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Brief von G.I. Winokurow

Sehr geehrter Wladimir Georgiewitsch! Guten Tag!

Ich habe Ihr Schreiben mit Informationen über meine Eltern sowie einige Verwandte erhalten und bin Ihnen sehr dankbar für die entgegengebrachte Aufmerksamkeit. Ich sage es aufrichtig: ich habe nicht erwartet von der Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“ eine Antwort zu bekommen. Zweimal habe ich an „Memorial“ zu Händen von Wladimir S. Birger geschrieben. Mein Vetter Nikita Fjodorowitsch Winokurow, der in Krasnojarsk lebt und dem „Memorial“ bei der Rehabilitierung geholfen hat, gab mir seine Adresse; und auch sein Vater Fjodor Wassiljewitsch Winokurow, sein Onkel Trofim Wassiljewitsch Winokurow und seine Ehefrau Agrippina Jakowlewna Winokurowa wurden rehabilitiert. Nur eine wurde noch nicht rehabilitiert – mein Vater Iwan Wassiljewitsch Winokurow. Auf der Suche nach Unterlagen wandte ich mich an die Verwaltung des Komitees für Staatssicherheit der Region Krasno-jarsk, an die Verwaltung für Inneres, ans Gebietsarchiv, ans Archiv in Atschinsk, an das Innenministerium der Russischen Föderation, das Hauptinformationszentrum des russischen Innenministeriums, an die verschiedenen Organe und Instanzen der Staatsanwaltschaft, an die Verwaltung des Komitees für Staatssicherheit des Gebietes Nowosibirsk und an die Verwal-tung für Innere Angelegenheiten des Gebietes Nowosibirsk. Von überall erhielt ich die Antwort, daß Angaben über meinen Vater I. W. Winokurow nicht vorlägen. Lediglich das Atschinsker Archiv stellte eine Bescheinigung aus, daß mein Vater erschossen worden sei. Und die Verwaltung des Komitees für Staatssicherheit des Gebietes Nowosibirsk teilte mir mit, daß Trofim Wassiljewitsch Winokurow von einer Trojka der Bevollmächtigtenvertretung der vereinigten, staatlichen, politischen Verwaltung des Rates der Volkskommissare der UdSSR im Jahre 1930 verurteilt und einen Monat später in Atschinsk erschossen wurde.

Und nun lese ich in Ihrem Brief, daß Trofim Wassiljewitsch Winokurow von seinem leiblichen Sohn erschossen wurde und daß Maria Grigorjewna Prokopowa dies angeblich meiner Mutter Matrjona Maximowna Winokurowa erzählt hat. Vieles in dieser Version stimmt mit den Erzählungen meiner Mutter überein. Sie lebt noch, wird bald 97, wohnt in Barnaul und verfügt über ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen. So erzählt sie, daß man sie selbst im Atschinsker Gefängnis an die Wand gestellt und dann so getan hat, als wollte man sie erschießen. Sie zielten etwas höher als der Kopf, und der Stuck viel dann als Staub auf ihre Köpfe. Sie schlugen mit den Schußwaffen auf einen ein und verlangten dabei, daß ich ihnen sagte, wo sich mein Vater I. W. Winokurow versteckt hielt. Den ganzen Rücken haben mir diese Barbaren in Striemen zerschunden. Meine Schwester sagt, daß sie sich heute noch davor fürchtet, im Bad den Rücken mit einem Schwamm abzureiben (wegen der Narben). Aber daß Kostja vor den Augen meiner Mutter seinen Vater erschossen hat, das hat mir meine Mutter nie erzählt.

