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Erinnerungen von A.I. Wagner

Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen der Republik Chakassien . Band 3

Ich wurde im Oktober 1924 in der Ortschaft Bauer, Kanton Kamenka, Autonomische Sowjetische Sozialistische Republik der Wolgadeutschen geboren.

Ich wuchs in einer großen deutschen Familie auf. Mein Vater hieß Johann, ich – Heinrich. Und viel später, in der Trudarmee, da änderten sie meinen Namen nach russischer Art auf Andrej Iwanowitsch ab.

Das Dorf, in dem wir lebten, war sehr groß, mit gerade verlaufenden, langen Straßen. Im Dorf war es sehr sauber. Damals war es in den deutschen Häusern Tradition, jeden Abend unbedingt die Straße vor dem Haus zu fegen. In den Straßen sah man auch niemals Schweine, Hühner oder Gänse herumlaufen; es war nicht üblich sie hinauszulassen. Die Kühe begleitete jeder Hausherr zu ihrer Herde, ganz bis ans Ende des Dorfes, und holte sie dort auch wieder ab.

Unser Vater war einfaches Kolchosmitglied, Tischler von Beruf. Im November 1937 wurde er zusammen mit seinem Bruder verhaftet, und kehrte nie wieder nach Hause zurück ... Über das Schicksal des Vaters war lange Zeit nichts bekannt. Ich schrieb Anfragen an verschiedene Behörden, erhielt keine Antworten. Erst im Jahre 1963 bekam ich die Bescheinigung über den Tod des Vaters, in der die Rubriken „Todesursache“ und „Todesort“ durchgestrichen waren. Erst im vergangenen Jahr gelang es uns zu erfahren, dass er wegen „Agitation gegen die Kolchose und Kontakten zu Deutschland“ verhaftet worden war. Am 18. November hatte die Gerichtsverhandlung stattgefunden, und am 21. November 1937 war er erschossen worden.

Nach der Verhaftung des Vaters blieb unsere Mutter mit acht Kindern allein zurück. Drei von ihnen starben früh, während der Hungersnot ...

1941 wurden, aufgrund des berühmt-berüchtigten Ukas, alle Deutschen von ihrem Grund und Boden ausgesiedelt. Am 6. Oktober wurden wir alle auf Lastautos verladen und zur Eisenbahnstation gebracht. Dort hieß man uns in „Kälber“-Waggons einsteigen und transoportierte uns weiter. Um uns herum Wachen mit Gewehren; auf unseren endlos langen Zug aus 60 Waggons kam ein ganzer Waggon, der nur von Wachpersonal belegt war. Niemand wußte, wohin wir fuhren. Es war Krieg, die Eisenbahnstrecke war voll von allen möglichen Militärtransporten. Deswegen standen wir an jedem Bahnhof 2-3 Tage. Die Bedingungen eines Umzugs in „Kälber“-Waggons waren unmenschlich. In jedem befanden sich 15-20 Familien, alle zusammen – Männer, Frauen, Kinder. Toiletten oder wenigstens Wasser gab es in den Waggons nicht. Jeder aß von dem, was er von zuhause mitgenommen hatte. Bei der Aussiedlung hatte sie allen 20 kg Gepäck zum Mitnehmen erlaubt und zudem einen Lebensmittelvorrat für einen Monat. Die Leute schlachteten Hühner, die sie anschließend mit zerlassenem Speck übergossen, damit sie nicht verdarben. Außerdem trockneten sie Brot. Während der langen Zugaufenthalte kochten sie sich warmes Essen. So reisten wir eineinhalb Monate lang. Am 20. November, mitten in der Nacht, erreichte der Zug die Station Tschany im Gebiet Nowosibirsk. Dort wurden wir mit Fahrzeugen, Pferden und Schlitten abgeholt. Die Kolchosvorsitzenden gingen von Waggon zu Waggon und suchten Spezialisten. Man konnte hören, wie sie fragten: „Ist hier ein Traktorist?“, „Gibt es hier einen Schmied?“, „Wer von euch ist Zimemrmann?“, „Wir fahren jetzt in unsere Sowchose!“ – So gelangten wir auf das Zentralgehöft der Sowchose 288. Man brachte uns in Familien unter, in denen es freie Zimmer gab. In der Kantine gab man uns Brot, warmes Essen und verpflegte uns ungefähr eine Woche lang kostenlos, bis die Leute anfingen zu arbeiten und sich ihr Essen mit Arbeit zu verdienen. Gut in der Erinnerung geblieben ist noch, dass wir alle ganz leicht gekleidet dort ankamen – in Schnürschühchen und kurzen Jäckchen. Aber dort herrschte Winter! Danke den Menschen, die uns halfen, die uns wattierte Hosen zum Anziehen gaben.

