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Israel Sekzer. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert, an Rußland und den Menschen

KINDHEIT

Ich wurde am 8. März 1929 in Polen (West-Ukraine), in der kleinen Stadt Rowno, geboren, in die jüdische Familie eines kleinen Angestellten in einer privaten Bierbrauerei, einem Außendienstvertreter.

Obwohl meine Mutter zu jener Zeit schon nicht mehr arbeitete (sie war Lehrerin der unteren Klassenstufen), lebte die Familie in einem durchschnittlichen Lebensstandard, und es kam nie die Frage auf, wovon wir essen oder uns kleiden sollten, denn im großen und ganzen gab es in dieser Hinsicht keine Probleme. Diesem Umstand verhalf offenbar auch die Tatsache, daß unsere Familie (die Eltern, meine ältere Schwester und ich) im Hause des Großvaters lebten (in zwei von vier Zimmern) und sich über die Zahlung der Wohnungsmiete keine Sorgen machen brauchte, und zentrale Strom,- Gas- und Wasserversorgung gab es damals in der Stadt noch nicht.

1935, im Alter von 6 Jahren, kam ich in die erste Klasse der allgemeinbildenden, staatlichen Schule, und 1937 ans private jüdische Gymnasium, wo praktisch alle jüdischen Kinder der Stadt zum Unterricht gingen, unabhängig vom Wohlstand ihrer Eltern. In jenen Jahren glaubte ich, wie auch alle meine Altersgenossen, an Gott, feierte mit den Eltern die jüdischen Festtage und ging samstags mit ihnen in die Synagoge.

Die Kinderjahre gingen vorüber, mit Lernen, aber auch mit dem Spielen von "Räuber und Gendarm", "Indianer und die weißen Eroberer der Prärie" und mit vielen sportlichen Spielen

(Fußball, Volleyball, "Zwei Feuer", "Serso", und im Winter mit Schlittschuhen und Schlittenfahren). Unsere Kinder-Clique hielt sich ständig in dem schönen Stadtpark auf, der genau gegenüber der Schule lag, entweder in den alten Burgruinen der Fürsten Ljubomirski oder auf dem Sportplatz unserer Schule.

In den Sommerferien (und auch vor der Schulzeit) fuhr die Familie gewöhnlich in das Dorf Nowostaw, unweit des Städtchens Klewan, durch das die Eisenbahnlinie führte, und wo wir bei einem Bauern ein Häuschen als Datscha mieteten. Der Vater kam an den Wochenenden zu uns.

Das Häuschen bestand aus einem Zimmer und einer kleinen Küche. Alles wäre gut gewesen, wenn es nicht so schreckliche Wanzen gegeben hätte, mit denen wir nach jeder Ankunft kämpfen mußten. Die glücklichen Tage auf der Datscha waren angefüllt mit Baden und Sichsonnen am Flüßchen, dessen Namen ich vergessen habe, wo getrennte Schwimmbecken für Kinder (mit niedrigem Wasserstand), Frauen und Männer eingerichtet waren - und eines zum Angeln, wo es mir gelang, einen einzigen kleinen Fisch zu fangen (und damit war meine Anglerleidenschaft fürs ganze Leben beendet, weil es sich für meinen unruhigen und explosiven Charakter als nicht geeignet erwies); und dann waren wir natürlich noch mit sportlichen Spielen und Ausflügen in den Wald beschäftigt, um dort Nüsse zu sammeln.

Das größte Ereignis war für mich die Fahrt zu Datscha. Alle fuhren mit dem Zug und ich, zusammen mit den häuslichen Siebensachen, auf einem großen Fuhrwerk, das von meinem geliebten Fahrer aus der Bierfabrik, Pan Tereschko, gelenkt wurde. Schon in jungen Jahren schwärmte ich für Pferde, und als man mich fragte, was ich einmal werden wolle, antwortete ich ohne zu überlegen: "Tereschko"! Ich erinnere mich auch noch an eine Episode - ein Feiertag, der für uns Kinder den Aufenthalt auf der Datscha beendete. Mit Verkleiden, einer Art Maskerade, mit ausgehöhlten Kürbissen und Kerzen, die man darin aufgestellt hatte, um die in den Kürbis geschnittenen Öffnungen zu erleuchten: Augen, Nase, Mund, mit denen wir dann die ganze Nacht herumliefen, denn an diesem Tag war uns alles erlaubt.

