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Erinnerungen an Sibirien

Briefe von Palmi West aus Sibirien an die Verwandten in Estland

Palmi West wurde am 17.07.1907 in dem Dorf Kaberla, Kussalusker Landkreis, Estland, geboren. 1949 wurde sie mit ihrer achtjährigen Tochter Heili im Rahmen der Stalinistischen Repressionen auf das Zentral-Vorwerk der Balachtinsker Getreide-Sowchose (heute Siedlung Tschistoje im Balachtinsker Bezirk) deportiert.

Übersetzt wurden die Briefe (aus dem Estnischen ins Russische) von ihrer Tochter Heili Leemet (West) im Juni 2013.


Palmi West mit Tochter Heili

Erster Brief

26. Mai 1949

Guten Tag, meine Lieben!

Ich habe Euren Brief erhalten, über den ich mich sehr gefreut habe. Hier besitzt jeder aus der Heimat angekommene Brief einen immensen Wert. Wir lesen ihn nicht nur für uns selber: Neuigkeiten aus der Heimat möchten alle Esten hören, deswegen muss man ihn immer und immer wieder lesen. Jetzt sind wir wie eine Familie, obwohl wir uns früher überhaupt nicht kannten.

Interessiert es Euch zu erfahren, wie wir leben?

Ich versuche auf Eure Fragen zu antworten.

Wir leben in einem hügeligen, offenen Gelände – in der Steppe. Weit hinten am Horizont sieht man Berge. Bäume gibt es hier nicht, nur seltene karelische Birken und Faulbeer-Bäume in den Schluchten; ihre Blätter sind noch klein, bald werden sie sich entfalten. Es gibt noch nicht viel Gras, dafür Blumenhaine, aber sie sehen nicht so aus, wie bei uns. Auch gibt es Blumen, die Ähnlichkeit mit unseren Iris haben. Viele Wildgänse sind hier. Das Wetter ist einstweilen kalt, wir tragen Wintermäntel und Wollstrümpfe.

Sie haben uns in der Balachtinsker Getreide-Sowchose untergebracht. Alle Esten leben auf dem Zentralgehöft. Eine ziemlich normale Siedlung. Es gibt sowohl große Häuser, als auch kleine hölzerne Katen. Unsere Baracke ist aus roten Ziegeln erbaut, sie hat 15 Zimmer. Wir wohnen in einem davon. Wir – das sind zwei Familien: ich mit Tochter und meine Nachbarin mit ihren beiden Kindern – einem Sohn und einer Tochter. Insgesamt sind wir also fünf.

In diesem Zimmer befindet sich ein so hohes, dreiflügeliges Fenster, dass ich in voller Größe auf der Fensterbank stehen kann. Drinnen steht ein Eisenherd mit einer Kochstelle, im Augenblick wissen wir noch nicht, wie er uns wärmen soll. Wir heizen den Herd mit Steinkohle, denn es gibt hier nur wenig Brennholz- Sie sagen, dass der Wald weit von uns entfernt ist, mehr als 25 Kilometer.

Ihr wollt auch wissen, wie unsere Behausung eingerichtet ist.

Die Betten auf Beinen sind aus einfachen Holzbrettern zusammengebaut. Uns haben sie drei Betten gegeben. Aber wir haben daraus zwei gemacht, sonst wäre es zum Schlafen viel zu eng gewesen. Wir haben auch noch einen hölzernen Tisch mit gekreuzten Beinen. Das Regal für Geschirr habe ich selber angefertigt. Es gibt eine lange Sitzbank; wenn ich Zeit finde, werde ich sie auseinandersägen – dann haben wir zwei Sitzgelegenheiten. Zusammen mit der Nachbarin habe ich mir auch einen Schrank für zwei Personen gekauft, der einem Büfett ähnelt; wir haben dafür 60 Rubel ausgegeben. Ein umgesiedelter Deutscher hat uns hübsche Vorhänge aus Wolle verkauft. Auf dem Tisch liegt ein Tischtuch. Die Nachbarin hat auf ihrem Bett eine schöne Überdecke liegen. Auf meinem Bettzeug liegt eine graue Decke, oben mit buntem Kattun. Was die Wohnung betrifft, können wir uns nicht beklagen.

