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Erinnerungen von Emilia Davidowna Eirich

Ich wurde 1914 in Markstadt (heute Marxstadt – 50 km von Engels entfernt) geboren. Meine Eltern waren David Antonowitsch und Amamlia Germanowna. Sie waren Bauern und lebten in dem Dorf Brokgaus (Brockhaus; Anm. d. Übers.).

Es war ein fruchtbarer Bezirk. Alles wuchs und gedieh – Kürbisse, Getreide, Obst. Jeder besaß seinen eigenen Garten. Alle Arbeiten wurden vorwiegend manuell erledigt. Unser Holzhaus mit den drei Zimmern steht dort heute noch. Die Ernten waren gut. Sie gaben das Getreide in Saatgutfonds an den Staat ab, auch für Waisen-Kinder. Es gab solche Kinder, und man half ihnen.

An den Sonntagen versammelte sich die Gemeinde – man ging in die Kirche. Wir sind gläubige Lutheraner. Wir feierten die kirchlichen Festtage, sangen, tanzten Krakowiak, Polka, Walzer und Foxtrott.

1929 begann man mit dem Aufbau der Kolchose. Die Deutschen traten ihr nur ungern bei. Mit 8 Jahren kam ich in die deutsche Schule. Vier Jahre besuchte ich den Unterricht. Dann musste ich arbeiten, den Eltern helfen. Wir waren drei in der Familie.

Bis 1933 wohnte ich bei den Eltern. 1933 zogen wir nach Saratow. Am 19. Oktober 1934 fand ich Arbeit in der Produktion – in Engels wurde ein Fleischkombinat, 9 km von der Stadt entfernt, errichtet. 1936 heiratete ich, wir lebten in Engels, ich arbeitete als Verputzerin. So hätten wir auch weiterhin gelebt, wenn nicht das Dekret vom 28. August 1941 gekommen wäre. Wir wohnten in einem staatlichen Haus. Wir hatten Vieh, hielten Ziegen, Schweine und sogar Kühe. Wir schafften es gerade noch, die Ziege zu melken, als der Befehl kam, dass wir um 24 Uhr abfahren sollten. Alles ließen wir zurück – das Vieh, unsere ganzen Sachen. Ich hatte einen kleinen Sohn. Es gelang mir eine Decke, Kleidung für das Kind, eine Matratze mitzunehmen. Die Bahnlinie war nicht weit von Zuhause entfernt. Am 4. September, gegen Abend, setzte der Zug sich von der Station Ansiowka aus in Bewegung. Untergebracht waren wir in Viehwaggons – Güterwaggons. Zweistöckige Pritschen. In einem Waggon befanden sich 30 Personen. Wir aßen das, was wir mitgenommen hatten, mitunter gelang es, an den größeren Bahnstationen heißes Wasser zu holen.
Zwei Wochen transportierten sie uns. Am 18. September trafen wir in Atschinsk ein. Die Familie der Eltern gelangte mit einem Schiff in die Altai-Region, sie sollten nach Rubzowsk. Man lud uns in einer Scheune ab. Die Verteilung erfolgte streng nach Listen. Wir kamen nach Tschipischewo (heute Nowo-Biriljussy). Im Dorf schlug der Kolchos-Vorsitzende uns Wohnungen vor. Ich kam zu Anna Afanasjewna; mit uns auch noch eine weitere Familie. Wir halfen dabei, das Dorf-Kontor zu verputzen. 1942 kam ein Anwerber vom Mangan-Bergwerk. Am 31. Dezember 1941 brachten sie uns zum Bergwerk. Man quartierte uns im noch nicht fertig gebauten Klub ein – insgesamt 11 Familien. Wir lebten einträchtig miteinander, die Not vereinte uns. Ich kam zum Holzeinschlag. Es wurden Baracken mit acht Wohnungen gebaut. Ich erinnere mich noch, dass Schnee fiel und wir Lehm zerstampften. Später trieben sie Kalmücken dorthin. Sie kamen hauptsächlich in Erd-Hütten unter.

Meine Patentante – Lydia Grigorewna Stang, kam mit vier Kindern; das fünfte wurde am 15. März 1942 geboren.

Man jagte uns zum Holzeinschlag, zur Kellerei, es lag Schnee, es war kalt. Lida besaß für die Arbeit keine Schuhe, nur Sachleinen. Aber mit Säcken an den Füßen kommst du nicht weit. Wir sagten Lida, sie solle den Leiter fragen, ob er nicht irgendwelche Schuhe für sie hätte. Sie hörte auf uns. Doch der Leiter verstand das als Arbeitsverweigerung und steckte sie für drei Jahre in Haft. Man schickte sie nach Reschoty. Die Kinder wurden auf Heime verteilt – sie kamen nach Krasnojarsk, in den Beresowsker Bezirk und das älteste – in die Arbeitsarmee. Ihr Mann befand sich ebenfalls in der Arbeitsarmee – in Kirow.

Alle kehrten lebend zurück; Gott hatte ihnen offenbar geholfen.