Noch eine weitere Beschäftugung war das Laien-Theater, in dem erfolgreich meine Schwester Musja (wir nannten sie Busja, was auf Polnisch "Mündchen mit Bäckchen" bedeutet), und ich auch, auftraten. Dann fiel auch die Entscheidung über mein Rollenfach - der Tanz.

Ab 1940 trat ich in der Laienspielgruppe, im Tanzkreis, erfolgreich im Palast der Pioniere auf, war außerdem ein ordentlicher Trommler in einer Gruppe und sogar Dirigent des Pionier-Schlagzeugorchesters am 1. Maifeiertag. Auch erinnere ich mich daran, daß ich, bereits in Perm, mit den Erwachsenen die Frage entschied, ob ich in die Ballettschule eintreten sollte oder nicht. Ausschlaggebend war meine Meinung und noch mehr – meine geringe Größe.

Ich erzähle so viel und so genau aus meiner „polnischen“ Kindheit, da ich annehme, daß sich viele Menschen für die Lebensweise und Mentalität von jüdischen Kindern im damaligen „Herrschafts-Polen“ interessieren; allgemein Kinder in einem durchschnittlichen und längst noch nicht fortschrittlichen kapitalistischen Land.

Was brachte mir die „polnische“ (besser gesagt: die nicht-sowjetische) Erziehung? Ein ausge-prägtes Gefühl der eigenen Würde (auf Polnisch „chonorovocti“), bei einer nicht weniger starken Empfindung für die Achtung auch eines jeden anderen Menschen. Heftiges Unwohlsein gegenüber Ungerechtigkeiten, die sich auf nationalem, aber auch auf jedem anderen beliebigen Boden, zutrugen, und Verständnis für die Individualität eines jeden Menschen, sein Recht auf eigene Meinung und eigene Handlungen.

Im Jahr 1939, nach dem Einmarsch der Hitlertruppen in Polen, wurde Polen bekanntlich wieder geteilt und die West-Ukraine wurde von der Roten Armee eingenommen. In der Folge, nach einem Volksentscheid, wurde die West-Ukraine in die Sowjetunion eingegliedert.

1940 wurden wir alle in eine Klasse der russischen, verstaatlichten Schule (wieder in die 4.) hinuntergestuft. Der Unterricht wurde in der für uns neuen russischen Sprache abgehalten, ich hatte Ukrainisch gelernt, und vom Altjüdischen blieb nichts im Gedächtnis zurück.

Einige unserer reichen Altersgenossen verschwanden (sie wurden zusammen mit ihren Eltern gewaltsam in die Tiefen Rußlands verschleppt), und wir wurden mitgerissen von kommunisti-schen Ideen allgemeiner Gleichheit und des Kollektivismus, wurden Pioniere und verbrachten einen großen Teil unserer Freizeit in Versammlungen, mit Märschen und anderen Maßnah-men zur Vorbereitung der „weltweiten Erlangung des Kommunismus“.

Das Jahr 1941 wurde, mit dem Einmarsch Hitlers in die Sowjetunion, das letzte Jahr meiner sorgenfreien Kindheit. Meine Familie hatte das Glück, daß mein Vater in die „Führungs-kader“ aufrückte: zuerst als stellvertretender Direktor der verstaatlichten Bierbrauerei, später arbeitete er in einem Sonderbetrieb des NKWD, in dem Verteidigungsanlagen hergestellt wurden, für die es leider in der Folgezeit keine Verwendung gab.

