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Wilis Karlowitsch Traubergis . Der Norilsker Aufstand

Aufgezeichnet am 19. Juli 1988

Es war Ende Juni oder Anfang Juli – es lag noch Schnee, der Frühling des Jahres 1953. Ich ging gerade in die Wäscherei beim Badehaus, als meine Aufmerksamkeit auf die schwarzen Fahnen auf der Turmdrehkräne gelenkt wurde – vom Gardeplatz bis zum Badehaus gab es einige Drehkräne. Später wurden die schwarzen Flaggen durch rote mit einem schwarzen Saum ersetzt, möglicherweise war oben und unten ein Kante und in der Mitte ein roter Streifen. Anfangs erfaßten die Streiks einen Teil der Leute in der Arbeitszone, sie hatten keine Fahnen herausgehängt. In der Stadt lag hier und da noch Schnee.

Damals wohnte ich im Kompressorenraum des Bergwerkes „Ugolny rutschej“ („Kohlenbach"; Anm. d. Übers.); darin gab es so eine Art kleinen Balkon, so einen Platz für die Bedienung der Absperr- und Regulierungsvorrichtungen, alles in allem etwa fünf Meter. Dort waren nur ich und ein kleiner Stapel Bücher untergebracht. Ich kam am 23. Juli 1952 frei. Bis zur Freilassung arbeitete ich dort in der Kompressorenkammer. Wegfahren konnte ich nicht; ich besaß weder Geld noch Kleidung – nur einen einzigen Lageranzug, und so beschloß ich zu bleiben, ein bißchen Geld zu verdienen, mich einzukleiden und dann von dort wegzufahren. Ich wollte so gern studieren. Zuhause hatte ich 6 Jahre lang die Grundschule besucht und anschließend 5 Klassen am Gymnasium; ich bin der Sohn eines Bauern und auf landwirtschaftliche Arbeiten vorbereitet, weil ich anstelle des Gymnasiums die Gartenbau- und Bienenzüchter-Schule absolvierte. Ich besuchte die Abendschule, später ging ich auf das All-Russische Pädagogische Institut; es gab hier eine Lehr-Beratungsstelle, die von einem gewissen Kasarin geleitet wurde; und dann arbeitete dort auch noch Inna Sergejewna Berlin. Ich fuhr auch später nicht von hier fort, ich gründete eine Familie. Einmal bemerkte ich in der Abendschule, daß das Mädchen neben mir einen sehr sympathischen Eindruck machte und sich mir gegenüber nicht schlecht verhielt...

Sie hatten mich am 17. November 1945 als bourgoisen Nationalisten verhaftet. Ich verbarg meine Überzeugung auch gar nicht – Lettland soll den Letten gehören. Bis heute hat man mich nicht rehabilitiert. Ich wurde nach § 58, Punkt 1a, zu 8 Jahren Lagerhaft und 3 Jahren Entzug aller Rechte verurteilt. Ich wurde vor Ablauf der Frist wegen Anrechnung von Arbeitstagen (aufgrund guter Arbeitsleistungen) in die Freiheit entlassen. Ich wußte schon, daß sie mich bald entlassen würden, ich zählte die Tage, die mir noch nachblieben. Ich kann mich noch daran erinnern, daß sie mich abholten und sagten, daß ich meinen Hals waschen und mich rasieren sollte, weil sie mich in der URTsch (Abteilung für die Registrierung und Verteilung der Häftlinge; Anm. d. Übers.) fotografieren wollten. Zwei Tage später händigten sie mir die Fotografien für meine Entlassungspapiere aus. Ich erhielt von neuem einen Nach-, Vor- und Vatersnamen. Bis zu dem Zeitpunkt war ich Häftling Nr. 196431 gewesen. Verurteilt wurde ich in Kolomna bei Moskau. Anfangs arbeitete ich in der Holzfällerei – es gab so eine Zeit, in der das Anpflanzen von Waldstreifen in Mode kam. Sie jagten mich in die Steppe, der Ort war öde und leer, eingezäunt, und der Abend war bereits hereingebrochen. „Leg dich hin!“ sagten sie nur. Wir schliefen auf dem Boden. Später hoben wir Erdhütten aus. Viele Menschen kamen ums Leben. Mich stellten sie als Brigadeführer auf, gaben mir zweihundert Mann und ließen uns Bäume pflanzen, denn ich war ja so etwas wie ein Spezialist, ich hatte ja die Gartenbau-Schule besucht. Aber die Bäume vertrockneten, sie gingen ein von der glühenden Hitze; sie einzupflanzen war eine völlig nutzlose Tätigkeit. Ich weigerte mich. Und da verschleppten sie mich zur Umerziehung nach Norilsk, in ein Lager – zusammen mit lauter Verbrechern. Das ist wohl das allerletzte wahre Mittel – so, wie man den letzten Schliff an einem Diamanten macht ... Ein gefügiger Häftling war ich niemals gewesen, deswegen war ich auch hierher geraten, ins Lager zu den Straftätern. Ich verließ den Lastkahn als Häftling Nr. 196431. Und nach der Freilassung besaß ich das Recht, mich im Umkreis von 101 Kilometern von jeder beliebigen Großstadt entfernt anzusiedeln. Wir verdienten im Jahr nach damaligem Geld 6 Rubel. Bei der Entlassung in die Freiheit erhielt ich 512 Rubel und 76 Kopeken.