In Bezug auf die Zugehörigkeit meines Vaters in der Pilizikow-Bande liegt hier ebenfalls mangelnde Koordination vor. Bereits zu ihren Lebzeiten erzählte meine Tante Uljana Maximowna Prokopowa (möglicherweise eine Verwandte von M.G. Prokopowa, die Sie befragt haben) mir, daß die Pilizikow-Bande einmal unverhofft nach Nowokursk gekommen war und in einem der Häuser ein Saufgelage veranstaltet hatte, aber der Schnaps reichte nicht, und so gingen sie zu meinem Großvater Maxim Nasarowitsch Manajew. Der Großvater gab ihm Selbstgebrannten; sie tranken sich einen an und fingen dann an, Klarheit zu schaffen. Großvater stieß sie hinaus, und eine Schlägerei begann. Großvater trennte sie voneinander und stellte sich schützend vor den Muschik; und anstelle des Muschiks ermordeten die Banditen, angeblich irrtümlich, meinen Großvater. Sie sprangen auf das Fuhrwerk hinauf und machten sich davon. Als mein Vater vom Tod des Schwiegervaters erfahren hatte, ergriff er ein Gewehr und begann Pilizikow in die Beine zu schießen, und jener verbarg seinen Groll gegenüber dem Vater und suchte eine Gelegenheit ihn umzubringen. Bald wußte die Tante, Uljana Maximowna Prokopowa, die damals Mitglied des Armen-Komitees war, daß sich unter den reicheren Bauern auch mein Vater befand. Sie sagte: „Sie werden dich verhaften, du mußt sofort abfahren". So war auch der Vater zwischen zwei Feuer geraten (die Bande und die Miliz). Und jetzt lesen Sie die Kopie des Briefes von Nikita Fjodorowitsch.

Und Kostja wurde auf seine Weise zu einem zweiten Pawlik Morosow. Ich las kürzlich in der Presse, daß das MB der Russischen Föderation seine Archive zu 80% der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Dann wird vielleicht Licht in die Ereignisse jener Jahre kommen.

Gestatten Sie mir, daß ich meinen Brief damit schließe.

Mit dankbarer Hochachtung

Gennadij Iwanowitsch Winokurow

27.10.1994

Anlage: Briefkopie 


Guten Tag, unsere lieben Verwandten! 19. Mai 1991

Der kleine Bruder Gennadij Iwanowitsch und Vera Grigorjewna schicken Euch unsere Grüße aus Krasnojarsk und wünschen für Euer Leben alles Gute. Ich teile Euch mit, daß wir Euren Brief am 18. Mai erhalten haben. Am nächsten Tage schreibe ich die Antwort. Es ist interes-sant, weshalb der Brief so lange unterwegs war. Ich habe dir schon über den Vater geschrieben, daß er in den Jahren 1927-1928 Vorsitzender des Nowokursker Dorfsowjet war, und 1929, als sie entkulakisiert wurden, da hat der Onkel Iwan Wassiljewitsch sich versteckt, weil er fürchtete, daß man ihn verhaften würde. Er versteckte sich bei uns im Keller und bei der Großmutter Romanichi (so hieß Maria Romanowna, deine Großmutter Manajewa, damals).

Dann verhafteten sie 1929 Konstantin Trofimowitsch Winokurow (den ältesten Sohn von Onkel Trofim Wassiljewitsch). Ungefähr im Januar oder Februar ließen sie Kostja unter der Bewachung des Dorf-Vollzugsbeamten zu Mittag essen und gingen zu Kostjas Schwiegermutter Stepanida Pawlowna Reschetowa, und zu jener Zeit war ich auch dort.

Jener Kostja schrieb eine Notir, gab sie mir und sagte: „Gieb diesen Zettel der Mutter“. Ich ging sofort nach Hause und gab der Mutter diese Notiz, auf die er drei Worte geschrieben hatte: „Lieber Onkel, hilf mir“, aber wie hätte der ihm aus der Not helfen sollen, wenn er sich doch selbst vor der Miliz versteckt hielt. Und Kostja sitzt im Gefängnis.

Im Sommer 1930, im Juli, wollte der Vater Iwan Wassiljewitsch mit noch zwei Bauern weiterziehen, wohin weiß ich nicht, auf jeden Fall beschlossen sie zu fahren. Alle drei –

Onkel Iwan Wassiljewitsch und jene beiden befanden sich auf unseren Wiesen, und der Platz, wo die Wiesen waren, wurde Altatka genannt. Dort gab es ein Birken-Wäldchen. Und in diesem Wäldchen hielten sie sich auch auf. Onkel Iwan Wassiljewitsch bat seinen Schwager, den Bruder deiner Mutter) Stepan Maximowitsch, ihnen Lebensmittel zu bringen, damit sie nicht mit leeren Taschen abfahren mußten. Zu dieser Zeit, abends, kommt Kostja im Dunkeln mit seiner Schwiegermutter Stepanida Pawlowna und sagt, daß er aus dem Gefängnis geflohen ist und fragt: „Wo ist Onkel Iwan?“ Na, die Schwiegermutter sagte ihm, daß sie auf der Altatka wären, und er ging sofort dorthin. Und schon in der Nacht oder vor Sonnenauf-gang erschoß Kostja alle drei.