Wir haben auch alles, was wir an Geschirr brauchen. Teller hebe ich zusammen mit er Nachbarin gekauft, und auch einen gusseisernen Kessel – so einen hatte unsere Großmama. Unser Essen schöpfen wir mit einem Becher, denn wir haben keine Schöpfkelle, und man kann so etwas auch nicht im Geschäft kaufen.

Am Zentral-Vorwerk befinden sich ein Krankenhaus, eine Mittelschule, ein Postamt, ein Kontor, in dem ein Direktor und noch verschiedene andere Amtspersonen tätig sind. Es gibt einen Lebensmittelladen und ein Geschäft für Industriewaren. Des Weiteren existieren dort ein Klub und ein sehr gutes Badehaus – genau wie bei uns in der Stadt. Freitags ist Badetag für Frauen, samstags für Männer. Eine Eintrittskarte kostet 50 Kopeken.

Diese Getreide-Sowchose verfügt über vier Abteilungen. Anfangs haben wir in der Ersten Abteilung gearbeitet, die vom Zentral-Vorwerk etwa einen Kilometer entfernt liegt.

Das Dorf ist klein. Dort im Kontor sind wir jeden Morgen zusammen gekommen. Dort wurden uns unsere Arbeitsplätze zugewiesen. Zur Ersten Abteilung gehören 2500 Hektar Boden. Wie groß die Landfläche in den anderen Abteilungen ist, wissen wir nicht. Sie schickten uns aufs Feld, um vor dem Aufpflügen das im vergangenen Herbst zurückgelassene Stroh abzubrennen. In der Brigade befanden sich zehn Esten, der Brigadeleiter war Deutscher. Nach dem Abbrennen des Strohs bearbeiteten wir den Boden mit einem Traktor, und anschließend sammelten wir das Wurzelwerk ein und verbrannten es ebenfalls. Danach wurde auf dem Feld Weizen angesät. An einen Traktor hängen sie dafür fünf fünfreihige Sä-Vorrichtungen an. Hauptsächlich wird Weizen angebaut; Hafer, Gerste und Erbsen werden dagegen nur wenig gezogen. Brot backen sie hier aus einer Mischung von Weizen und Hafer. Roggen wird nur ganz wenig angebaut. Wir haben auch eine ortsansässige Bäckerei. Kartoffeln werden mit Spaten gesetzt. Ein Arbeiter geht vorneweg und macht eine kleine Grube, ein anderer folgt ihm und legt die Kartoffel hinein. Die Frühlingsaussaat ist beendet, die Kartoffeln sind gepflanzt.

Pferde gibt es hier nur, wenn Fahrten unternommen werden. Die anfallenden Arbeiten werden von Ochsen verrichtet, immer zwei Ochsen in einem Gespann, gelenkt werden sie von einer Frau. Wir haben viele Ochsen hier. Auch ziemlich viele Kühe mit großen, Hörnern von rosa-weißer Farbe. Die gesamte Milch geht zur Verarbeitung in die Molkerei. Danach können wir dann die verarbeitete Milch für 60 Kopeken den Liter kaufen. Unbearbeitete Milch wird nicht verkauft.

Es gibt große und kleine Schweine. Und etwa 700 Schafe. Inzwischen sind wir: zehn Esten, ein litauisches Ehepaar und noch eine einzelne Litauerin – die haben sie in den Schafzuchtbetrieb geschickt. Wir arbeiten in Schichten, Tag und Nacht. Ich arbeite mit einer Frau namens Leida zusammen, sie stammt aus Arukjuka. Wir arbeiten von 20.00 bis 8.00 Uhr. Ein Wachmann ist immer bei uns. Wenn ein Lämmchen geboren wird, tragen wir es in einen Raum und füttern es. Im Augenblick haben wir 300 Lämmer, sie werden Tag und Nacht geboren. Manchmal sind es sechs, manchmal zwölf während einer Schicht.

Morgens geben wir den Schafen Heu, tagsüber bekommen sie Kartoffeln und Mehl. Man hat versprochen, uns 275 Rubel pro Monat zu zahlen, wir werden sehen.

Wir bekommen Lohn ausgezahlt. Aber bislang haben wir unser Geld für den vorherigen Monat noch nicht erhalten.