Aber viele Monate lang fürchteten wir uns, waren menschenscheu. Es war Krieg mit den Deutschen, und in den Zeitungen schrieben sie, dass die Deutschen Hörner und Schwänze hätten. Hinter unseren Rücken wurde häufig getuschelt; man wunderte sich, dass wir weder Hörner noch Schwänze besaßen. Später ging es, sie gewöhnten sich daran, dass wir ganz normale Menschen waren. Die anderen waren auch sehr erstaunt, dass wir Russisch sprachen. Man fühlte sofort einen riesigen Unterschied bei den Unterhaltungen mit der Familie, in der wir wohnten, und mit den anderen in der Umgebung – alle, ohne Ausnahme, gebrauchten ständig irgendwelche Flüche. Wir haben uns so geschämt, denn gerade Mutterflüche waren bei uns nicht üblich.

Im Februar 1942 wurde ich, wie alle anderen deutschen Männer, in die Trudarmee mobilisiert. Damals war ich 17 Jahre alt. Sie brachten uns in das Gebiet Swerdlowsk, ins Iwdelsker Erziehungs- und Arbeitslager, aus dem die Gefangenen abtransportiert worden waren. Für uns wurde es zu einer ebensolchen geschlossenen Lagerzone; auf Schritt und Tritt sah man Wachtürme und Wachpersonal mit Maschinenpistolen. Ich blieb dort 5 Jahre. Es waren sehr schwere Jahre; jeden Tag der Kampf ums Überleben. Als sie uns ins Lager brachten, gab es dort 6000 Deutsche, hauptsächlich aus dem Kaukasus; als ich von dort wegfuhr, gab es noch 800 – alle anderen waren verhungert, erfroren oder an Krankheiten gestorben.Die meisten Menschen starben an Durchfallerkrankungen. Ich weiß das deshalb noch so gut, weil ich in den ersten fünf Monaten meines Lageraufenthaltes als „Militärarzt“ – als Sanitäter – in der Baracke arbeitete. Ich mußte die Leichen hinaustragen. Jeden Tag starben 15-20 Menschen.

Es kam vor, dass von Zuhause ein Päckchen eintraf. Es wurde einem nicht ausgehändigt; man teilte lediglich mit, dass jemand eine Paket erhalten hatte, und dann konnte man sich den Inhalt in Raten bei der Lagerleitung abholen ...

Nach meiner schrecklichen Arbeit als „Militärarzt“ kam ich zum Holzeinschlag. Wir mußten die Stämme säubern, damit aus ihnen Eisenbahnschwellen gemacht werden konnten; die Rinde mußte entfernt werden. Wer nicht mit zur Arbeit ausging, den steckten sie in die Untersuchungszelle.

Die Bedingungen dort waren so schwer, dass viele Deutsche alle möglichen Verbrechen begingen. Damals konnte man einen neue Haftstrafe aufgebrummt bekommen und dann mit einfachen Häftlingen zusammen eingesperrt werden. Bei denen gab es besseres Essen, sie erhielten Schuhwerk, das Regime war weniger streng. Auch ich habe mehrmals versucht, zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, aber es klappte nicht.