Ich bin der Meinung, daß der Streik im Jahre 1953 provoziert worden ist. Zum einen hatten sie den NKWD-Leuten 1953 oder kurz zuvor irgendeine Vergünstigung, ein Privileg gestrichen. Zweitens war eine Massen-Amnestie der Straftäter im Gange – das bedeutete, das Planstellen gestrichen würden. Und die Mitarbeiter des NKWD hatten weder eine vernünftige Ausbildung genossen, noch konnten sie in einem Spezialberuf arbeiten. Und so beschlossen sie, dem Land und der neuen Regierung Malenkows zu beweisen, daß das NKWD noch gebraucht wurde, denn über ihnen hing die Bedrohung des Auflösung, der Liquidation. Die Methode Unzufriedenheit zu provozieren war in allen Lagern die gleiche – sowohl bei uns, als auch in Petschora, das was ich ganz genau – Erschießungen von männlichen Häftlingen, die bei Gesprächen über die Frauen aus der Nachbarzone zu nahe an den verbotenen Zonenstreifen herankamen. Dieser Zonen-Randstreifen – das ist ein umgepflügter Streifen Erde zu beiden Seiten der Einzäunung, auf ihr sind Spuren zu sehen. Es war nicht erlaubt, innerhalb der Zone auf Häftlinge zu schießen, nur beim Verlassen der Zone. Aber diese verließen niemals die Zone, und früher waren solche Gespräche nicht verboten, schwatzt ruhig, seid nett zueinander, und die Wache drückte beide Augen zu. Und da wurden plötzlich vier Gefangene getötet Und in Petschora gab es ebensolche Erschießungen. Das nannte sich dann: „Getötet bei dem Versuch zu entkommen“.

Wissen Sie, daß ich in der Schützen-Baracke des Lagers Nr. 15 ein Plakat hängen sah?

„Hast du wenigstens einen Volksfeind ausgeliefert?" (möglicherweise stand dort nicht „ausgeliefert“, sondern „enthüllt“). Das Lager befand sich neben der 115. Nebenlagerstelle in Medweschka..

Einen Aufstand provozieren und ihn dann erfolgreich niederwerfen – das war das Ziel Berijas und des NKWD, mit dem sie die Notwendigkeit ihrer Existenz beweisen, Anlaß zu neuen Verhaftungen, Erschießungen, usw., geben wollten.

