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Kasimiras Wesbjargas: „Mein Schicksal wollte es, dass ich in 16 Gefängnissen und Lagern saß“

Ich wurde am 16. Dezember 1929 in Litauen im Birschajsker Bezirk geboren. Ab 1935 lebte ich bis zu meiner Verhaftung in der Ortschaft Joginju. Ich arbeitete bei einem reichen Herrn. Als die Partisanenbewegung einsetzte, schloss ich mich dem Kampf für die Freiheit der Heimat und gegen die Besatzer an. Ich hielt Kontakt mit der Anschtschizker Partisanentruppe in Seljonaja Puschtscha (Grünwald; Anm. d. Übers.). Mein Pseudonym lautete „Kater“. 1947 verriet mich ein „Freund“. Ich wurde verhaftet und in demselben Jahr vom 1. Tribunal des Baltischen Gebiets nach § 58 verurteilt. Ich bekam eine zehnjährige Gefängnisstrafe.

Meine Haftstrafe verbüßte ich an verschiedenen Orten. In Karaganda wählten die Behörden eine Gruppe politischer Gefangener aus, ungefähr 1200 Mann (Russen, Ukrainer, Litauer), und schickten sie auf dem Jenisej bis zur Halbinsel Taimyr. In Norilsk wurden wir auf drei Lager verteilt, Nr. 4, 5 und 1, das sogenannte Lager Medweschka, in das auch ich geriet. Die örtlichen Tschekisten zeigten uns allen als schreckliche Wiederholungstäter vor. Nach einer langen Quarantäne und Bekanntmachung mit den örtlichen Gegebenheiten begannen wir aktiv unsere Tätigkeit aufzunehmen: wir betrieben Agitation unter den Leuten, riefen sie zum Widerstand auf, protestierten gegen die alle Kräfte übersteigende Sklavenarbeit. Wir schufen das System der „Fünfer-Einheiten“ – das waren Selbstschutz-Gruppen, die sich aus jeweils fünf Gefangenen bestanden. Zu meiner Gruppe gehörten W. Trula, J. Karpawitschus, J. Jogmaitis, S. Jusenas und K. Rudis.

Nach Stalins Tod gerieten die Tschekisten zunächst in Verwirrung, fingen jedoch bald darauf an, gegen die Häftlinge äußerste Maßnahmen zu deren Beeinflussung anzuwenden.

Aus dem 5. Lagerpunkt erreichte uns die Information, dass dort 5 Gefangene erschossen worden seien; das Lager wurde bestreikt. Diese Nachricht erörterten wir in unseren „Fünfergruppen“ und fassten dann den Beschluss, den Streik zu unterstützen. Als erstes stellten wir die Arbeit in der Lagerzone ein. Das bedeutete den Stillstand des wichtigsten Förderzweiges - die Aufbereitung von Nickel für die Rüstungsindustrie. Die lokalen Behörden versuchten uns wegen Ungehorsams zu bestrafen, aber die Häftlinge ließen sich nicht abschrecken. Sie hängten schwarze Fahnen mit der Aufschrift „Freiheit oder Tod!“ heraus. Sie verlangten das Eintreffen einer Kommission aus Moskau, die tatsächlich auch eine Woche später ankam. Insgesamt brachten sie 16 Forderungen vor. Die wichtigsten daraus waren: die Überprüfung der einzelnen Fälle, die Abfahrt der Invaliden auf das Festland, Abschaffung der Häftlingsnummern, Entfernen der Gitter von den Barackenfenstern und anderes. Die Verhandlungen wurden von unserer Seite durch Frenkel und andere geführt.

Einem Teil dieser Forderungen kam die Kommission nach und befahl dann die Arbeit wieder aufzunehmen. Dabei versprach sie die verbleibenden Postulate mit den obersten Behörde in Moskau abzustimmen. Das Komitee beschloss, den Widerstand fortzusetzen, niemandem Zutritt zu den Wohnbaracken zu gewähren – mit Ausnahme von Ärzten und Leitern der Wirtschaftsabteilung. So ging es zwei Wochen weiter – vom 1. bis 16. Juni 1953. Dann umstellte die Administration das Lager. Über die Lautsprecher erscholl die Aufforderung sich zu ergeben und die Arbeit wieder aufzunehmen. Wir folgten den Anweisungen nicht. Am folgenden Tag durchschnitten sie die Einzäunung aus Stacheldraht; in die Wohnzone drangen Soldaten ein, die unter dem Abfeuern von Warnschüssen unsere Aufgabe forderten. Die Aktivisten riefen die Leute dazu auf, sich friedlich zu ergeben und die Zone zu verlassen, um mögliche Opfer zu vermeiden. 80 Häftlinge, das gesamte Aktiv, verließen die Zone als Letzte.
Hinter der Lager grenze teilten Tschekisten die Leute auf: die Einen nach links, die Anderen nach rechts. Man verriet mich, und ich kam ebenfalls nach rechts. Sie trieben uns in eine große Baugrube; dort wurden wir auf jegliche Weise beschimpft und geschlagen. Wir dachten, dass nun unser Ende gekommen wäre. Danach brachten sie uns in ein noch nicht fertig gebautes, geräumiges Haus, wo sie uns mehrere Tage festhielten. Schließlich führten sie die Organisatoren des Aufstands weit in die Tundra hinein – ins Lager „Kupets“. Dorthin brachten sie auch die Teilnehmer des Aufstandes aus den Lagerpunkten 4 und 5. Es gab dort weder eine Küche noch Wasser, alles wurde angeliefert. Wir wuschen und badeten uns im eisigen Wasser eines Flüsschens. Hier verbrachten wir zwei Monate, obwohl wir dachten, hier für ewig bleiben zu müssen. Ich glaube Berijas Verhaftung rettete uns vor dem Tod.