Hier sind zahlreiche Nationalitäten versammelt: Deutsche, die bereits 1941 deportiert wurden, verschleppte Esten, Letten, Polen, verbannte Russen. Als letzte sind die Litauer hier eingetroffen. Einer der Esten lebt hier schon seit über 30 Jahren, er ist Müller. Die estnische Sprache hat er noch nicht vergessen, seine Ehefrau spricht da schon schlechter, und die Kinder sprechen überhaupt kein Estnisch mehr.

Die Ortsansässigen haben ihre eigene kleine Hofwirtschaft: Kühe, Kälber, Schweine, Hühner und Truthähne. Sie geben uns den Rat, uns ebenfalls so eine Bauernwirtschaft zuzulegen, wenn wir essen wollen.

Du fragst, ob s hier bei uns Apfelbäume gibt. Nein, keinen einzigen. Wahrscheinlich wachsen sie hier nicht.

Die Landschaft hier ist hügelig und offen. Man muss ständig bergauf steigen, und dann durch ein Tal auf den nächsten Berg. Die Hügel sind ein wenig höher, als unser heimatliches Ufer, aber abschüssiger. In dieser Landschaft liegen Felder, Heuwiesen und Wiesen. Der Fluss Tschulym liegt ungefähr einen Kilometer von unserem Haus entfernt.

Der Wasserfahrer bringt das Wasser vom Fluss in einem Holzfass her. Ein Eimer Wasser kostet 10 Kopeken.

So leben wir also gegenwärtig. Es ist schon 7 Uhr. Ich muss den Brief beenden. Ich will ihn zur Post bringen. Zur Arbeit schaffe ich es in 10 Minuten.

Wenn Du diesen Brief bekommst, dann schreib Du mir auch wieder über Dein Leben. Und wenn Du zu meinen Eltern gehst, dann gib ihnen meinen Brief zum Lesen.

Herzliche Grüße an alle.

Palmi und Heili


Hausbau aus Schiefergestein

Zweiter Brief

1. Juli 1949

Guten Tag, liebe Tante mit Familie!
Herzliche Grüße aus der Ferne!
Heute ist ein herrlicher Sonntag-Morgen! Die Sonne geht auf und schickt zur Freude der Menschen ihre ersten Strahlen.

Gedanklich war ich schon im Elternhaus, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Geflügelte Gedanken tragen mich nun schon weiter fort; vom Berg Weskimjae aus sehe ich das blaue Meer, und durch das blaue Meer gehe ich weiter, erinnere mich derer, die gezwungen waren, ihr väterliches Haus zu verlassen!

Ich war zu Hause bei der leiblichen Schwester und auch bei Euch zu Hause. Deutlich kann ich mich an jeden Baum und Strauch erinnern. Ich habe nicht vergessen, wie es aussah, wenn die Verwandten gingen, an ihrem Gang hätte ich jeden von ihnen erkennen können.

Ich war auf dem Friedhof in Kussalu, wo die Angehörigen und dem Herzen lieb gewordene Menschen begraben sind.

Der Friedhof – ein Ort der Ruhe, unsere Lebensstürme fliegen nicht bis dort hinüber.

Eduard hat geschrieben, dass heute der Tag des Friedhofs von Kussalu gefeiert wird. Ach! Wenn sie mir Flügel gäben, würde ich unbedingt angeflogen kommen, um all die Lieben und Bekannten zu treffen. Aber man muss mit seinem Schicksal Frieden schließen, denn unser Schicksal ist vorherbestimmt, und ohne Einverständnis des Allerhöchsten geschieht nichts. So steht es im Buch der Bücher geschrieben. Wie gut, dass ich schon früher mit der Bibel vertraut war. ihr findet jeder für sich Trost und neue Kraft, um im Leben voran zu schreiten.

Leider fängst Du immer erst dann an, alles in Deinem Leben zu bewerten, wenn Du Dich weit von zu Hause entfernt befindest.