Was für Forderungen hatten die Aufständischen? Briefwechsel zu erlauben, die Beschränkungen aufzuheben (ein Brief im Jahr war gestattet, der Erhalt von Paketen waren gänzlich verboten, nicht mir, sondern ihnen – da ich zu den Straftätern zählte, kam ich ja in den Genuß von deren Rechten. Sie wollten, daß man ihnen die Häftlingsnummern abnahm,die auf Rücken, Mütze und das rechte Hosenbein geschrieben waren; und wie sie uns durchzählten beim Einsteigen in den Eisenbahnwaggon – alle jagten sie im Laufschritt von einer Seite des Waggons zur anderen, den einen mit einer kleinen Laterne, den anderen mit einem Holzhammer, wenn du dich nicht beeilst oder dich umdrehst, haut dir dieser Hammerschmied sogleich auf die Schultern, und falls jemand beim Hinüberlaufen trödelt – dann geht das Ganze nochmal vorn vorne los ...) – der Hammer ist eigentlich zum Festnageln der Schienen and die Schwellen gedacht.

Ferner verlangten sie die Baracken zu öffnen, den Gefangenen zu gestatten, daß sie nachts nicht den Koteimer benutzen mußten, sondern auf die Toiletten gehen konnten – und deswegen sollten die Baracken nachts nicht abgeschlossen werden. Und dann noch –das Überprüfen der Sachen. Alle Forderungen der Streikenden wurden erfüllt.

Es ist sehr interessant, daß vor der Verhaftung Berijas auf Flugblättern, die von den Turmdrehkränen geworfen wurden, geschrieben stand: „Berija – der Volksfeind! Nieder mit Berija!“ Das waren Papierblätter von der Größe eines Schreibheftes, der Text war offenbar mit einem angespitzten Stöckchen geschrieben worden. Ich habe selbst solche Zettel gelesen. Aber er – er saß noch fest in seinem Sessel, dieser Berija. Und mir schien es hirnlos, solche Losungen auf die Blätter zu schreiben, Berija schien unsterblich.

Sogleich kam es bei den Streikenden zu Unstimmigkeiten. Es gab unter ihnen Minimalisten, Loyalisten und Extremisten. Jeder versuchte die Ereignisse auf seine Weise zurechtzurücken. Es kam zu einer Spaltung. Am interessantesten war es, daß sogleich das Archiv in die Hände der Streikenden fiel und sie erfuhren, aufgrund welcher Denunzierung sie einsaßen und bestraft worden waren. Es stellte sich heraus, daß es sich bei den Denunzianten um ihre eigenen Kameraden aus der Brigade handelte. Es heißt, daß es in den ersten zwei Tagen des Aufstandes Hinrichtungen gab. Sie richteten die Denunzianten hin. Zuerst wurden sie verurteilt. Es wurde Alarm geschlagen - auf einem Stück Eisenbahnschiene. Der Tisch war mit einem grünen Tischtuch bedeckt, Männer in schwarzen Richter-Roben führten das Verhör: der Denunziant Sowieso, weswegen hast du deinen Kameraden verleumdet? Der Verteidiger hatte das Wort; es wurde gefragt, ob mildernde Umstände vorlägen. Falls dies nicht der Fall war, wurden sie hingerichtet – die Denunzianten. Die Vertreter der Lagerleitung, die sich am Eingang zur Zone drängten, konnte nichts unternehmen, die Wachen auf den Türmen, obwohl sie Maschinengewehre bei sich hatten - niemand konnte den Denunzianten beistehen. Davon erzählte mir der ehemalige Häftling Alexander Gogan, der jetzt schon nicht mehr am Leben ist.

