluß meines Ordens verlor nach und nach an Intensität. Wir fingen an, mehr Steuern zu zahlen, als wir Einnahmen zu verzeichnen hatten. Wir verloren unser Fix-Kapital, und es bestand die Gefahr, daß, falls wir entgegen jeden vernünftigen Denkens, uns nicht wenigstens noch ein wenig halten konnten, wir letztendlich mit all unseren Handelskompagnien zu Bettlern werden würden. Daher entschlossen wir uns bald, die Gesellschaften selber aufzulösen.

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Fast gleichzeitig setzte der „Vormarsch“ auf unseren jüngsten Bruder ein, einen kapitalistischen Bauern. Sein Schicksal war schlimmer als das unsere. Ausgeplündert bis aufs Hemd, wurde er physisch erledigt. Gleichsam zu unserer Rettung eröffnete die Regierung in den Städten sogenannte Torgsin-Läden, die mit den verschiedensten Waren gefüllt waren, und wir, ehemalige Leute aus der Geschäftswelt, die diesen und jenen Betrag heimlich zurückgelegt hatten, überstanden so die im Hinblick auf die Ernährung schweren Jahre einigermaßen sorgenfrei, wo bei wir auch nicht vergaßen, jeden Sommer nach alter Gewohnheit an das segensreiche Schwarze Meer, auf die Krim, zu fahren.

Der Bauer, der sich bis zum Schluß an seine Wirtschaft geklammert und der Aufgabe Folge leistend, welche ihm die Behörden „bis in den Hof“ hineinbrachten, bis zum allerletzten Korn alles bezahlt hatte, machte sich am Ende auf zu seiner allerletzten Zufluchtsstätte – in die Stadt, falls er die „General“-Linie nicht begreifen konnte, wo er dann meist starb, denn im Torgsinpo (Geschäft, in dem man gegen ausländische Währung Waren kaufen konnte; Anm. d. Übers.) war ihm natürlich aus völlig verständlichen Gründen der Zutritt verboten.

Aber auch bei unseren Brüdern schwand das Kapital durch den Handel dahin. Es mußte irgendetwas unternommen werden.

Zuallererst liquidierte ich meine Villa, veräußerte mein Fahrzeug, gab meinen Hausangestellten den Laufpaß und erhielt aufgrund meiner Rechte als Ordensträger eine Wohnung in einem staatlichen Haus in Bolshaja Poljana, in jenem Teil Moskaus, das von den unterschiedlichsten, verdienstvollen, ehemaligen Vertretern militärischer Dienstränge besiedelt war. Die Angeberei behielt ich bei: ich kleidete mich nur in ausländischen Materialien und maßgeschneiderten Anzügen, Pelzmantel, Waschbärenmütze, und all das wurde mit jenem Rot-Banner-Orden verziert. Wenn ich jetzt die Zeit an der Schwarzmeer-Küste verbrachte, dann gab ich mich schon nicht mehr als Nutznießer der NÖP aus, sondern als Direktor der Moskauer Fabrik „N...“. Ich „wechselte einige Male die Farbe“. Bei Begegnungen mit Ehemaligen tat ich so, als ob ich sie nicht erkannte.

Aber irgendetwas mußte man unternehmen. Irgendwie hatte ich erfahren, daß die Friseurläden in Leningrad von dem „Vormarsch“ unberührt geblieben waren. Obwohl ich von solchen Sachen keine Ahnung hatte und eine derartige Beschäftigung eher für lakaienhaft hielt, fuhr ich dennoch dorthin.

Die Nachricht, die an mein Ohr gedrungen war, bestätigte sich: die kleinen Friseurwirtschaften entwickelten sich immer noch erfolgreich weiter und ihre Besitzer waren der Meinung, daß der „Vormarsch“ sie gar nicht betraf.

Ich beschloß zu handeln. Aber jetzt tat ich das bereits selbständig, ohne irgendeiner Handelsgesellschaft beizutreten oder eine zu organisieren. Auch hier spielte mein Orden noch mehrmals eine positive Rolle: man erlaubte mir, ein Friseurunternehmen zu eröffnen.

In der Sadowaja-Straße stand noch seit der Zeit der Revolutionskämpfe ein zerstörtes Handelsgebäude. Ich pachtete es, brachte es soweit in Ordnung und stellte für die beiden riesigen Räume – einem Herren- und einem Damensalon – fünfzehn Friseurmeister ein. Alles lief gut: das Unternehmen warf keine schlechten Einnahmen ab.

Aber da kam plötzlich die Lohnskala auf: Friseurläden ab fünfzehn Mitarbeitern und Angestellten bekommen soundsoviel bezahlt, ab fünfundzanzig weniger, usw. Am meisten bezahlten die ganz winzigen Friseurgeschäfte. Ich reduzierte meine Mitarbeiter sogleich um 50 Prozent und wies sogar meiner eigenen Ehefrau einen Platz als Kassiererin zu. Aber auch hier lernten wir, wie wir am besten „bis in den Hof hineinfuhren“. Es entstand eine kritische Situation. Ich bekam noch nicht einmal das wieder zurück, was ich für die Reparatur und Renovierung des Friseurladens ausgegeben hatte. Ich entschloß mich ihn zu kaufen. Im Herrensalon richtete ich einen Platz für den Friseurbetrieb ein, und an den Hauptgeschäftstagen (gewöhnlich waren das die Samstage), zog ich einen schneeweißen Kittel an, ging mit meiner außerordentlich massiven Hornbrille ins Wartezimmer hinüber und wählte mir ein Opfer aus den Reihen der Armen aus, wobei ich sie nach ihrer Kleidung beurteilte. Rein äußerlich ähnelte ich keineswegs einem Friseur, sondern eher irgendeinem Doktor der medizinischen Wissenschaften. Mit einer schmerzvollen Geste fordere ich den Auserwählten auf:

- Bittesehr, - sage ich, höflich mit meiner Hand auf den großen Saal weisend.