Wir sind gesund und gehen zur Arbeit. Derzeit arbeiten wir auf dem Bau. In unserer Brigade befinden sich vier Estinnen; in der Ziegelfabrik laden wir Öfen auf und ab – dort, wo die Ziegel gebrannt werden. Wir entrinden auch Bäume, die für Bauzwecke benötigt werden. Die Rinde dürfen wir für uns behalten, zu Hause können wir damit gut den Herd heizen. Gestern haben wir an ein neues Haus Dichtmaterial genagelt. Zwei Tage lang sind wir 35 Kilometer in die Taiga hinein gefahren, um Holz zu holen. Für uns war diese Fahrt wie ein Ausflug: wir haben schöne Landschaften gesehen, wunderschön blühende Blumen, wie ich sie zuvor noch nie gesehen habe. Wir durchfuhren Dörfer und Ortschaften. Und als wir zu unserem Zentral-Vorwerk zurückkehrten, begriffen wir, was für ein Glück wir im Leben gehabt haben und wie dankbar wir dem Schicksal sein sollten, das uns ausgerechnet hierher verschlagen hatte! Wir leben an einem schönen Ort! Im vorherigen Brief habe ich für den Vater einen Plan unserer Baracke skizziert, in der wir wohnen. Wenn er meinen Brief bekommen hat, dann könnt Ihr unser Zuhause auch kennenlernen.

Im Augenblick ist die Heumahd in vollem Gange. Bislang hat man uns noch nicht dorthin geschickt; wir arbeiten in der Nähe von Zuhause.

Der Arbeitstag geht von 8.00 bis 17.00, und wir haben eine Stunde für das Mittagessen.

Die Pakete und das Geld, die der Vater geschickt hat, habe ich erhalten. Dem Vater habe ich ebenfalls einen Brief geschrieben.

Das ist einstweilen alles. Ich bringe den Brief jetzt zur Post und hoffe, von Zuhause auch einen Brief zu bekommen.

Herzliche Grüße an alle.

Palmi und Heili


Frauen mit Tragen voller Schiefergestein

Dritter Brief

04. Februar 1950

Seid wieder gegrüßt, meine Lieben!

Ich habe von Euch den Brief erhalten, den Ihr am 21. Januar geschrieben habt. Meine Seele ist ganz ruhig geworden, als ich gelesen habe, dass Ihr nach wie vor im Elternhaus wohnt.

Bei uns wird derzeit ganz besonderes eifrig gearbeitet. Die Traktoren bringe jeden Tag Holz, von jedem Traktor werden zwei Anhänger gezogen, die mit dicken Stämmen beladen sind. Solche großen Bäume habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen!

Sie haben erzählt, dass es so riesige Stämme gibt, dass man auf ihnen tanzen kann. Jetzt sollen wir sie bearbeiten, damit sie auf dem Bau verwendet werden können. Derzeit arbeiten wir in der Sägemühle; wir sind zu siebt in der Brigade: vier Frauen und drei Männer. Manchmal, wenn unsere Kräfte nicht reichen, gehen sie uns helfend zur Hand. Einmal haben 17 Leute einen Baumstamm vom Hänger gerollt. Damals kam uns die gesamte Sowchosen-Verwaltung zur Hilfe – Direktoren und Ingenieure. Diese Bäume heißen hier Lärchen, bisweilen ähneln sie unseren Kiefern, aber die Rinde ist von einer wunderschönen Himbeerfarbe. Die Bäume sind schwer wie ein Schwein. Unsere wesentliche Arbeit finde in der Sägemühle beim Abladen des Holzes von den Anhängern statt. Wenn die Traktoren in der Nacht eintreffen, kommt der Nachtwächter und holt uns, er klopft an die Tür und sagt: „Frauen, beeilt euch!“ Dann müssen wir schnell unsere Hosen anziehen und in die Nacht hinausschreiten. Es ist nur gut, dass wir alle in einer Baracke wohnen. Zuerst ist einem noch ein wenig unbehaglich zumute, aber wenn man dann erst einmal draußen ist, ist das Gehen im Mondschein ziemlich schön. Ich muss an ein Lied denken: „Dort in Sibirien hinter dem Baikal“. So ein Schicksal ist das!!! Nachdem wir uns versammelt haben, beginnen wir mit dem Abladen. Die Arbeit dauert eine Schicht lang, deswegen ist der Arbeitstag länger. Wir fangen um 8.00 morgens an und arbeiten dann so lange, bis die Dunkelheit einsetzt. Ungefähr um 19 Uhr kommen wir nach Hause. Dort haben wir schon keine Lust mehr, noch irgendetwas zu machen. Den ganzen Tag haben wir uns in der Kälte aufgehalten. Es ist sehr gut, dass wir ein warmes Zimmer haben. Hier gehe ich jetzt barfuß und trage eine leichte Bluse. Den Ofen heize ich mit Sägespänen.