Wir erhielten die Erlaubnis zur Ausreise – über die alte Grenze zwischen Polen und der Ukraine, die bis dahin geschlossen war, und wurden dann mit unserer gesamten nicht sehr großen Familie zuerst nach Kiew evakuiert, später mit einem Güterzug an die Wolga – nach Duchownizk im Gebiet Saratow, und schließlich, einen Monat später, nach Perm, wo bereits seit vorrevolutionären Zeiten Mutters Schwester Ljubow (Tochter von Moishe) Truschinskaja lebte. Dort, in Rowno, blieben die Großmutter, Tanten und Onkel, Vettern und eine Vielzahl enger Freunde, Mitschüler und Altersgenossen unserer recht glücklichen Kindheit zurück.

Es blieben auch einige Mädchen zurück, denen ich damals meine ersten Zuneigungen entgegen gebracht hatte oder denen ich sympathisch gewesen war. Leider kamen sie alle durch die Hände von Henkern, vollkommenen Ignoranten und Unmenschen ums Leben, die sich einbildeten, daß die Zugehörigkeit zu verschiedenen Nationalitäten oder religiösen Glaubensrichtungen der Rechtfertigung von Überlegenheit und Verfolgung der jeweils anderen dienen konnte. Und es handelte sich nicht nur um Deutsche. Und nicht nur damals!

Meine Lieben, Verwandte wie Nahestehende, liebe Freunde meiner Kindheit, die ihr so frühzeitig und sinnlos von Henkershänden ums Leben gebracht wurdet! Ich kann Euch nicht mehr alle namentlich erinnern, obwohl mir das Gedächtnis schon so oft versagt hat, und ich fühle mich schuldig, daß ich mich erst so spät an die Erfüllung meiner Pflicht begeben habe.

Nun, Sturmglocken, ertönt! Liebe Oma Deborah, geliebte Tante Rosa, Tante Sonja, Tante Berta, Onkel Motl, Vettern Esja, Wowa und Schmilek! Meine lieben Freunde und Kameraden Menus, Tsessik, Isja Fischbein (mit dem Vater nach Kasachstan verschleppt), Aronek, Itzek und viele andere! Meine lieben, sympathischen und geliebten Freundinnen Wassja, Ilka, Bronja, Bljuma! Ewiges Andenken werde Euch zuteil, Euch reinen und unschuldigen, wundervollen Menschenöhnen und –töchtern vom Stamme Israel! Euch zahlreichen, die ihr nicht die Süße und Bitterkeit der Pflichten und ein oft unnützes Leben genießen konntet!

Verzeiht uns, die wir durch den Willen des Schicksals am Leben geblieben sind! Euch sei ewiges Gedenken!

KNABENJAHRE

Perm erwies sich als eine stagnierende Stadt, wenngleich es eigentlich ein Kreisstädtchen war. Die Häuser sind zum größten Teil aus Holz, mit ein oder zwei Stockwerken, sehen dörflich aus. Hölzerne Bürgersteige. Wir blieben bei einer Tante, in einem Haus mit vier Zimmern, die irgendwann einmal ihrer Familie gehört hatten, in der oberen Etage. Jetzt wurden zwei Zimmer von fremden Leuten bewohnt, ein Zimmer von der Tante, dem Onkel und Kusine Vera, und das vierte – von unserer Familie. So begannen meine Knabenjahre.

Schnell wurde mit den Kindern auf unserem Hof Bekanntschaft geschlossen. Das Kommando führte dort Adjan. Ein kräftiger Bursche und zukünftiger professioneller Dieb.

Daraus läßt sich schließen, daß die Kinder im Hof sich nicht besonders durch ihre Erziehung unterschieden, und das war wohl für ganz Perm charakteristisch. Und für alle „Länder des siegreichen Proletariats“. Äußerlich – aufgeblasene Rhetorik mit Eigenlob und anderen Ritualen, und innen spießbürgerliche Moral vor dem Hintergrund einer lumpenproletarischen Anschauung.