Das Opfer gerät in Verwirrung, möchte sagen, daß es gar nicht an der Reihe ist. Aber mein eindrucksvolles „Bittesehr“ läßt die Frau aufstehen, und sie geht in den Saal hinüber. Und dort fange ich an, mit ihr herumzuexperimentieren. Wenn sie während der Sitzung anfängt, das Gesicht zu verziehen, dann erkläre ich ihr, daß ich das alles ja völlig kostenlos mache – wegen meiner Hochachtung gegenüber der Klasse der Werktätigen.

Das ging nicht immer gut. Ich kann mich erinnern, daß ich irgendwie an einem gewöhnlichen Samstag irgendein schmutziges Alterchen in abgetragener Kleidung auf meinen Frisiersessel bat und ihn zu bearbeiten begann. Wenn Sie wüßten, was er mir für Unannehmlichkeiten bereitete, besonders nachdem ich so unvorsichtig gewesen war, ihm mitzuteilen, daß ich diese ganze Exekution mit ihm völlig kostenlos veranstaltete. Da geriet er vollends in Wut.

Diese ganze Operation endete damit, daß ich mich vor ihm entschuldigte, anschließend meinen besten Meister zu mir rief – und der korrigierte dann irgendwie meine friseurtechnischen Kunststücke.

Später erfuhr ich, daß dieser Alte Ober-Ingenieur in der uns benachbarten Fabrik war. So kannst du dich täuschen, wenn du nach der Kleidung urteilst!

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- Der Vorfall mit dem Alten, von dem ich Ihnen gestern erzählt habe, hielt mich von weiteren Experimenten nicht ab. Im Gegenteil. Jetzt zog ich meinen schneeweißen Kittel nicht mehr nur an den Tagen an, an dem üblicherweise die meiste Kundschaft kam, sondern ging täglich ins Wartezimmer hinüber und erklärte rechtschaffen:

- Wer sich einer freiwilligen und kostenlosen Berhandlung unterziehen möchte – bittesehr.

Und es gab immer mehr Freiwillige. Und einige von ihnen wurden dann zu meinen ständigen, lebenden Modellen, wie in der Malerei. Geld zahlte ich ihnen für ihr Modellsitzen nicht, aber vor der Sitzung bat ich immer den nächsten Freiwilligen zu mir ins Kabinett und bewirtete ihn mit einem großen Glas irgendeines Mehrsterne-Cognacs und einem kleinen Häppchen, und dann stand er auch schon voll und ganz zu meiner Verfügung.

Die Technik des Friseurgeschäftes eignete ich mir schnell an und rasierte und schnitt bald darauf genauso gut wie die anderen Meister. Wie ich mich bald überzeugen konnte, war es gar nicht so schwierig, diese besondere Lakaien-Tätigkeit auszuüben. Der Badewärter im Badehaus, der euch mit Seife den Rücken wäscht, der Angestellte, der euch die Hände manikürt oder der Masseur, der euren schlaffen Körper massiert und dergleichen mehr – all das sind dienerische Arbeiten, und von Natur aus hasse ich diese Art von menschlicher Tätigkeit bis auf den heutigen Tag.

Aber mich erfaßte eine andere Seite dieses Geschäftes. Erinnert ihr euch an die Erzählung Leskows „Der naive Maler“? Ich griff also, ebenso wie jener Künstler, die Idee der Verwirklichung von Formen „mit inneren Werten“ auf. Ich fing an, nicht nur die Physiognomie meines Kunden zu betrachten, sondern auch in seine Seele Einblick zu nehmen. Ich wurde zum Psychologen, begann die wahre Sprache der naiven Malerei zu suchen. Bevor ich mit meiner Behandlung am nächsten Kunden anfing, sprach ich erst einmal mit ihm. Schnell entstand im Kopf ein Muster, und ich bemühte mich dann schnell, es unter Zuhilfenahme von primitiven Werkzeugen zu realisieren, so, wie ein malender Künstler mit Hilfe von Pinseln und Farben die in seiner Vorstellung existierende Person verwirklicht. Ganz abgesehen davon, mit dem sich üblicherweise ein Friseur beschäftigt, fing ich an, meinen Kunden Ratschläge zu geben, was ihnen gut stand und was nicht. Später richtete ich im Friseurladen ein Fotolabor ein und fotografierte meine ganze Kundschaft mit ihren typischen Merkmalen.

Aus diesen Fotografien legte ich ein riesiges Album mit verschiedenen Typen-Mustern meiner Kunden an, erwarb hunderte Fotografien von Leuten, die wegen irgendetwas berühmt waren, und all dies machten sich meine Besucher bei ihrer Auswahl zunutze.