Am Abend, als ich von der Arbeit kam, habe ich Deinen Brief vorgefunden. Ich habe ihn gelesen und mich schlafen gelegt. Am Morgen bin ich früh erwacht und habe angefangen Dir zu schreiben, so lange mich niemand stört.

Morgen ist wieder Sonntag, da ist wieder Zeit zum Ausruhen. Wir achten her sorgfältig auf die Wochentage, damit wir nicht durcheinander kommen, denn Kalender besitzen wir nicht. Dafür wissen die Kinder in der Schule gut, was für heute für ein Datum haben.

Nun haben wir schon den dritten Monat, aber man hat uns noch keinen Lohn gezahlt. Bei mir gibt es diesbezüglich noch keine Probleme, ich habe noch Lebensmittel, und auch das Geld ist noch nicht alle. Aber es gibt auch Nachbarinnen, die schon lange kein Brot mehr gegessen haben, und auch die Kartoffeln sind bei ihnen bereits zur Neige gegangen.

Aber wer arbeitet, der muss auch essen! Irgendwie halten wir uns zusammen über Wasser!

Vater hat geschrieben, dass er ein Paket geschickt hat. Ich warte schon sehnsüchtig darauf, meine Schuhe sind abgenutzt. Ich geniere mich sie anzuziehen – sonst bringe ich plötzlich die ruhmreiche Getreide-Sowchose in Verruf!

Von der Schwester habe ich auch einen Brief bekommen. Ich werde ihn beantworten, denn dann kann ich selber auch wieder einen erwarten. Ich bekommen von allen die meisten Briefe, und ich schreibe auch mehr als die anderen. Im Alter lerne ich noch das Briefeschreiben! Als ich noch zu Hause wohnte, habe ich manchmal jahrelang keine Briefe geschrieben, denn es gab keine Notwendigkeit, und nun schreibe ich gleich mehrere Briefe auf einmal.

Nun will ich schließen; ich wünsche Euch alles, alles Gute.

Gruß an alle.

Palmi und Heili


Palmi West in der Mitte

Vierter Brief

20. April 1952

Ich grüße Euch alle!

Vor ein paar Tagen habe ich von Dir einen Brief erhalten. Vielen Dank! Es ist gut zu wissen, wie Ihr dort in der Ferne, in der Heimat, lebt.

Unser Leben verläuft bescheiden. Der lange Winter ist vorbei, jetzt fällt das Atmen wieder leichter, da man weiß, dass der Frühling und die Wärme vor einem liegen.

Der Winter in diesem Jahr war ziemlich war, und ich hatte eine andere Arbeit. Ich hatte fast einen Monat Urlaub. Der Urlaub war am 15. April zu Ende. Die Tage zu Hause verliefen wie im Fluge. Ich habe alle möglichen Dinge erledigt, aber manches habe ich nicht geschafft. Ich hatte keine Zeit, mich mit Handarbeiten zu befassen. Schauen wir mal, wie die Umstände sich zukünftig ergeben. Ich arbeite als Gehilfin des Ofensetzers. Es hat sich nichts Besseres gefunden. Das Schwierigste daran ist, den Mörtel auf das Dach zu ziehen. Man muss sich ordentlich festhalten, damit man nicht hinunterstürzt.

Ostern haben wir dieses Jahr gut verlebt. Ich habe Brötchen gebacken, Wurst hergestellt, Eier gekocht. Wir wohnen so nahe beieinander, dass man auf Besuch gehen und Gäste einladen kann. Um sieben Uhr morgens des ersten Ostertages kam Besuch zu mir. Unser repressierter estnischer Geistlicher brachte eine Gitarre und eine Mandoline mit. Er spielte auf den Musik-Instrumenten, und wir alle sangen dazu. Die Zeit verging schnell. Wir dachten an unsere Verwandte und die Heimat.

Anschließend tranken wir Kaffee und aßen belegte Brote und Brötchen.