1946 wurde ich aus der Trudarmee genommen, weil ich zum Invaliden geworden war: ich hatte mir bei meiner Arbeit Lungen-Tuberkulose geholt.

Damals erhielt ich, zusammen mit meinem Paß und dem Komsomol-Mitgliedsausweis eine Bescheinigung, in der man mir den Namen Andrej Iwanowitsch gegeben hatte. Als ich versuchte zu fragen, weshalb sie meinen Vornamen abgeändert hätten, bekam ich zur Antwort: „Im Russischen gibt es solche Namen nicht; sei froh, dass sie dich überhaupt freigelassen haben!“

Nach Tschany kehrte ich in weißen Wattehosen und geflochtenen Bastschuhen zurück. Eine Witwe nahm mich bei sich auf. Ich sollte für sie Eis transoprtieren; sie gab mir Filzstiefel, ein Pelzmäntelchen ... Sie päppelte mich nach dem Lageraufenthalt wieder ein wenig auf. Und ich war jung, wollte mich mit Mädchen treffen, Freundschaft schließen. Einmal ging ich in den Klub, wo sich immer die Jugend versammelte, auf der Balalajka spielte und tanzte. Ich setzte mich auf eine Bank, nahm meinen Tabaksbeutel aus der Tasche und bemerkte nicht, wie ich plötzlich ganz allein dasaß. Alle waren fortgelaufen – so zerlumpt sah ich aus, wie ein Landstreicher.

Später arbeitete ich als Rechnungsführer und Tankwart in der Traktoristen-Brigade, und um mich irgendwie einzukleiden, tauschte ich Getreide gegen Schuhwerk und Hosen. 1946 fand ich endlich, nachdem ich zahlreiche Anträge gestellt hatte, meine Familie. Es stellte sich heraus, dass sie im Turuchansker Bezirk, Region Krasnojarsk lebte. Das war bereits ihr dritter Ansiedlungsort. Nach der Aussiedlung aus dem Gebiet Saratow im Jahre 1941 hatte man sie zunächst in den Bezirk Atschinsk, Region Krasnojarsk, gebracht, danach wurden sie in den Bezirk Kuragino umgesiedelt und später in den Bezirk Turuchansk. Auf diese Weise war nicht nur unsere Familie umgezogen, sondern viele. Natürlich wollte ich unbedingt zu meinen Angehörigen fahren: zur Mutter, zu den Brüdern. Aber die Kommandantur erteilte mir dafür keine Erlaubnis. Da versuchte ich trotzdem hinzufahren. Für eigenmächtiges Verlassen des Ansiedlungsortes konnte man zur damaligen Zeit mit 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft werden. Zweimal holten sich mich aus dem Zug ... Beim dritten mal gelang mir die Flucht. Ich schlug mich bis nach Krasnojarsk durch, von dort mit dem Dampfer bis Turuchansk. Und von Turuchansk mußte man noch 150 km mit einem Kutter fahren. Vom Kutter aus bat ich darum, meine Familie per Funk zu verständigen, ihnen mitzuteilen, dass ich zu ihnen unterwegs bin. Neun Jahre waren vergangen, seit wir voneinander getrennt worden waren. Deswegen konnte ich meine Geschwister überhaupt nicht wiedererkennen. Nach einer Woche kamen Männer aus der Sonderkommandantur auf den Kutter, um den Deserteur, das heißt mich, zu suchen. Der Kommandant rief mich zu sich ins Büro. Er sagt: „Dem Gesetz nach müßten wir dich jetzt für 20 Jahre einsperren, aber nun bist du schon bis zu deinen Verwandten gekommen. Geh hin und sieh zu, dass du dir dein Leben einrichtest; von hier kommst du sowieso nicht mehr weg“. In der Tat war es unmöglich, von hier zu fliehen; man war von der gesamten Welt abgeschnitten. Um einen herum nichts als Schnaken, Mosquitos, Kriebelmücken – auf jedem Zentimeter. Die Sonne zeigte sich nur selten, es gab die langen Polarnächte ...