Und danach fingen in Leningrad Leute an herumzuspazieren, die nach ein paar Sitzungen aussahen wie der Komponist Skrjabin (mit etwas nach oben gedrehtem Schnurrbart und einem spitzen, keilförmigen Backenbart), wie der Kriegsflieger und Held Serow, wie Woroschilow oder Kalinin aussahen. Sogar Jesenin und Majakowskij liefen durch die Stadt.

Aufmerksam betrachtete ich die Auftraggeber, die zu mir kamen, und erklärte erst dann, daß ich sie wie diese oder jene Nummer hinkriegen könnte (damit war die Numerierung der Fotos in meinen Alben gemeint), einen anderen Typ könnte ich aus ihnen jedoch nicht machen, das würde nicht aussehen.

Es gab ein paar tollkühne Draufgänger, die wie Stalin aussehen wollten. Aber ich hatte Angst, mich an ein solches Ebenbild heranzuwagen. Dass dadurch bloß nichts passierte! Aber nur jetzt und hier in den Lagern (weiter weg und für noch längere Zeit werden sie mich wohl nicht einsperren) verleihe ich dem Aufseher, wie ihr seht, eben genau solch ein Aussehen, daß die Häftlinge Angst vor ihm haben.

In ganz Leningrad gingen die Gerüchte über mich. Zu mir strömte Kundschaft aus der Gelehrten-, aus der Artistenwelt. Die Städtische Kommunalverwaltung organisierte eine Ausstellung meiner Arbeiten in Form von Fotos. Danach wurden Wettbewerbe unter den Meistern veranstaltet. Die Jury erkannte mich als den besten Friseurkünstler Leningrads an. Meine Fotoarbeiten wurden in den Leningrader und Moskauer Friseurläden ausgestellt und fingen an als Muster für Nachahmungen zu dienen. 

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Aber meine naive Kunst für die Obrigkeit war mein Hobby. Für die Finanzorgane war ich der allerletzte NÖP-nutznießende Mohikaner, der sich mit Müh und Not mal an seinen Orden klammerte, mal an eben diese Kunst, von der ich erzählt habe. Mitte der 1930er Jahre wurde ich dermaßen mit Steuern belegt, daß ich mich mit meiner Ehefrau in aller Stille aus Leningrad aus dem Staub machte und mein ganzes Geschäft den Meistern für die Zahlung ihrer Gehälter und den Finanzorganen für ihre Steuern hinterließ.

In Moskau ließ ich meine Frau in der dort noch bestehenden Wohnung in Bolshaja Poljana zurück, während ich selbst, meine Spuren verwischend,, auf die heimatliche Krim verschwand und mich in Eupatoria niederließ. Dort war ich ein anerkannter Mann. Schon sehr bald nahm mich die eupatorsker Gesellschaft der roten Partisanen in ihre Organisation auf. Dafür war es nicht notwendig, entsprechende Erkundigungen einzuziehen: es waren noch Leute am Leben, mit denen ich Seite an Seite gegen die Weißen gekämpft hatte.

Mit den roten Kärtchen der Partisanen benutzte ich kostenlos die städtische Straßenbahn, in den Lebensmittelgeschäften erhielt ich, ohne in der Schlange zu stehen, Brot gegen Marken. Im Haus der Parteiaufklärung hing, unter anderem, ein Porträt des roten Partisanenkämpfers L.F. Dubrowskij. Mein Orden kam mir sehr gelegen. Ich wurde in den Stadtsowjet gewählt, zu verschiedenen Versammlungen eingeladen, auf denen ich von meinen heldenhaften Taten während der Revolutionszeit erzählte. Jedesmal, wenn ich dort in Erscheinung trat, endete das Ereignis mit lautem Beifallsklatschen.

In einer Straße, in der Stadt, mietete ich ein kleines Gebäude und eröffnete dort mein künstlerisches Friseurgeschäft (so stand es auch draußen auf dem Firmenschild). Ich jagte meiner Kundschaft nicht hinterher. Geld hatte ich, und in meinem Salon verschönerte ich nur ausgewähltes Publikum mit meiner Kunst.

Die Sache lief nicht schlecht. Niemand versetzte mich in Unruhe. Nach der Zeit in Leningrad vergingen einige Jahre. Weil alles schon so lange zurücklag, war es bereits in Vergessenheit geraten, und mich zog es, ich sage es ganz offen, nach Moskau.

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Es gab nichts Besonderes, was mich an Moskau in Freude versetzte: um mich herum alles öde, in den Geschäften leere Regale, kilometerlange Schlangen. In den Straßen Moskaus und auf den Märkten jagte die Miliz verdächtige Moskauer, nahm sie „zur Feststellung der Person“ mit und schickte sie dann mit irgendwelchen Ziffern und Buchstaben („SO-5“ oder „SW-5) versehen mit Gefangenentransporten gen Osten, nach Sibirien. Erst dort wurden diese Ziffern dechiffriert: „SO-5“ bedeutet sozial-gefährliches Element, 5 Jahre Haft, „SW-5“ – sozial-schädliches Element, ebenfalls 5 Jahre Lagerhaft. So wurde Moskau von „nichtwerk-tätigen“ Elementen gesäubert. Aber mich begnadigte de rliebe Gott. In der Tat fürchtete ich mich, ohne Orden auf die Straße zu gehen, und er half mir offensichtlich aus der Not. Aber arbeiten mußte man, um die Wahrheit zu sagen. Bald durfte ich mit Erlaubnis der Leningrader Bahnhofsverwaltung dort einen Frisuerladen zu eröffnen.