Mehrmals versuchten sie den Aufstand niederzuschlagen, aber ihre Versuche blieben erfolglos. Eine Einheit von Soldaten ohne Maschinenpistolen schlug die Häftlinge in die Flucht. Später kamen mit hoher Geschwindigkeit Feuerwehrautos angefahren. Aber es gelang ihnen nicht die Schläuche in Betrieb zu nehmen und ans Wasser anzuschließen - die Führerhäuser waren bereits von zerschlagenem Glas übersät. Als die Soldaten mit den Maschinenpistolen sich den Häftlingen näherten, wurden sie mit Glassplittern beworfen und mit Säure übergossen. Malenkow beschloß, keinen Befehl zum Erschießen der Aufständischen zu erteilen. Lange Zeit faßte er keinen Beschluß, und der Aufstand zof sich über vier oder fünf Monate hin. Zwei Zonen hielten besonders lange durch - ein Frauen- und ein Männerlager. Später wurde der Stacheldraht durchschnitten, der das Lager umgab, Lautsprecher installiert, und die Lagerverwaltung fing an jene dazu zu überreden die Zone zu verlassen, deren Haftstrafe nur gering war, oder die nur noch eine kurze Reststrafe abzusitzen hatten. Aber die Häftlinge hielten alle zurück, die versuchten zu fliehen. In einer Septembernacht drangen MP-Schützen in die Zone ein, es war Anfang September. Von den Denunzianten hatte man bereits fie Namen der Anstifter und Teilnehmer des Aufstandes erfahren. Man begann auszusortieren. Allen wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen - für mehrere Stunden. Nach rechts kamen diejenigen, die sich nichts hatten zu schulden kommen lassen. Nach links die anderen - es ist nicht bekannt, wohin sie gekommen sind; sie wurden in Richtung Dudinka abtransportiert. Aber die Mehrheit wurde zur rechten Seite gestellt, sie wurden alle an einen anderen Arbeitsplatz überführt, nur wenigen kehrten an ihren alten Platz zurück. Die genaue Zahl der Aufständischen ist unbekannt - die Zahlen variieren von einigen hundert bis zu mehreren tausend; letzteres scheint mir aber übertrieben zu sein. Während des Aussortierens, das sich über mehrere Stunden erstreckte, lagen die Menschen mit dem Gesicht nach unten. Die Soldaten schlugen erbarmungslos allen auf den Kopf, die sich umdrehten oder auch einfach nur versuchten den Kopf zu wenden.

Ich hörte von Gesprächen mit den Häftlingen. Die hiesige Lagerleitung versuchte es, Zwerew versuchte es, aber die Aufständischen wollten mit ihnen nicht reden. Irgendwer kam aus Krasnojarsk angeflogen. An den Toren wurde er aufgefordert, seinen namen zu nennen. "Soundso". Die Antwort war lautes Pfeifen: "Mit dem reden wir nicht!" Sie verlangten den General-Staatsanwalt. Es kam es kam einer herbeigeflogen: "Mit dem reden wir!" Es heißt, daß sie bei den Gesprächen an Tischen mit roten Tischdecken saßen. Der Herbeigeflogene benahm sich beherrscht - das war seine Taktik. Aber er versprach nichts, sondern sagte nur: "Wir werden die Sache klären und alles besprechen!" Er gab den Rat, an die Arbeit zurückzugehen.

All das habe ich von anderen gehört. Ich selbst habe die Fahnen gesehen, Schüsse gehört und die Flugblätter gelesen. Noch später, etwa zwei Jahre nach diesen Ereignissen, sah ich eine merkwürdige Beerdigung, die mir fest im Gedächtnis haften geblieben ist Der Sarg war aus grünem Samt, und viele trugen an den Ärmeln grüne Bänder; eine große Prozession ging hinter dem Sarg her, die Wachen schwiegen. Als ich fragte, wen man da zu Grabe trug, sagte man mir, daß einer der Anführer des Aufstandes gestorben wäre. Wer?

Mehr darüber weiß M.M. Dudutis. Er wußte auch von den Erschießungen der Jahre 1941-1942 - in jener Zeit fanden Massen-Hinrichtungen statt, wegen Unzuverlässigkeit an den Fronten, Panik, Angstgefühlen. Einer der Tschekisten, ein ehemaliger Oberleutnant, Teilnaehmer an diesen Erschießungen, kam später nach Norilsk gefahren und versuchte mit M.M. Verbindung aufzunehmen.


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