Ich wurde sogleich auf meine Standhaftigkeit getestet, die Fähigkeit „aufs Kreuz zu legen“, das heißt mich mit Altersgenossen zu prügeln, und wurde in die Hof- und Gauner-Gruppe aufgenommen. Aber meine Diebeserfahrung endete sehr schnell, als ich bei dem Versuch einer Tante etwas aus dem Korb zu klauen, ich befand mich auf der Straße, gleich neben unserem Hof, von erwachsenen Männern gejagt und erwischt wurde und unter Umzingelung der gaffenden Menschenmenge einem Milizionär übergeben wurde.

Verheult schwor ich meinem Vater nie wieder zu stehlen, und das Versprechen hielt ich wohl auch (ich wurde jedenfalls nie wieder bei der Polizei auffällig, wurde nicht aufgrund eines politischen Paragraphen vorbestraft, und Dinge, die an meinem Arbeitsplatz schlecht ver-steckt waren und herumlagen, habe ich nicht mitgenommen).

Die besondere Freundschaft mit den Kindern des Hofes wurde unterbrochen, die Schulzeit rückte heran, und ich lenkte meine Interessen auf die Schulfreunde- und kameraden. Ich wurde in die 6. Klasse der Schule Nr. 17 eingeschrieben und ging ab 1. September 1941 zum Unterricht. Wir freundeten uns mit den Jungen Baschkirzew, Morosow, Wagner, Nathan Smolnikow, Chora Sacharow, und den Mädchen Ada Wassiljewa, Lilja Tschernjak und Serebrjakowa an.

Es kam der rauhe Krieg, es herrschten Hunger und Kälte. Und außer mit Lernen beschäftigten wir uns in der Pioniertruppe mit dem Sammeln von Schrott, mit der organisierten Löschung kleiner Ladungen von Lastkähnen (zu unserem Glück waren dies getrocknete Plattfischchen aus Astrachan und Ölkuchen), und kollektiven Märschen in die Badeanstalt mit gleichzeitiger Untersuchung auf Läuse.

Natürlich gab es auch lichte Momente in diesen schweren Kriegszeiten, zum Beispiel Gemeinschaftsbesuche im Kino, Abendveranstaltungen zum Neuen Jahr und der Jahrestag der Oktober-Revolution.

Besondere Erinnerungen an irgendeinen unserer Lehrer habe ich nicht. Ich lernte mittelmäßig, am meisten war ich, wie auch schon früher, den exakten Wissenschaften zugetan. Mühelos lernte ich die deutsche Sprache (die Kenntnis des Jüdischen half mir dabei), aber ich haßte sie ebenso wie die anderen Kinder. Zoologie mochte ich nicht. Eine weitere angenehme Erinne-rung aus jenen Zeiten stellt meine Teilnahme im Laien-Kinderorchester am Kinotheater „Stern“ dar (heute steht dort das Geschäft „Ozean“), und nachdem man mich dort fortgejgt hatte, weil ich in den Kinosaal gegangen war (um mir einen Film umsonst anzusehen) – beim Klub des NKWD, der auch in der Nähe unseres Hauses lag, neben der Feuerwehr, hinter dem Okulow-Platz, wo in der Stadt die Festtagsdemonstrationen sowie alle möglichen Proben dafür vorbeiführten, und wir anstelle des Schulunterrichts stundenlang unter der Führung des militärischen Leiters marschierten und „Hurra!“ schrien.

Das Mitwirken in den Laienspielgruppen (Trommel, Kastanietten, Tanz)) mit Auftritten in Lazaretten, Klubs und Schulen gab mir eine große geistige Befriedigung und brachte auch eine gewisse Unterstützung in der Ernährung mit sich (nach den Konzerten, besonders in den Lazaretten, kehrten wir mit Paketen und Geschenken beladen nach Hause zurück und waren glücklich). 1941 meldeten sich alle Jungs unserer Klasse im Schützenverein, im „Dynamo“-Stadion an. Ich beendete erfolgreich den Kurs zur Ausbildung im Schießen aus Kleinkaliber-gewehren, fiel aber im Umgang mit Pistolen völlig durch: meine körperliche Kondition erwies sich als unzureichend.