Man entließ ihn ganz einfach aus dem Gefängnis, unter der Bedingung, daß er Onkel Iwan tot oder lebendig herbeischaffen sollte. Und da machte er mit ihnen kurzen Prozeß. Und am Morgen, zu eben dieser Zeit, fuhr Onkel Stepan Maximowitsch zusammen mit Kirill (dem Sohn von Onkel Iwan, deinem Bruder) zur Altatka – und brachte die Lebensmittel. Onkel Iwan bat Stepan Kirjuschka herzubringen, damit sie sich verabschieden konnten. Und als sie das Pferd angebunden an der Birke stehenließen und selbst den Sack mit den Lebensmitteln

trugen und sich jener Stelle näherten, da sahen sie, daß alle umgebracht worden waren. Wie sehr Kirill auch schrie, Onkel Stepan drückte ihm den Mund zu und sie rannten schnell von dort weg. Danach wurde Kostja nicht mehr ins Gefängnis gesteckt, sondern blieb in Freiheit. Zuerst lebte er in Scharypowo, später fuhr er mit der Familie nach Nowosibirsk, und von dort, wann weiß ich nicht, in die Region Kursk, wo auch heute noch seine Frau und Tochter leben, und Kostja selbst verschied 1984, im August. Nun zu jener Zeit, oder sogar früher,wurden Kostjas Mutter Matrena Maximowna und Tante Agrippina Jakowlewna verhaftet und im Gefängnis von Atschinsk bis zum Sommer 1930 festgehalten. Danach, als Kostja mit dem Onkel und den beiden Bauern abgerechnet hatte, wurden sie aus dem Gefängnis entlassen, und im Mai 1931 wurden wir in die Verbannung geschickt.

Zu der Zeit verhafteten sie auch Onkel Stepan Maximowitsch. Im Gefängnis wurde er grausam geschlagen, die Lungen schlugen sie ihm kaputt, und nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, wurde er Ende 1931 und Anfang 1932 krank, waren beide Lungenflü-gel ganz zerstört; im Februar 1932 starb er und hinterließ zwei Töchter, Nina und Nadja.

Und nun zu Kirill Iwanowitsch: Kirill wurde am 21. Dezember 1937 verhaftet und ich, wie ich dir bereits geschrieben habe, am 20. Dezember 1937, und zusammen mit den anderen Bewohnern unseres Dorfes schickten sie uns mit einem Häftlingstransport nach Atschinsk, und von Atschinsk in den Ural, in die Region Perm, Nyrobsker Kreis, in ein Lager mit dem Namen Nischnij Walim. Als sie uns in Nowokursk verurteilten, geschah dies ohne Gerichts-erhandlung; wir wurden in den Ural abtransportiert, mußten uns in einer Reihe aufstellen und dann verlasen sie jedem: wer von wem zu was verurteilt worden war. Kirill Iwanowitsch und mir war der gleiche Paragraph angehängt worden: bei mir der §58, 10 Jahre, bei Kirill Iwanowitsch § 58, 8 Jahre. Das beschloß die verfluchte Trojka in Abwesenheit, und Kostajas kleinerer Bruder, Wassilij Trofimowitsch, war ein guter Bauer und arbeitete damals als Kriegskommissar im Krasnoturansker Kreis-Militärkommissariat, Gebiet Krasnojarsk, und ging dann ins Stadt-Militärkommissariat. Tulu starb auch dort, Ende Dezember 1990. Wie schade, ich wollte mich so gern mit ihm treffen, aber all diese Jahre hatte ich nichts über sein Schicksal gewußt, und nun hat mir seine letzte Tochter, Soja, einen Brief geschickt, und ich habe erfahren, wie es Kostja, seiner Ehefrau Anastasija und Wassilij Trofimowitsch ergangen ist. Anastasija Wassiljewna lebt noch, aber sie hat vollständig das Gedächtnis verloren, über 90 Jahre ist sie alt.

Auf Wiedersehen, mit herzlichen Grüßen.

Dein Bruder Winokurow.

10.05.1991, Krasnojarsk


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