Am 16. Januar 1942 wurden alle Deutschen ab dem 15. Lebensjahr, Frauen, die keine Kinder unter 3 Jahren hatten, in die Arbeitsarmee geschickt.

1942 wurde meine Tochter geboren – am 15.März. Zwei Monate später beerdigte ich sie. Das Grab hoben wir in Schanchai, beim Mangan-Bergwerk, aus. Der Boden war noch gefroren, wir mussten ihn aufmeißeln. Das Grab wurde sofort mit Wasser gefüllt. Ein alter Deutscher fertigte ein Kreuz und den Sarg an. Wir schöpften Wasser. Dann starb noch ein Säugling. Die Mutter, eine Deutsche, bat darum, ihn daneben zu bestatten. Und ein drittes Kind starb. So haben wir an dem Grab dreimal gegraben, um es geräumiger zu machen.

Die Ortsbewohner verhielten sich uns gegenüber in unterschiedlicher Weise. In jeder Nation gibt es sowohl schmutzige als auch saubere Menschen. Es kam vor, dass sie mit Steinen nach uns warfen. Ich erinnere, dass einer der Ortsansässigen meinte – die Deutsche kämen mit Schwänzen und Hörnern daher. Aber wir erwiesen uns als ebensolche Menschen wie sie.

Ich erinnere mich, dass beim Holzeinschlag einmal folgendes passierte. Es hatte zwei Wochen lang geregnet. Wir kamen vollkommen nass an, einen Ofen gab es nicht. Wir legten neben dem Haus Ziegelsteine auf die Straße, stellten einen Topf mit Kartoffeln darauf. Da kam die Feuerwehr, zerstörten die Feuerstelle mit einer Brechstange und warfen die Steine durcheinander. Alles viel in den Matsch. Und so blieben wir nass und hungrig.

Meine Schwester schrieb uns Briefe aus der Arbeitsarmee. Zwei davon habe ich aufbewahrt. Diese Blätter legte Emma in die Mitte des Briefes. Darauf stehen Verse über die Deportation in deutscher Sprache.

1943 kam mein Mann in der Arbeitsarmee ums Leben. Der Sohn starb bereits 1941 in Tschepyschewo. 1942 verputzten wir den Klub, lebten in einem nicht fertig gebauten Haus, ohne Dach; wir errichteten selbst aufgeschüttete Baracken und verputzten sie. Wir fertigten Schablonen an. Mit acht Personen ließen wir uns in einem Zimmer nieder. Wozu sollten wir beim Verwalter darum kämpfen? Die Bauherren wollten uns den Raum wegnehmen und 12 Familien darin unterbringen. Wir aber haben uns rundweg geweigert das Zimmer zu verlassen. Man bestellte uns zum Verwalter Wolkow: “Aber ihr wisst doch, was ihr für welche seid?” – fragte er. “Was sind wir denn für welche?” – antwortete ich, “Solange Stain seine Verfassung nicht abgeschafft hat, sind wir Ihnen rechtlich gleichgestellt.” Und so blieben wir in der Baracke.

15 Jahre mussten wir uns regelmäßig in der Kommandantur bei Kommandant Jarlykow melden und registrieren lassen. 1956 ließen sie uns aus der Sonderansiedlung frei. In diesen Jahren sind zahlreiche Deutsche im Bergwerk gestorben. Bei den Kolchosbauern aus Krasnij Jar (an der Wolga) gab es viele Kinder. Man erlaubte ihnen nicht nach Hause zurückzukehren. Aber die Kalmücken fuhren gleich nach dem Krieg ab. Sie lebten unter entsetzlichen Bedingungen, ernährten sich von umgefallenen Tieren, lebten in Erd-Hütten.

Wir lebten am Bergwerk von 1942 bis 1973. Ich habe mein Leben lang als Verputzerin beim Hausbau gearbeitet.

Aufgezeichnet von J.W. Tuschkanowa
Ich bestätigte die Aufzeichnung, Eirich
24.02.92


Interview

Vor 53 Jahren, am 2. August 1941 kam der traurig-berühmte Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets "Über die Umsiedlung der in den Wolgabezirken lebenden Deutschen“ heraus. Es bedurfte nur eines einzigen Federstrichs, um Menschen zu Schande und Leid zu verdammen. Das ganze Volk wurde der massiven Unterstützung des Faschismus beschuldigt.

380 Tausend Deutsche wurden nach Kasachstan, Burjatien und Sibirien abtransportiert. Mit der Bitte ihre Erinnerungen an das Leben in der Verbannung mit uns zu teilen, nahm ich Kontakt mit Emilia Davidowna EIRICH auf. 1941 war sie 27 Jahre alt und lebte mit ihrer Familie in Engels.
- Ich wieß noch, wie bereits Anfang September Leute zu uns auf den Hof kamen und die Anordnung gaben, dass wir um 24 Uhr abfahren sollten. Sie sagten: „Nicht viele Sachen und Lebensmittel mitnehmen. Dort bekommt ihr alles.“ Ich konnte eine Decke, eine Matratze und Kleidung für meinen kleinen Sohn mitnehmen.