Im Sommer, nach Beendigung der 6. Klasse, fuhren die meisten von uns zu landwirtschaft-lichen Arbeiten auf eine Kolchose. Das war im Ochansker Kreis.

Ich war glücklich, als die Kolochos-Brigadeführerin mich zum wendigsten (und wahrschein-lich auch schwächsten) Pferdetreiber ernannte. Ich war bei der Heumahd dabei und streute Mist auf die Felder.

Ich erinnere mich auch noch daran, wie eines Tages meine einträgliche Stute inmitten von Bäumen mit einer Fuhre Mist hochging, und nur das „qualifizierte“ Einschreiten des alten Großvaters, der auf einem Erdhügel vorm Haus saß und schlimme Schimpfwörter ausstieß, konnte die Stute dazu bewegen, ihren Weg fortzusetzen. Auf diese Weise begriff ich die Wirklichkeit des Alltagslebens auf dem Lande.

Ferner erinnerte ich mich noch an eine Episode, wo wir gekochte Tauben aßen (die Kolchos-Ration erwies sich für uns als unzureichend) und an die Rückkehr mit dem Nachtdampfer nach Perm, das fröhliche Treffen mit Mama, meiner selbstlosen, liebevollen und geliebten Mama.

Es war eine schwierige, aber glückliche Zeit, als wir alle an einem Strang zogen, mit ein und derselben Leidenschaft, als die propagandistische, Losung der Staatsmacht „Alles für die Front, alle für den Sieg“ einem jeden ganz von selbst entschlüpfte. Nie wieder habe ich eine solche Einigkeit mit dem Volk und seinen „Führern“ erlebt. Und das war eine Folge des großen Hasses auf die Faschisten.

Das Jahr 1942 war das schwierigste in unserem Leben, sowohl in materieller als auch in moralischer Hinsicht. Wir hatten uns daran gewöhnt, halbverhungert und schlecht gekleidet zu sein (die Hälfte des sehr kalten Winters lief ich in einfachen Schnürschuhen und einer Schul-Schirmmütze finnischer Art herum, bis es Papa gelang, mir Filzstiefel und eine Mütze mit Ohrenklappen zu kaufen), aber sich an unsere Niederlage an der Front, den Rückzug, zu gewöhnen – das war unmöglich.

Das widersprach vollkommen der traditionellen Rhetorik und Selbstverherrlichung, die in der Gesellschaft herrschten. Natürlich veranlaßte mich meine vorausgegangene „nicht traditio-nelle“ Erziehung, mich kritisch gegenüber den Worten und Wahlsprüchen zu verhalten, aber vor dem Krieg, angefangen mit dem Jahr 1939, hatte ich, wie auch die meisten meiner Altersgenossen, mit ganzem Herzen die Ideen und den Glauben an eine helle kommunistische Zukunft der Menschheit in mich aufgenommen. Leider! Die Utopie, die sogar von der Mehrheit des Volkes, welches des Lesens und Schreibens nur unzureichend mächtig und übertölpelt worden war, blieb eine Utopie.

Es kam das Jahr 1942, es kam der Sieg bei Stalingrad, und wir bereiteten uns auf die Prüfun-gen zum Abschluß der 7-Klassen-Mittelschule vor. Außerdem wollten alle Jungs aus unsere Klasse unbedingt nach dem 7. Schuljahr auf die Ochansker Sommer-Fachschule. Und wir reichten alle einen Antrag bei der Aufnahme-Kommission ein.

Ich schaffte es nicht wegen meiner Größe, andere aus für mich nicht sichtbaren Gründen, außer einem Jungen, der für die Klasse schon zu alt war, weil er wegen des Krieges zwei Schuljahre versäumt hatte und bei uns im Herbst 1942 auftauchte. Er war ein ganz erwachsener Bursche, klug, sportlich, kompetent (seinen Nachnamen habe ich vergessen), und wir beneideten ihn unheimlich.

