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Wladimir Worobjew. Späte Rehabilitation

Im Norden

Der Norden begegnete uns mit Kälte, Schneestürmen; wir wurden in eine riesige Baracke getrieben, in der insgesamt vier Eisenöfen brannten. Ich hatte einen Pelzmantel an, trug aber nur Schnürschuhe und hatte mir fast die Füße erfroren. Am Morgen gaben sie uns Filzstiefel und Winterkleidung: eine gesteppte, wattierte Jacke, eine Matrosenjacke, wattierte Hosen und eine Mütze. Wir bekamen eine Brotration, nicht mehr 400 g wie auf dem „Festland“, sondern 800, und auch 27 g Zucker pro Tag. Hier war die Verpflegung besser, bestand aber im wesentlichen aus Suppe von erfrorenen Kohlköpfen, Weizengrütze oder Perlgrauben und Fisch – Dorsch. Man ließ uns in Waggons einer Schmalspurbahn einsteigen und brachte uns zum Lager. Wir kamen in ein Lager in der Siedlung Kajerkan, zwischen Dudinka und Norilsk. Das Lager mit besonderem Regime hieß GorLag. Es war ein echtes Konzentrationslager. Wir trugen Nummern auf der Mütze, auf dem Rücken der Steppjacke und vorn auf der Hose. Ich hatte die Nummer C-874. Anfangs kam ich in eine Baubrigade, wir meißelten mit Spitzhacken den ewigen Frostboden unter den Fundamenten der Häuser weg. Aber lange hielt ich in dieser Brigade nicht durch, weil ich aufgrund meiner Jugend und aus Dummheit gewissenhaft arbeitete und sehr schnell „vorwärts kam“ – Ich begann an Dystrophie (Ernährungsstörungen; Anm. d. Übers.) zu leiden. Schuwalow nahm mich zu sich in die Brigade; diese Brigade transportierte Schnee in einen großen eisernen Behälter, den sie durch Aufwärmen zu Wasser schmolzen, welches dann in allen Zonen als Trinkwasser und zum Essenkochen verwendet wurde. Wir arbeiteten im Küchenbereich und bekamen jeweils zwei Portionen. Niemals hätte ich geglaubt, daß man zwei Schalen Grütze essen kann, aber ich aß sie. Damals sprach ich viel und oft mit Schuwalow darüber, daß unser Verbleib im Norden eine hoffnungslose Angelegenheit wäre; Schuwalow bereitete die Menschen zur Flucht vor. Wie das konkret durchgeführt werden sollte, das sagte er nicht, und was man nach der Flucht tun sollte – war völlig ungewiß. Aber irgendwie hatten wir die Überzeugung, daß wir eine Gruppe Gleichgesinnter beisammen hatten.

Als ich wieder ein wenig zu Kräften gekommen war und die Untersuchungs-Kommission durchlaufen hatte, schickten sie mich in eine Brigade, die auf einer Kohlenhalde arbeitete, Aus den Schächten, genauer gesagt aus den Stollen traf Kohle ein, die dann in Waggons verladen und nach Norilsk gebracht wurde, und die überschüssige Kohle, wenn keine Waggons mehr da waren, wurde dann auf der Kohlenhalde abgeladen. Wenn die Kohle aus den Schächten dann nicht ausreichte, luden sie gleichzeitig auch welche von der Halde auf. Die abgekratzte Kohle wurden mit Kellen auf Förderbänder geladen – und die wiederum schoben dann die Kohle in die Waggons. Es herrschte eine Polarnacht, die Halde wurde von wenigen Scheinwerfern erleuchtet, und wir arbeiteten im wesentlichen im Halbdunkel. Ich arbeitete mal beim Abkratzen der Kohle, mal mit der langen Brechstange, und stach die Wände aus Kohle los. Die Halde besaß stellenweise eine Stärke von 10 m, es kam vor, daß die Kohle sich selbst entzündete, und wenn sie dann so erhitzt verladen wurde, gingen manchmal unterwegs die Waggons in Flammen auf. Als sie nach einiger Zeit erfuhren, daß ich in der elektromechanischen Abteilung des Bergbau-Technikums studiert hatte, wurde ich als Elektroschlosser eingestellt. Diese Arbeit war körperlich leichter, obwohl es dennoch schwieig war, Mechanismen bei fünfzig Grad Frost zu reparieren. Mit Handschuhen konnte man auch nicht immer arbeiten, die Hände klebten am Eisen fest. Zum Frühjahr wurde es wärmer, das Leben gestaltete sich besser.

Zu dieser Zeit hörte unsere Organisation auf sich zu vergrößern. Wenige glaubten an den Erfolg einer Flucht, und wohin sollte man auch laufen? Irgendwie beschafften wir uns eine einfache geographische Karte. Aus ihr wurde ersichtlich, daß eine erfolgversprechende Flucht unrealistisch war. Wenn man den Jenissej weiter flußaufwärts ging, würde man unterwegs zahlreichen Wachposten und innere Truppen antreffen, die den Weg versperrten. Es gab bereits Fälle von Flucht, aber in der Regel waren sie von Mißerfolg gekennzeichnet. Vorherrschende Westwinde, der Versuch, auf unbefahrbaren Wegen nach Tomsk zu gelangen, mitten durch die Sümpfe – das war sogar im Winter gefährlich. Im Südosten waren die Entfernungen sogar noch größer. Ja und wo sollte man so viele Lebensmittel hernehmen, wie sie alle tragen? Wie später bekannt wurde, versuchte Schuwalow einen Bauleiter anzuwerben, der sich anscheinend einverstanden erklärt hatte, dann aber zum operativen Bevollmächtigten ging und ihm erklärte, daß Vorbereitungen für eine Flucht getroffen würden. Offenbar begannen sie von da an uns zu überwachen und aufzupassen, wer sich mit wem traf. Das blieb auch Schuwalow nicht unbemerkt. Einmal sagte er mir in einer offenherzigen Unterredung, daß man uns möglicherweise bald verhaften würde, wir uns davor abernicht fürchten sollten, da man uns im äußersten Fall zu unseren 25 Jahren noch eineinhalb Jahre hinzugeben würde, und das würde ja nichts bedeuten; während der neuen Haftstrafe bestünde die Chance aufs „Festland“ zu kommen, und von dort wäre es viel leichter zu fliehen. In der Tat war es so, daß nach Erhalt einer neuen Haftstrafe die Gefangenen gewöhnlich in andere Lager verschickt wurden.

Ende Juli 1951 wurden wir verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Es wurden meist nicht alle auf einmal abtransportiert, aber wenn dies doch einmal der Fall war, dann kamen sie in unterschiedliche Waggons. Es war Hochsommer, die ganze Tundra stand in Blüte. Aber in der Seele war uns gar nicht nach Blumen zumute - wie sollte es weitergehen?

 

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