Zum Mittagessen waren wir bei den Rannuts eingeladen. Der Tisch war reichlich gedeckt, wie in alten Zeiten.

Sie hatten sogar rostfreies Tafelgeschirr. Auch Messer, Gabeln und silberne Löffel fehlten nicht.

Am Abend versammelten wir uns erneut in unserer Baracke im Zimmer gegenüber, wo wieder gesungen und auf Musikinstrumenten gespielt wurde. Wir kamen spät nach Hause und gingen sofort schlafen.

Den zweiten Feiertag haben wir ebenfalls gut verbracht. Niemand musste zur Arbeit gehen.

Heute hat das Osterfest der Russen begonnen. Sie haben bereits am Abend angefangen zu feiern.

So also leben wir hier, am äußersten Rand des Erdballs, feiern Festtage und gehen unserer Arbeit nach. Im Großen und Ganzen kann man sagen – wir leben!

Herzliche Grüße an alle!

Palmi


Brigade beim Hausbau

Fünfter Brief

9. August 1954

Ich arbeite derzeit am Sägewerk. Das Maschinenlager ist kaputt gegangen. Ich nutze die Pause, um ein paar Zeilen zu schreiben.

Wir leben genauso wie zuvor, wir sind gesund, es gibt keine besonderen Neuigkeiten. Wir arbeiten jeden Tag: wir zersägen Stämme, bearbeiten ihre Oberfläche. Die Bauarbeiten sind in vollem Gange.

In diesem Jahr bestellen sich die Arbeiter Häuser auf Ratenzahlung. Die Sowchose errichtet bereits das vierte Haus – der Preis beträgt ungefähr 5000 Rubel.

Unsere Arbeitstage sind ziemlich lang, wir arbeiten in einer Schicht. Das Wetter ist sehr heiß geworden: 40 – 50 Grad.

Die schwere Arbeit und die große Hitze haben das Ihre gefordert. Am Abend sind wir schrecklich müde, man möchte danach nichts mehr machen, nur sich hinlegen und ausruhen.

Morgens stehe ich um halb fünf auf, erledige meine Sachen bis halb acht. Um acht muss ich bei der Arbeit sein. Die furchtbare Hitze hat sich allerdings gelegt. Am Samstag hatten wir Gewitter, es goss in Strömen, und in manchen Gegenden hagelte es sogar. Jetzt gibt es jeden Tag einen kurzen Regenschauer. Die Heumahd musste abgebrochen werden. Das Heu für den Winter für die Ziegen ist noch nicht bereit. Am 15. August beendet die Sowchose die Heumahd, erst danach können die Arbeiter für ihre eigene Hofwirtschaft Heu besorgen.

Meine Ziege braucht nicht viel Heu. Ich werde neben der Sägemühle ein wenig für sie abmähen. Die Ziege ist ein kleines Tierchen. Ich habe ihr für den Winter auch schon Weidenruten vorbereitet. Es gibt kleine Kartoffeln und Kartoffelschalen. Die Nachbarn haben ebenfalls versprochen etwas abzugeben, falls es nicht reichen sollte.

Ich habe zuerst eine Ziege für zwei zusammen mit meiner Nachbarin für 400 Rubel gekauft. Später brauchte sie Geld, und ich gab ihr die Hälfte (200 Rubel). So gehört mir also jetzt die Ziege allein. Katja – meine Ziege – hat ihre Anschaffungskosten bald abgearbeitet. Sie gibt sehr fettige Milch. Suppe koche ich folgendermaßen: 2 Liter Wasser und 1 Liter Milch. Sehr lecker. Man merkt überhaupt nicht, dass sie verdünnt ist. Ich brühe mir jetzt jeden Tag Kaffee, und den trinke ich, als wäre Sahne darin. Früher konnte ich mir Sahne und Zucker nicht erlauben. Zwei kostbare Komponenten. Da habe ich mehr Tee getrunken.

So also leben wir. Ich hab meinen Lohn für Juni erhalten – 300 Rubel. Für Juli haben sie noch nichts gezahlt. Dein Brief, den Du am 14. Juli geschrieben hast, habe ich bekommen. Vielen Dank!

Alles Gute,
auf Wiedersehen, Palmi


Tiija Lodu und Heili West


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