Der Frühling, der nach unserem Verständnis herannahende Sieg und die Zeit erregten in uns ein ganz neues, fast geheimnisvolles Gefühl. Ich verliebte mich in Musja Strunina. Sie war aus Moskau evakuiert worden, ein sehr eigensinniges Mädchen, beinahe häßlich, eine fanatische Theaterliebhaberin. Na, und da staunt man! In ihr gab es irgendein verborgenes, gewisses Etwas, einen Zauber, der, wie es schien, nicht nur mich mit sich riß, sondern auch Nathan Smolnikow.

Dieser rothaarige Schönling, breitschultrig, kernig, nicht so einer wie ich, konnte von mir keine Gegenliebe erwarten. Und wir, als Freunde, beendeten unseren Bund mit ihm und liefen stattdessen überall Musja hinterher, folgten ihr häufig in die Grünanlagen am Theater, schrie-ben zusammen Liebesbriefe und stellten uns ihr zur Wahl! Aber Musja entschied sich für Nellep – Solist an der Leningrader Oper, die nach Perm evakuiert worden war, wo er nun auf unserer Bühne glänzte.

Ich fürchte, daß auch ihre Liebe unerwidert blieb. Nach der siebten Klasse bewahrte ich noch ein Jahr lang meiner, man kann sagen, ersten Liebe die Treue. Dann legte sich der Schmerz (der Verdruß) und geriet in Vergessenheit. Wie Natan mit dem „Kummer“ fertig wurde, weiß ich nicht. Denn nach Abschluß der siebten Klasse brachte das Schicksal uns alle, Mädchen sowie Jungen, nach verschiedenen Seiten auseinander. Mit den meisten von ihnen kamen wir leider nie mehr zusammen.

Ich komme auch nicht umhin, mich an Lilja Tschernjak zu erinnern, eine markante Jüdin mit wunderschönen, großen, schwarzen Augen, klug, aber ein wenig melancholisch. Sie saß auf der Schulbank vor mir, zusammen mit der schönen Ada Wassiljewa, und es war ihre Angewohnheit, ganz zu mir gewendet dazusitzen und zu schauen ... auf mich. Ja, sie war in mich verliebt, was sie mit später gestand.

Mein armes Mädchen! Ich Dummkopf war bereit, sowohl mit ihr als auch mit Ada befreundet zu sein, „liebte aber eine andere“. Ich fand noch nicht einmal ein paar gute Worte für sie, selbst nach vielen Jahren, als wir uns einmal zufällig in einem Trolleybus wiedertrafen.

1942 entschloß sich Stalin für getrennten Unterricht: Mädchen- und Jungen-Schulen.

Das sollte die Militarisierung der Schulen und eine spartanische Erziehung der Jungs fördern. Die Schule Nr. 17 wurde zur Mädchenschule, und ich kam an die Schule Nr. 21, in die 8. Klasse. Die Atmosphäre in der Jungenschule unterschied sich durch Rowdytum, bis hin zu Messerstechereien in den jüngeren Klassen, ein anderes Niveau, anderen Intellekt und andere Interessen der Lernenden. Ich freundete mich mit Jura Fedotow, Slawa Pawlow und Wadim Jumschanow an.

Jura und ich kamen uns auf dem Sportplatz näher, wir beide spielten in der Jugend-Fußballmannschaft „Dynamo“, wohnten nebeneinander, ich Ecke Kommunistitscheskaja-Straße und Komsomolskij-Prospekt, und Jura auf dem Gelände der Tabakfabrik, die man aus Moskau hierher evakuiert hatte, wo sein Vater Direktor gewesen war.

Die Freundschaft mit Wadim und Slawa bildete die Grundlage weitreichenderer Tragödien in meinem Leben, die Schaffung eines „antisowjetischen Kreises“ und die „nahe Bekanntschaft“ mit der Verwaltung des KGB in Perm.

In der achten Klasse gab es auch viele jüdische Jungen, intelligent, klug, talentiert.