Als die Soldaten damit anfingen, uns auf Waggons zu verteilen, freuten wir uns. Wir begriffen, dass man uns nun auf das Festland bringen würde. Man transportierte uns zur Anlegestelle Dudinka. Und wieder kräuseln sich vor unseren Augen die Wellen des Jenisej. Wir wurden auf Lastkähne verladen: zum Schluss war er überfüllt, es herrschte Luftmangel … Es ging das Gerücht, dass man die Absicht hätte, uns alle im Fluss zu ertränken. Panik brach aus. Aber ein Elend allein ist noch kein wahres Elend. Wir erkrankten an Ruhr. Drei Häftlinge starben. Ihre Leichen wurden direkt in den Fluss geworfen. Da gaben unsere Begleiter uns Heidelbeeren zu essen. Allerdings ist nicht bekannt, ob die Krankheit aufgrund der Beeren den Rückzug antrat oder ob Gottes Barmherzigkeit dabei eine Rolle spielte.

Nach zweiwöchiger Fahrt trafen wir in Krasnojarsk ein. Ein Teil von uns wurde sogleich in das örtliche Gefängnis gebracht, die anderen kamen nach Magadan. Ich gehörte zu denen, die ins Gefängnis mussten, und ich verbrachte dort zwei Wochen. Hier traf ich zum ersten Mal seit vielen Jahren höfliche Tschekisten. Sie verhörten mich in einer ruhigen Art und Weise. Sie schlugen mich nicht und boten mir sogar Tee an.

Und wieder setzten sie uns eines Tages alle in „schwarze Raben“ (Gefangenen-Fahrzeuge in der Art der hier bekannten „grünen Minna“; Anm. d. Übers.) und fuhren uns zum Bahnhof. Niemand wusste, wohin sie uns schicken würden. Wie sich herausstellte – nach Wladimir. Bis nach Moskau waren das ganze 180 Kilometer. Das Gefängnis von Wladimir war bekannt wegen seiner besonders strengen Haftordnung; kontrolliert wurde es von den Moskauer Behörden. Hier saßen der Minister für ausländische Angelegenheiten – J. Urbschis, und andere bedeutende Persönlichkeiten Litauens ein.

Die Häftlinge wurden mit ihren Nachnamen angeredet; die Aufseher zogen weiche „Pantoffeln“ über ihre Schuhe und gingen lautlos durch die Korridore, traten, ohne dass man ihre Schritte wahr nehmen konnte, an jede beliebige Zellentür heran, um durch das „Wolfsauge“ zu beobachten, womit die „Volksfeinde“ sich beschäftigten.

Eines Tages hörten wir einen Schrei: „Leute, sie bringen uns in den Karzer!“ Dabei handelte es sich um besondere Einzelzellen, die dazu dienten, den menschlichen Willen zu brechen. Wir begannen an die eisernen Türen zu klopfen, es erhob sich ein wildes Getöse. Das Gefängnis befand sich mitten im Stadtzentrum, und deswegen gefiel der Lärm den Tschekisten überhaupt nicht. Sie waren gezwungen Zugeständnisse zu machen und brachten die Häftlinge in ihre Zellen zurück. Nach diesem Vorfall im Gefängnis wurde eine normales Gespräch mit uns möglich. Früher war es strengstens verboten gewesen, sich tagsüber hinzulegen, aber jetzt schenkten sie diesen Tatbestand schon keine Beachtung mehr. Wir wurden nicht schlecht verpflegt, und wer auf seinem Konto Geld hatte, durfte Lebensmittel aus dem Laden bestellen, welche die Aufseher ihnen brachten. Da teilte man mir mit, dass ich wegen Organisierung des Aufstandes weitere zwei Jahre Haft im geschlossenen Gefängnis hinzu bekommen würde. Man hatte mich schon als Minderjährigen verurteilt; dem Gesetz nach hätten sie mich 1954 freilassen sollen, aber ich gelangte erst 1956 in die Freiheit.

Mein Schicksal wollte es, dass ich in 16 Gefängnissen und Lagern saß. Ich musste viel Kummer und Leid erfahren, aber ich bedaure es nicht, am Norilsker Aufstand teilgenommen zu haben. Nach der Widerstandsaktion fühlten sich viele als Menschen und nicht mehr als Sklaven; möglicherweise trugen unsere Leiden dazu bei, dass andere am Leben blieben. Nach dem Aufstand wurde mit der Überprüfung der politischen Fälle begonnen, und zahlreiche Häftlinge wurden in die Freiheit entlassen. Auch mein Fall wurde überprüft. Es stellte sich heraus, dass bereits zwei Jahr zuvor hätte freigelassen werden müssen. Als man mir das erzählte, glaubte ich es nicht; ich dachte, sie würden mich erneut in den Hohen Norden schocken.

Im Mai 1956 kehrte ich nach Litauen zurück. Man erwartete mich dort, und meine Eltern, Geschwister, Freunde nahmen mich mit Freude auf – nur die Behörden nicht. Ich gründete eine Familie, zog Kinder groß, hatte Jobs, in denen ich ungelernte Arbeiten verrichtete, die nicht schlechter als andere waren, aber sie erinnerten mich oft daran, dass ich so etwas wie ein Mensch zweiter Klasse war, ein ehemaliger politischer Gefangener. Und nun, da Litauen unabhängig geworden ist, fühle ich, dass all meine Leiden nicht umsonst waren, sondern der Widerstand einfach unumgänglich war.

Am 2. Mai 1980 erhielt ich die Dokumente für meine Rehabilitierung. Ich bin in der Bewegung der „Helden von Norilsk“ – wir treffen uns nun schon seit mehr als zehn Jahren.


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