Ich verdiente dort nicht schlecht, und leben konnte man in jener beunruhigenden Zeit, wenn jeder morgens betete, daß man ihn nachts nicht „aus dem Verkehr gezogen“ hatte. In der Tat wurden alle großen Leute, die sich irgendwie verdient gemacht hatten, aus dem Verkehr gezogen. Mitunter kam in ihm sogar der Gedanke auf, ob er nicht lieber heimlich seinen Orden weglegen sollte, ob dieser nicht womöglich die Ursache für irgendein Unheil sein konnte. Für die kleinen Leute wäre er viel ungefährlicher gewesen. Aus ihren Reihen kamen wenigstens keine „Volksfeinde“, über ihnen schwebten keine Gerrichtsverfahren und sie wurden auch nicht mit Hohn und Verachtung gestraft. Und wenn auch so ein Menschlein in die Situation gerät, „genaue Angaben zur Feststellung seiner Person“ machen zu müssen, dann riegeln sie ihn wie einen Gründling von der Umwelt ab und schicken ihn mit dem nächsten Gefangenentransport ohne viel Lärm gen Osten.

All das, ich wiederhole es noch einmal, ging an mir vorüber. Für alle Fälle beschaffte ich mir verschiedene, wenn auch gefälschte, Dokumente, die meine gesellschaftlich nützlichen Aktivitäten bezeugten. Und mein rotes Partisanen-Büchlein trug ich so in der Jackentasche, daß es zur Hälfte aus ihr herausschaute.

Nur mein Äußeres veränderte ich nicht. Im Winter ging ich mit wichtiger Miene in jenem Waschbärenpelz, in den Händen die riesengroße Lederaktentasche englischen Fabrikats mit dem Monogram darauf.

Die Kundschaft auf dem Bahnhof war ziemlich unbeständig, und so kehrte ich zum gewöhnlichen, arbeitssamen Friseurdasein zurück. Niemandem sagte ich ein gutes Wort und mir auch keiner. Ein Kunde, der mich zum ersten Mal sah, konnte meine Arbeit nicht gleich einschätzen, da hätte er schon ein Genie sein müssen. Ich sage es ganz offen heraus: durch meine Arbeit am Bahnhof fing ich an mich bedrückt zu fühlen. Das Leben wurde farblos, trübe und uninteressant. Das Leben ging dahin, und man hätte doch so gern noch etwas Prickelndes erlebt.

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Manchmal traf ich mit meinen ehemaligen Kompagnons zusammen, die sich über verschiedene Unterdrückungsmaßnahmen beklagten, im Untergrund mit allem möglichen Gewerbe trieben und tagtäglich mit der großen Angst einer möglichen Entlarvung und Verhaftung herumlaufen mußten. Unterdessen erfuhr ich von einem sehr gewitzten Menschen des illegalen Kommerzes, daß man ganz leicht viel Geld beim Handel mit ausländischen Schallplatten machen konnte – aus dem Untergrund, versteht sich.

Die ganze Frage drehte sich nur darum, wie man sie beschaffen sollte.

Wie ich bereits sagte, hatte ich von der Friseurtätigkeit mit seinen Pfennigeinnahmen genug. Ich beschloß mich auf Geschäfte mit Schallplatten zu verlegen.

Aber ich mag es, wenn ich etwas mache, dies auf breiter Basis, in großem Umfang zu tun.

Zuallererst einmal studierte ich dieses neue Thema, von dem hier die Rede ist, grundlegend, wobei ich zu der Überzeugung kam, daß für ausländische Schallplatten tatsächlich eine große Nachfrage vorlag.

Ich schloß mich mit einigen Mitarbeitern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten zusammen und erhielt durch diese, unter für beide Seiten vorteilhaften Bedingungen, die benötigte Ware. Die diplomatische Post begann indirekt auch für mich zu arbeiten.

Rechtzeitig trat ich mit dem Leiter der Abteilung „Schallplatte“ eines großen Kommissionsgeschäftes in Kontakt. Später brachte ich dort mit der Droschke systematisch, je nachdem wie die Waren aus dem Ausland kamen, Pakete hin. Der Ware wurde ein für den Verkauf geeignetes Aussehen verliehen und in der Mengen bereitgestellt, die für einen Käufer berechnet worden war. Danach wurde sie aus der Bestellliste per Hand ausgetragen.

Nachdem ich morgens reichlich gefrühstückt hatte, zog ich, sofern es Winter war, meinen Waschbärenpelz an und begab mich, sozusagen zur Erledigung einer wichtiger Staatsarbeit, in das Kommissionsgeschäft. Dort griff man unter den Ladentisch, reichte mir meine Aktentasche mit der Ware, und ich fing an, zwischen den zahlreichen Käufern der Abteilung „Schallplatte“ herumzuschlendern. Meine Augen waren ausreichend geschult, daß ich genau bestimmen konnte, ob ich diesem oder jenem Käufer ein Geschäft vorschlagen sollte oder nicht.

Nachdem ich mir ein Opfer ausgesucht hatte, vorausgesetzt es machte einen vertrauenswürdigen Eindruck, entschuldigte ich mich vor ihm, wie ich da so in der Pracht meines Waschbärenmantels vor ihm stand, indem ich mit meinen zig goldenen Zähnen blitzte, und erklärte, daß ich Liebhaber ausländischer Schallplatten wäre, daß ich dieses oder jenes zur Herausgabe auf Kommission mitgebracht hätte.