Mulja Deitsch und Mulja Melzer, beide aus Kiew. Der erstgenannte – ein zukünftiger großer Gelehrter, Akademiker oder Professor. Der beste und aufgeweckteste Schüler unserer Klasse. Der zweite, etwas rowdyhaft, führte all unsere guten und schlechten Taten an, unverkennbar für eine zukünftige große Führungsposition geeignet.

Und dann gab es noch Nimzowitsch (den Vornamen habe ich vergessen), sehr talentiert, der beste Schachspieler in der Klasse, aber auch ein nicht ganz einfacher und recht eingebildeter Junge. Von ihm entwickelte ich meine Liebe zum Schachspiel und hatte damit auch ein wenig Erfolg.

Beide Muljas verschwanden nach der 8. Klasse aus meinem Blickfeld, denn sie kehrten nach Kiew zurück.

Die achte Klasse erinnert mich auch an eine ausgezeichnete, ältere Lehrerin für Literatur, die wir sehr gern mochten, ebenso wie das Unterrichtsfach selbst, an meine aktive Teilnahme am Sportleben im „Dynamo“-Stadion , an meine Freundschaft mit Jura Fedotow, Sascha Skljarow und Mädchen aus dem Stadion, und in eines von ihnen, Slata, so scheint es, verliebte ich mich sogar. Es war eine vorübergehende, nicht gefestigte gegenseitige Sympathie, die aus von uns unabhängigen Gründen ihr Ende fand. Ich dachte oft an dich, Slata, du entzückendes Kind jüdischer Eltern, und wünschte dir viel Glück. Ob dieser Wunsch in Erfüllung ging?

Ein bemerkenswertes Ereignis in der 8. Klasse war die „Epopöe“ mit der „freiwilligen Einberufung“ von Schülern zur Fabrik- und Werksausbildung. Freiwillig wollte niemand. Schließlich lernten in der 8. Klasse die meisten Kinder, weil sie damit rechneten, den gehobenen Bildungsweg zu gehen.

Aus diesem Grunde gingen die Behörden zu „freiwilligen Zwangsmethoden“ über.

Auf inoffiziellen und streng geheimen Rat des Direktors wurde die Mehrheit von uns „krank“ (mit entsprechenden Bescheinigungen, die von den Eltern ausgestellt wurden). Und als wir dann in die Klasse zurückkehrten, so ungefähr nach 15 Tagen, da war praktisch schon alles wieder in Ordnung und die Wella der „maßnahmen“ hatte sich gelegt. Wir setzten den Unterricht fort. Zu den Novemberfeiertagen im Jahre 1943 brachte die Rote Armee dem sowjetischen Volk ein großartiges Geschenk dar: die Befreiung der Stadt Kiew. Ich erinnere unsere Begeisterung, als während der Geschichtsstunde Mulja Melzer in die Klasse stürmte und uns davon in Kenntnis setzte. Natürlich ließen wir den Rest der Stunde ausfallen.

Zu dieser Zeit begriffen wir mit Begeisterung und Genugtuung, daß unser SIEG bereits unabwendbar war, daß wir leben würden, daß uns die versprochene glückliche Zukunft erwarten würde. Und niemand dachte darüber nach, zu welchem Preis wir dies alles erreichen und inwieweit unsere Kinderträume wahr würden.

Für meine Tante und den Onkel war dieser Preis der Tod ihres Sohnes bei Kiew anläßlich der Überwindung des Dnjepr, meines Vetters Semjon, einem Panzersoldaten, der freiwillig von der Arbeiterfakultät an die Front gegangen war. Für unsere Familie bedeutete dieser Preis die eingehenden Nachrichten vom unschuldigen Tod aller uns Nahestehenden und aller Freunde und Bekannten in Rowno.

Die rauhe Lebenswahrheit vermischte sich mit der phantastischen Ideologie und dem rücksichtslosen Übersohrhauen des Volkes und erschütterte allmählich den Glauben, rief Verdruß hervor und warf unendlich viele Fragen auf.

