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Brief von T. N. Woroschilowa

Ich schreibe ihnen mit schmerzvollem Herzen. Ich kann mich nicht ruhig verhalten, wenn ich etwas über das weit zurückliegende Jahr 1938 lese bzw. im Radio oder Fernsehen höre. Wenngleich auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, so werde ich doch bis ans Ende meines Lebens die Erinnerungen an dieses unvergeßliche Jahr nicht loswerden , das über unsere Familie soviel Kummer und Gram gebracht hat. Damals, als wir beinahe als Waisenkinder zurückblieben, war ich noch nicht ganz zehn Jahre alt und hatte noch zwei jüngere Brüder. Ich erinnere mich an jenen schrecklichen Februar 1938, als unser Vater ver-haftet wurde. Auch jetzt sehe ich die Zeilen nur durch einen Tränenschleier. Mein Vater, Nikolaj Iljitsch Nartowitsch, wurde 1900 in der Region Krasnojarsk geboren, im Kreis Mana, in dem Dorf Nowo-Nikolsk. Er wuchs dort gemeinsam mit meiner Mutter auf, seit ihrer frühesten Kindheit kannten sie sich, lernten zusammen. Wie mir die Mutter erzählte, ging er 1917 als Freiwilliger zur Roten Armee, kämpfte gegen die Kjoltschak-Truppen, geriet bis zur Mongolei und kehrte erst 1923 nach Hause zurück. Meine Mutter sagte stets: „Euer Vater war ein guter und aufrichtiger Mensch“. Und ich weiß auch, daß er uns ein gütiger Vater war und ein ehrbarer Arbeiter im Betrieb. Ich erinnere mich, daß sie ihn Stachanow-Arbeiter nannten. Damals verstand ich noch nicht, was ein Stachanow-Arbeiter ist. Mein Vater arbeitete als Streckenwärter bei der Eisenbahn. Nun, an jenem Februartag mußte er von 8 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags arbeiten. Ich kann mich erinnern, wie sie der Mutter sagten, sie solle gehen und das Gehalt für den Vater abholen, denn das tat sie gewöhnlich, wenn der Vater für einige Zeit irgendwohin weggegangen war. Aber als sie diesmal nach Hause zurückkam berichtete sie, daß man ihr das Geld nicht gegeben, sondern ihr in rauhem Ton gesagt hatte: „Wenn dein Mann vom Rundgang zurückkommt, wird er das Geld selbst erhalten“. Dort, am Block-Posten

„Grasnaja“ (so nannte man zu der damaligen Zeit die Bahnstation – Block-Posten „Grasnaja“) stand eine Lokomotive, es waren unbekannte Leute in schwarzer Militärkleidung da, und auf der Lok saßen bereits Männer aus unserem Dorf. Die Mutter begriff natürlich, daß dort etwas Schlimmes im Schilde geführt wurde. Sie weinte und fand keine Ruhe; dann lief sie wieder zu der Stelle, wo die Lokomotive stand und sah, daß auch unser Vater schon darauf saß. Die Mutter warf sich gegen die Lok. Man schleuderte sie gewaltsam fort und erlaubte ihr nicht, ein paar Worte zu sagen, sich zu verabschieden. Und so sahen wir Kinder ihn auch nicht. Und von jenem Tag an, von jenem weit entfernt liegenden Tag an, haben wir von ihm nie wieder etwas gehört oder erfahren, obwohl die Mutter auch ins Krasnojarsker Gefängnis fuhr und dort zwei Wochen verbrachte, denn sie wollte doch irgendetwas erfahren, aber niemand sagte auch nur ein Wort; man schlug ihr lediglich das Schalterfenster vor der Nase zu und antwor-tete: „So einen gibt es hier nicht“. Die Mutter wurde herzkrank; außerdem bekam sie eine Erkältung – tausende von Menschen lagen nachts beim Gefängnis, und es war doch Februar. Mein Gott, was für ein armseliges Leben wir führten. Wie wir zu leiden hatten. Die Wohnung mußten vir verlassen, weil man uns hinauswarf. Ich weiß noch, wie sie ankamen und alle die Papiere des Vaters suchten. Der Vater besaß ein Partisanenbuch. Sie haben uns immer nur über dieses Büchlein ausgefragt. Heute weiß ich schon nicht mehr, ob sie die Dokumente mitgenommen haben oder nicht. Es ist so, als ob der Frühling wie ein schrecklicher Traum vorübergeflogen ist. Dieser entsetzliche Traum dauert bis in die heutige Zeit. Ich bin nun schon sechzig Jahre alt und längst in Rente, aber all das vergessen kann ich nicht, und ich werde es auch niemals vergessen. Meine Brüder habe ich schon lange nicht mehr, die Mutter starb mit 68 Jahren. Sie hieß Jewdokija Fjodorowna Nartowitsch. Ihr Geburtsjahr ist 1902.

Und bitte verzeihen sie mir, falls ich nicht alles richtig geschrieben habe. Ich habe nur wenig gelernt; ich mußte ja arbeiten. Ab meinem 13. Lebensjahr arbeitete ich schon in der Kolchose und zuhause. Ich wollte so gern lernen, aber gegen ein solch tragisches Schicksal, wie es mei-nem Leben widerfuhr, kann man nichts machen.


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