- Vielleicht möchten Sie sich einmal die Liste ansehen, – schlug ich vor.

Das Opfer war natürlich einverstanden, und händigte mir nach einer kurzen Unterredung, zufrieden mit dem vorteilhaften und rein zufälligen Geschäft, eine gewaltige Summe aus.

Und nach diesen gerechten Mühen begab ich mich zum Mittagessen in ein nahegelegenes Restaurant. Inzwischen wurde in der Abteilung „Schallplatten“ eine neue, turnusmäßige Menge mit einer neuen Liste bereitgestellt.

In der Abteilung „Schallplatten“ gab es nicht nur viele Schallplatten, sondern auch hilfsbereite, dienstbeflissene Verkäufer, die mituntwer mit einer geradezu widerwärtigen Liebenswürdigkeit den Käufern Schallplatten mit Liedern des Komponisten Dunajewskij, Aufnahmen der Volkssängerin Kowalewa oder Reden des Genossen Stalin anboten. Vor ihnen hielten die Käufer sich zurück, und ich war für sie ein gefundenes Fressen.

Damals kam gerade der Jazz in Mode. Unsere Presse beleidigte diese bourgeoise Musik des verfaulenden Westens auf jede erdenkliche Weise durch üble Schmähungen. Und da entstand eine große Nachfrage nach Jazz. Schade nur, daß ich den damaligen Bedarf nicht vollständig befriedigen konnte. Aber der Handel blühte lebhaft.

In der Tat gab es bei mir gelegentlich mit den Schallplatten recht heftige Kollisionen, und ich sah das mit großer Besorgnis. Aber irgendwie lief es nach ein paar Jahren von der Hand, und materiell lebte ich auch sehr gut.

Ich will euch noch diesen Fall erzählen. Von einem General, der wegen einer ausländischen Schallplatte ins Kommissionsgeschäft gekommen war, verlangte ich irgendeine unverschämt hohe Summe. Es stellte sich heraus, daß er nicht soviel Geld bei sich hatte, und so schlug er mir vor, mit ihm in seinem Automobil, welches, wie ich seinen Gesten entnehmen konnte, nicht weit von hier abgestellt war, in seine Generalswohnung zu fahren. Er versprach sogar, mich anschließend aus lauter Liebenswürdigkeit zu meiner Wohnung zu fahren.

Der Vorschlag des Generals kam dermaßen direkt, daß ich ihn nicht ablehnen konnte, zumal ich fürchtete den Verdacht hervorzurufen, ich könnte vor irgendetwas Angst haben.

Wißt ihr, wieviele Gedanken mir während dieser Fahrt mit dem General in dessen Auto durch den Kopf jagten?! Nun, da fuhren wir also. Ich rate: wir fahren geradewegs zur 5. Abteilung der Miliz, direkt mit den auf frischer Tat sichergestellten Beweisdokumenten. Aber nein, wir fahren vorbei. Wahrscheinlich fahren wir direkt zur Milizverwaltung. Vielleicht arbeitet der General dort auch. Aber zum Glück fahren wir auch an der Verwaltung vorbei. Bald darauf hielten wir vor dem Haus, in dem der General wohnte. Ein Felsbrocken fiel mir von der Seele.

Der General forderte mich auf, mit in seine Wohnung zu kommen. Dort legte ich im Vorraum meinen Waschbärenpelz ab und wurde dann vom General in meinem wunderschönen englischen Anzug und den Kragenspiegeln mit dem Rotbanner-Orden seiner Frau, der Generälin, vorgestellt. Die Generälin freute sich über die Errungenschaft, die ihr Mann gemacht hatte. Das Mittagessen war übrigens auch fertig, und ich wurde dazu eingeladen. Nachdem wir uns einen leichten Rausch angetrunken hatten, erinnerten wir uns auch an die Kampftage des Bürgerkrieges, und brachen sogar vor Rührung in Tränen aus, dass jetzt endlich die schreckliche Tage vorbei waren, und daß wir uns jetzt sogar für ausländische Schallplatten interessieren konnten.

Und nach dem Mittagessen lieferte mich eben jener Soldat und Chauffeur mit meiner nun schwergewordenen Brieftasche in Bolschaja Poljanka ab.

In der Abteilung „Gramplastinka“ haben sie damals auch nicht besonders erschrocken, als sie sahen, wie mich der General auf die Straße hinausführt. Am nächsten Tag erklärte ich ihnen alles, und unser Handelgeschäft wurde fortgesetzt.

13

Die Erde dreht sich. Das Leben fließt dahin. Und wie kurz ist es, uns menschliches Leben! Deswegen reiste ich auch trotz allem und allen Umständen gemäß meiner alten Gewohnheit, jeden Sommer an die Schwarzmeerküste.

Wie ich bereits sagte, gab ich mich dort nun gegenüber den Erholungsuchenden als Direktor irgendeiner Fabrik „N.“ aus. Herausgeputzt mit funkelnagelneuen Sachen, immer noch mit jenem Orden und immer noch jung, machte ich auf die Kurgäste einen gewichtigen Eindruck.