Im Jahre 1956 folgten wir der Mutter und den Brüdern in die Sowchose „Juschniy“ im Bezirk Kuragino nach.

Ich arbeitete als Kassierer im Arbeiterkomitee, als Tischler ... fing an, mich mit „Politik“ zu befassen. Ich schrieb über jene Ungerechtigkeiten, die den Deutschen widerfahren waren, einen Brief nach Moskau und wurde freiberuflicher Korrespondent der Zeitung „Neues Leben“.

Ich fuhr extra in die Stadt Abakan, um mich mit F. Schessler zu treffen, einem Mitglied der Delegation von Sowjet-Deutschen, die nach Moskau fuhr, um die Wiedererrichtung der ASSR der Wolgadeutschen und die vollständige Rehabilitation der Sowjet-Deutschen zu erreichen. Mich betraute man mit Öffentlichkeitsarbeit: dem Sammeln von Unterschriften für die Wiedererrichtung der Autonomie ...

Zu uns nach Kuragino kam der stellvertretende Abteilungsleiter für Propaganda bei der Zeitung „Neues Leben“ – Poljanskij ...

Ich organisierte die Gesellschaft der Deutschen „Wiedergeburt“ in Kuragino, gehörte zu den Organisatoren der Gesellschaft „Wiedergeburt“ in Minusinsk. Und an begann sich KGB-Leute für mich zu interessieren. Zweimal kamen sie mit dem Auto aus Abakan: „Was ist das für ein Politiker, der da in Juschnyj wohnt?“

1984 zogen meine Familie und ich nach Abakan um. Auch hier begann ich eine Gesellschaft der Deutschen zu organisieren und erreichte, dass ehemalige Trudarmisten im Geschäft Lebensmittel erhielten – genauso wie ehemalige Kriegsteilnehmer. Ich beschäftigte mich ständig mit Fragen zur Rehabilitierung der Deutschen, arbeitete in der Stadtverwaltung als verantwortlicher Sekretär der Rehabilitationskommission.

A.I. Wagner
Stadt Abakan, 1998

Abteilung für Dokumente der neuzeitlichen Geschichte des Russischen Staatsarchivs in der Republik Chakassien, Fond 880, Verz. 2, Akte 5, Blatt 1-5. Original. Maschinenschrift.

Einige Dokumente aus dem persönlichen Bestand von A.I. Wagner

Andrej Iwanowitsch Wagner, ehemaliger verantwortlicher Sekretär der Abakansker Stadtkommission zur Wiederherstellung der Rechte von Repressionsopfern, einer der ersten Organisatoren der Gesellschaft der Deutschen „Wiedergeburt“ in Chakassien. War aktives Mitglied der Chakassischen Republikanischen Gesellschaft „Memorial“.

AUSKUNFT
Behörde für Inneres der Region Saratow über die Rehabilitation von A.I. Wagner
N° 186/74, Stadt Saratow, 26. Januar 1994

Bürger Andrej Iwanowitsch Wagner
Geburtsjahr – 1924. Gebrutsort

Wohnort bis zum Beginn der Repressionen – Gebiet Saratow.

Auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Gebieten lebenden Deutschen“ vom 28. August 1941 war er aus politischen Gründen und wegen seiner nationalen Zugehörigkeit von der administrativen Aussiedlung aus dem Gebiet Saratow betroffen und zur Sonderansiedlung in die Region Krasnojarsk verschickt.

Auf Grundlage von Art. 2, Punkt „w“, und Art. 3 des Gesetzes der RSFSR vom 10. Oktober 1991 „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ ist der Bürger Andrej Iwanowitsch Wagner hiermit rehabilitiert.

Stellvertretender Leiter der Behörde für Inneres der Region Saratow, N.N. Wodopolow

Abteilung für Dokumente der neuzeitlichen Geschichte des Russischen Staatsarchivs in der Republik Chakassien, Fond 882, Verz. 1, Blatt 3. Kopie. Maschinenschrift.


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