Am 4. September, gegen Abend, fuhr unser Zug los. Niemand wusste, wohin sie uns bringen würden. Wir fuhren in Güterwaggons, wie sie zum Transport von Vieh verwendet wurden. Zweistöckige Pritschen. In einem Waggon waren 30 Personen, vielleicht auch mehr. Wir aßen unterwegs das, was wir mitgenommen hatten. Manchmal, an den größeren Bahnstationen, gelang es, heißes Wasser zu holen. Am 18. September brachten sie uns zur Verteilung an die Station Atschinsk-2. Verteilt wurde streng nach Listen. Alte Menschen, Angehörige der Intelligenz, alleinstehende Frauen mit Kindern liefen unter der Rubrik "dritte Wahl“. Sie wurden noch weiter verschickt, in arme Dörfer. Ich kam nach Tschupuschejewo (heute Nowobiriljussy). Wir lebten in einer Wohnung, halfen beim Verputzen des Dorf-Kontors. Dort liegt mein Söhnchein begraben. 1942, im Dezember, kam ein Anwerber aus Tschipuschewo zum Mangan-Bergwerk. Und am nächsten Tag brachte er uns dorthin. 11 Familien wurden im nicht fertig gebauten Dorf-Klub untergebracht. Wir lebten einträchtig, das Leid schweißte uns zusammen. Ich arbeitete beim Holzeinschlag und als Verputzerin am Bau. Ich erinnere mich, dass Schnee fiel und wir barfuß Lehm fegten – mit Schuhwerk war das ein Wunder.

Einmal jaten sie uns zum Holzeinschlag, zur Kellerei, Lida Stang, meine Taufpatin, hatte keine Schuhe, es sei denn, man rechnete das Sackleinen dazu, das sie um ihre Füße gewickelt hatte. Aber mit Säcken an den Beinen kommst du nicht weit (der März stand vor der Tür). Wir gaben Lida den Rat, den Leiter um irgendwelche Schuhe zu bitten. Sie wandte sich auch tatsächlich an unseren Vorgesetzten Petrow. Aber er wertete das als Arbeitsverweigerung und sorgte dafür, dass sie für drei Jahre in Haft kam. Man schickte unsere Lidia Grigorewna nach Reschoty. Ihre vier Kinder wurden auf Heime verteilt, der älteste kam in die Arbeitsarmee. Ihr Mann war ebenfalls in der Arbeitsarmee, in Kirow. Offenbar half Gott ihnen – denn alle kehrten lebend zurück.
Am Bergwerk kamen während des Krieges viele Deutsche ums Leben. 1942 begrub auch ich meine zwei Monate alte Tochter. Die Gräber wurden damals in „Schanchai“ ausgehoben, am Bergwerk (nicht zu verwechseln mit der Östlichen Siedlung). Das Grab wurde sofort mit Wasser gefüllt. Das Grab des Töchterchens wurde zweimal wieder aufgemacht, man vergrößerte es (deutsche Mütter baten darum, ihre Säuglinge auch dort zu bestatten).

Ein Unglück kommt selten allein. 1943 kam in der Arbeitsarmee mein Ehemann ums Leben, und ich wäre beinahe ins Gefängnis gekommen. Und das kam so. Wir bauten in der Siedlung aufgeschüttete Baracken. Mit acht Personen hausten wir in einem Zimmer ohne Dach. Als das Haus fertiggebaut war, beschloss man, uns diesen Raum wegzunehmen. Wir weigerten uns entschieden, den Raum zu verlassen. Man bestellte uns zum Verantwortlichen Wolkow. "Wisst ihr denn, was für welche ihr seid? – Ich konnte mich nicht zurückhalten: "Was für welche sind wir denn? – So lange Stalin seine Verfassung nicht geändert hat, sind wir mit ihnen gleichberechtigt“. Mit den Worten war es nicht weit bis zu einer Verhaftung, aber alles ging gut aus, und unser Zimmer hatten wir auch verteidigt.
Alles Mögliche ist in unserem Leben passiert. Es kam vor, dass sie mit Steinen nach uns geworfen haben, aber manchmal teilten sie auch das letzte, was sie selbst besaßen, mit uns. So lebten wir.
15 Jahre lang mussten wir uns regelmäßig beim Kommandanten JARLYKOW melden. 1956 wurden wir aus der Sonderansiedlung freigelassen, aber nach Hause fahren durften wir nicht. Und so bin ich hiergeblieben. Mein ganzes Leben habe ich als Verputzerin gearbeitet. Ich hege gegen niemanden irgendeinen Groll. Ich bin niemandem böse. Aber ich muss immer wieder an das Elternhais in Brockhaus denken, an unser ländliches Leben dort. Aber das ist alles schon nicht mehr rückgängig zu machen.

Aufgezeichnet von: Puschkanowa

 

Archiv des Atschinsker «Memorial». Städtische budgetierte Kultur-Einrichtung «D.S. Kargopolow-Heimatkunde-Museum Atschinsk»


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