In jenem Jahr begegnete ich dort einer schwarzäugigen Journalistin. Ach, wie liebten wir uns, wie sehr liebten wir uns! Unmerklich verrann die Zeit. Schon war es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren, aber wir zögerten das Ende dieser glücklichen Lebenstage hinaus. Sie war entzückt von meinem wachen Verstand und meinen technischen Kenntnissen (obwohl ich damals auch mit meinem Wissen über das Repertoire auf ausländischen Schallplatten glänzen konnte). Kurz und gut: ich hatte ihre Augen getäuscht.

Also irgendwie machten wir in der überfüllten Straßenbahn unseren üblichen Ausflug aufs Land. (Die geschäftlichen Aktivitäten fanden in Jalta statt). Wir standen, klammerten uns an die Haltegurte und gaben uns total verliebt. Unsere letzten Tage auf der Krim! Bald würden wir auseinandergehen.

Auf den Sitzplätzen zwischen uns bemerkte ich zwei altmodische Alte. Einen von ihnen kannte ich. Aus Eupatoria. Sie hätten schon längst tot sein müssen, aber offenbar kamen sie immer noch hierher, um sich behandeln zu lassen. Der aus Eupatoria sah mich kurz an, dann noch einmal, und begann zu sprechen:

- Sind Sie es, Leonid Fjodorowitsch? Seien Sie gegrüßt. Wieviele Jahre, wieviele Winter haben wir einander nicht gesehen.

Aber als er merkte, daß ich mit ihm nicht reden wollte, führte er seine Unterhaltung fort, wobei er sich nun jedoch an seinen Kameraden wandte:

- Das ist unser Friseur aus Eupatoria. Ein Künstler! Goldene Hände! Ach, wie er uns rasiert und die Haare geschnitten hat. Aber schon vor langer Zeit ist er irgendwohin weggefahren ...

Ich war bereit, diese graue Vorzeit umzubringen, aber da näherte sich die Straßenbahn der Haltestelle. Und obwohl wir noch weiter hätten fahren müssen, zerrte ich mein Liebchen am Arm zum Ausstieg. Dort, bereits auf festem Boden stehend, nahm ich mein Liebchen an die Hand und sprach zu ihr, sozusagenwie vor der Hinrichtung:

- Na, was ist! Hast Du’s gehört? Hast Du begriffen, wer ich bin? Wirst Du ihn auch weiterhin lieben, deinen Friseur? – und dabei hob ich ganz bewußt das letzte Wort hervor.

Sie wurde verlegen. Aber dann faßte sie sich wieder und verkündete, daß das Wichtigste in der Liebe nicht die Stellung in der Gesellschaft sei; es käme doch nicht auf den Beruf an ... und ähnliches mehr.

Ich sage es ganz offen: nach diesem Vorfall war unsere heiße Liebe wie weggeblasen. Wenn wir uns allerdings begegneten, dann schmiegte sie sich immer noch zärtlich an mich. Aber ich

war bewußt auf eine Trennung aus.

14

Im Herbst, zerbrochen vom Mißerfolg in der Liebe, kehrte ich nach Moskau zurück. Das war im Jahr 1937. Die Berichte über Gerichtsprozesse verschwanden nicht von den Zeitungsseiten. Generalstaatsanwalt Wyschinskij tobte vor Wut. Es war noch gut, wenn die Verhandlungen öffentlich stattfanden, sonst hätte die Sonder-Beratung des NKWD ohne jeglichen Gerichtsprozeß nicht damit gegeizt, ihren Opfern fünf Jahre aufzubrummen und sie in entsprechende „Erholungsheime“ zu schicken. Aber dennoch lebte der Gedanke. Trotz der schrecklichen Gefahr kursierten im Land zahlreiche Witze. Man erzählte sich zum Beispiel diesen: eines Nachts stürmten in die Wohnung eines verantwortungsbewußten Arbeiters einige Unbekannte. Die Hausherren waren furchtbat erschrocken. Aber wie sehr freuten sie sich, als sie erfuhren, daß es keine NKWD-Vertreter waren, sondern bloß gewöhnliche Räuber. Noch nie zuvor wurden ähnliche Leute mit so viel Freude aufgenommen, wie dieses Mal. Die Räuber entwendeten nichts, aber die Hausherren gab ihnen herzlich gern so viel, daß sie es kaum forttragen konnten.

Auch in dieser schrecklichen Situation half mir der gütige Gott wieder. Früher schien es so gewesen zu sein, daß mir der Orden aus der Klemme geholfen hatte, der so schön auf meiner Brust geprangt hatte, aber zu dieser Zeit waren die Orden glanzlos geworden, jeden Morgen verbreiteten sich in den Wohnungen Nachrichten darüber, daß nachts der eine oder andere „weggeholt“ worden war, verdienstvolle Leute, häufig Ordensträger mit Parteibüchern. „Aber das, - so beruhigte ich mich selbst, - „sind ja Volksfeinde, Politische.

„Was hab ich mit denen schon zu tun?“

Während meiner Abwesenheit hatten sich in Moskau die Reihen bei der diplomatischen Post des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten gelichtet, vor allen Dingen jene Vertreter, durch deren Kanäle ich an meine Schallplatten herangekommen war. Der Ast, auf dem ich so bequem gehockt hatte, war direkt an der Wurzel abgeschlagen worden.

Ich mußte also zu ehrlicher Arbeit übergehen, und so fing ich an, die Stellengebote im „Moskauer Abendblatt“ zu verfolgen. Irgendwie lese ich in einer der Ausgaben: „Irgendein Werk sucht einen erfahrenen Friseur“, und ich fasse den Entschluß, morgen dorthin zu fahren.

Wieder jener Pelzmantel, jene Aktentasche, vollgestopft mit Dokumenten und Fotografien, welche meine hohe Qualifikation bestätigen. Ich stieg aus der Straßenbahn und begab mich zur Pförtnerloge. Neben dem Werkstor begegnete mir ein anständig gekleideter Mann mittleren Alters, wohl ein Ingenieur. Er stellt mir die Frage:

- Wollen Sie zu uns? – Und ohne mir Zeit für eine Antwort zu geben, fuhr er fort: gehen wir!

Nachdem wir am Durchgangsbüro vorübergegangen waren, führte er mich direkt ins Werkskontor. Ich verstehe nicht, was das soll. Wozu diese Aufmerksamkeit? Aber ich gehe.

Im Vorzimmer befindet sich ein bärtiger Riese mit Biesen an den Hosen. Ich reiche ihm meine Mütze und meinen Pelzmantel, und mein Begleiter führt mich zu einer Tür, die mit schwarzem Kunstleder überzogen ist und an der ein spiegelblankes Schildchen mit der Aufschrift „Direktor“ hängt.

Nachdem wir an einer Reihe von Menschen vorbeigegangen sind, die auf die Sprechstunde des Direktors warten, öffnete mein Begleiter die Tür. Und schon gehe ich weiter, als wenn man mich aufgezogen hätte, über einen schmalen Läufer zu einem riesigen Schreibtisch, hinter dem ein gewaltiger, glatzköpfiger Mensch saß. Er erhob sich sogleich aus seinem massiven Eichensessel und streckte mir über den Tisch seine fleischige Pfote entgegen..

- Setzen Sie sich! – sagte er, wobei er mit dem Arm auf einen neben dem Tisch stehenden, ebensolchen Sessel wies, wie der, auf dem er selber zu sitzen pflegte. Er selbst blieb jedoch stehen.

- Da sitze ich ja schön in der Klemme, - dachte ich. Man hält mich für einen, der ich gar nicht bin!

Aber es hatte keinen Zweck, irgendetwas zu tun. Ich setzte mich. Zum ersten Mal im Leben brannte der Orden mir auf der Brust. Ich wollte ihn mit der Aktentasche verdecken. Aber auch sie, mit ihrem gelben Importleder englischer erstellung, rief damals bei den Leuten Neid hervor. Zum ersten Mal in meinem Leben, das gestehe ich, war ich in Verwirrung geraten. Und der Direktor stand immer noch. Schließlich nahm ich mit zitternden Händen das „Moskauer Abendblatt“ aus der Aktentasche und fragte mit einer mir selbst ganz fremden Grabesstimme, indem ich dem Direktor diese Zeitungsausgabe zeigte:

- Sie suchen also einen Friseur?

Der Direktor, der eine solche Frage nicht erwartet hatte, krachte plötzlich mit seinem mächtigen Körper in den Sessel zurück. „Na, - denke ich, - jetzt fängt er gleich an, dich mit Fragen zu durchlöchern“. Aber er gelangte seine Fassung schnell wieder und betrachtete genauestens die verschiedenen Diplome und Fotografien, welche bestätigten, daß ich in diesem Dienstleistungsberuf tätig gewesen war. Dann schlug er mir vor, ein leeres Zimmer anzusehen, das sich gleich neben dem Kontor befand und für einen Friseurladen prädestiniert war.

Als wir in den Vorraum hinaustraten, nahm der Pförtner eine stramme Haltung ein und fraß uns mit seinen Augen förmlich auf, bis wir in den zukünftigen Friseurladen hineingegangen waren. Die Tür blieb hinter uns halb offen stehen, und bald darauf steckte der Pförtner seinen dümmlichen Kopf hindurch, offensichtlich darum bemüht herauszufinden, womit die großen Leute da beschäftigt waren.

Und ich lief im Zimmer hin und her und sagte zum Direktor:

- Hier hängen wir den Spiegel hin, hier dieses und dort jenes, und da die Beleuchtung – und so weiter.

Offenbar drang dies bis zum Pförtner vor. Denn als ich bald darauf vom Direktor zurückkam und von ihm meine Kleidungsstücke verlangte, ging dieser Idiot plötzlich an zu sprechen:

- Da werden du und ich ja zusammen sein: ich hier, und du dort (er wies auf das Nebenzimmer).

Ich ließ kein einziges Wort fallen. Als er mir meine Mütze und den Pelzmantel reichte, nahm ich die Brieftasche heraus und gab diesem Lakaien einen Fünfer für „seine Mühe“. Du wirst uns noch kennenlernen!

Inzwischen kam vom Hof ein Mann mittleren Alters mit einer Aktentasche herein und begab sich sogleich ins Kabinett des Direktors. Da fingen alle an zu flüstern, daß dies ein Beauftragter des Ministeriums wäre, den die Leitung schon erwartet hatte.

Ich war völlig verwirrt und betrat dieses Werk nie wieder. Ferner legte ich meinen Orden ganz weit weg, begann mich einfacher zu kleiden und nahm bald darauf eine Arbeitsstelle als Friseur an – allerdings in einem anderen Betrieb.

Alles weitere war unbedeutend und uninteressant. Ich arbeitete dort bis zum Krieg und lebte hauptsächlich von meinen alten Ersparnissen.

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Ich habe bereits erzählt, daß ich in Moskau in Bolschaja Pljanka wohnte. In meiner Nachbarschaft lebte ein interessantes Alterchen. Er stammte von den Don-Kosaken ab und hieß Fjodor Wasiljewitsch (als er den Vor- und Vatersnamen des Alten nannte, ging Leonid Fjodorowitsch zu einem Flüsterton über, weil ich ziemlich sicher war, daß uns jemand belauschte). Denn eben dieser Fjodor Wasiljewitsch war ein bekannter Konstrukteur einer russischen Automatik-Waffe, der manchmal vor dem Krieg weinend zu mir sagte:

- Wohin wird es mit uns gehen, Leonid Fjodorowitsch? Wir haben gute Waffen, gute Soldaten, es gab gute Feldherrn. All das ist wunderbar, wenn es in sachkundigen Händen ruht. Aber sobald du einen Dummkopf darüber schalten und walten läßt, einen Flegel, dann erschießt er sogar seine eigenen Leute.

- Da hat unser Volk in den Jahren der Revolution seine bemerkenswerten Heeresführer groß gezogen und war stolz auf sie. Und sie drückten den Eifer nieder, den die deutschen und andere Faschisten an den Tag legten. Und nun ist dieser Stolz unseres Volkes in den letzten Jahren physisch vernichtet worden.

 

Und er krümmte seine altersschwachen Finger und begann heroische Familiennamen aufzuzählen: Tuchatschewskij, Jakir, Kork, Ejdeman, Blücher ... Und die Finger an der Hand reichten nicht aus, um sie alle zu nennen. Er gab auf und stieß prophetisch hervor:

- Denken Sie daran, Leonid Fjodorowitsch. Der Krieg beginnt, und er ist nicht allzu weit. Und die deutschen Armeen werden sogleich halb Rußland einnehmen. Dafür ist alles vorbereitet. Dennoch ist die Kriegskunst – eine Wissenschaft. Man kann diese feine Kunst der anderen nicht mit einer Popen-Ausbildung erlernen, wie es gerade bei uns gemacht wird. Krieg führen – das ist kein Kindertaufen.

Er nannte nicht den Nachnamen der Person, auf die er anspielte. Es war auch so verständlich. Seine Schmeichler lobpreisten auf jede erdenkliche Weise die militärische Genialität ihres sogenannten „höchsten Kriegsherrn aller Zeiten und Völker“. An Schreibern von Lobeshymnen mangelte es uns nicht.

Ich erinnere mich noch gut an die Prognosen des liebenswerten Fjodor Wasiljewitsch. Daher machte ich mich, als am 22. Juni 1941 der Krieg begann und kurz darauf Stalin zum Volkskriegskommissar und Oberkommandierenden ernannt wurde, sofort aus Moskau aus dem Staub und fuhr Richtung Osten, möglichst weit von den Faschisten weg, denn es war vollkommen klar, was das Land zu erwarten hatte, wenn an der Spitze seiner Truppen kein Mann des Militärs, sondern ein Mensch mit einer Popenausbildung stand. Ich wußte auch aus eigener Erfahrung, daß der Krieg tatsächlich kein Kindertaufen ist. Recht hatte Fjodor Wasiljewitsch gehabt, ein wahrer russischer Patriot.

Auf jeden Fall nahm ich ein Köfferchen mit Fotomaterialien mit auf den Weg (damals war es mit ihnen schwierig im Lande). Mit den Materialien hatte mich ein Verkäufer aus jenem Kommissionsgeschäft versorgt, dem ich so lange durch die Lieferung von ausländischen Schallplatten dorthin verbunden gewesen war.

Ich geriet nach Kasachstan, in den Süden, näher an die Sonne. Es gelang mir nicht, dort meinen Warenabsatz zu realisieren, da sie mich sofort verhafteten und mir bald darauf 8 Jahre Freiheitsentzug aufbrummten sowie, nach Verbüßung der Haftstrafe, weitere drei Jahre den Entzug der bürgerlichen Rechte.

Leonid Fjodorowitsch schwieg, dachte nach und beendete dann seine Erzählung mit den Worten:

- Und das alles nur für ein bißchen Tabak. Früher hatte ich vor der Nase des Kreml tausende umgesetzt und nichts ...

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Dezember 1945. Winter. Schnee. Von der Milchfarm einer kasachischen Kolchose, die sich unweit des Flüßchens Tschilitschka befand, begaben sich, nachdem das Stapeln des Holzmaterials beendet war, einhundertsechzig Mann, auf schmalen Pfaden, zu Fuß, in Formation, durch den tiefen Schnee nach oben in die Berge, vor dem Hintergrund des weißen Schnees den grauen Tannenwald, aus Sicherheitsgründen, damit sie nicht in den Abgrund stürzten, jeweils zu zehnt an ein Seil gebunden; die Häftlinge mußten zur winterlichen Holzbeschaffung, um dann im nächsten Jahr diese ganze Vorjahresreise zu wiederholen.

Unter diesen hundertsechzig Mann befand sich auch Leonid Fjodorowitsch Dubrowskij, der Mann, mit dem ich mich anfreundete und den ich bei all seinen Unzulänglichkeiten doch sehr gern gemocht habe. Es ist fraglich, ob wir uns jemals wieder begegnen werden, denn ich ging mit einem Sonderauftrag in die entgegengesetzte Richtung.

 

Februar 1970


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