Nach der achten Klasse ereignete sich noch eine „Umorganisation“. Die Schule Nr. 21, die „für ihr Rowdytum bekannt“ war, wurde merklich gesäubert. Jura Fedotow, Slawa Pawlow, Wadim Jumschanow und ich kamen in die zehnte Klasse der Schule Nr. 11. Von Sascha Skljarow, mit dem ich mich in diesem Sommer noch besser angefreundet hatte, mußte ich mich für immer trennen, da seine Eltern in eine andere Stadt umzogen. Zwei weitere Mit-schüler gingen nach der achten Klasse sogleich auf die Hochschule: Grischa Gerschuni an die staatliche Universität und Lenja Goldschmidt ans Medinstitut. Beide wurden später große Professoren und bewiesen damit jene Nichtnotwendigkeit eines vollendeten Mittelschulab-schlusses für die erfolgreiche Fortführung des Studiums an der Hochschule. Natürlich unter der Voraussetzung, daß ungewöhnliche Fähigkeiten vorhanden waren und gute „Beziehun-gen“. Mit Gerschuni treffen wir uns heute noch gelegentlich, und ich habe ihm sehr viel zu verdanken.

In der achten Klasse erfolgte mein Beitritt zum Komsomol (Kommunistischer Jugendver-band). Fast die ganze Klasse trat ihm bei, und es war für uns ein ganz großes Ereignis. Das Leben wurde ein wenig erwachsener, es entstanden neue Verpflichtungen, zum Beispiel die des Pionierleiters, Nachtdienst in der Schule unter Leitung des Wehrführers, mit echten Gewehren und Militärdisziplin.

Die früher praktizierten "lockeren“, rowdyhaften Streiche hörten auf, darunter auch der kriminelle Zeitvertreib mit dem „Angrapschen“ von Mädchen in dunklen Straßen und Höfen, wohin wir uns nach der Schule mit der ganzen Schar, unter der Führung von Melzer, begaben, und Deitsch und Nimzowitsch traten als „Befreier“ in Erscheinung, worauf wir unter allge-meinem Gelächter die begonnende „Sache“ fortführten.

Dieses Phänomen zeugte von der herannahenden Pubertät und dem Gemütszustand, der unter den Jugendlichen von Perm herrschte. Zu unserem Glück hörten diese Spaziergänge auf, bevor die Miliz uns erwischte, aber mehr als flüchtige Angst flößten wir den Mädels ja sowieso nicht ein.

Im Sommer, nach der 8. Klasse, gelang es Papa, für mich einen Berechtigungsschein für einen Platz im Kindersanatorium zu bekommen, der in dem Dorf Baschkultajewo zur Verfügung gestellt wurde. Der Aufenthalt dort ist mir in angenehmer Erinnerung geblieben, besonders die gute Verpflegung und die Mädchen, mit denen ich mich anfreundete, wenn auch nur für kurze Zeit. Wir gingen gruppenweise zu Gemeinschaftsbesuchen in die Ortschaft Mully. Mit einem Trompeter und unter Trommelwirbel. Uns kam ein Kolchos-Fuhrwerk entgegen, das von zwei Frauen gelenkt wurde. Und die Pferde gingen vor Angst durch. Ohne nachzuden-ken sprang ich ihnen entgegen und brachte sie zum Stehen. Ich war selbst überrascht, wieso mir das gelingen konnte, aber ich handelte tatsächlich in ganz selbstloser Weise. So wurde ich zum Helden des Tages und zum Objekt der Anbetung einiger Mädchen. Unter ihnen befand sich eine ukrainische Schönheit, älter als ich, die im Sanatorium als Pionierleiterin fungierte. Die von uns ins Auge gefaßte Freundschaft wurde entschieden unterbunden, und zwar zuerst an Ort und Stelle von dem älteren Pionierführer, einem baumstarken Flegel, der sich in sie verliebt hatte und mir gegenüber Methoden der Einflußnahme in Form von echter Folter mittels „Strick und Stock“ sowie Knebel anwandte, und dann, als wir versuchten uns in Perm zu treffen, von ihrer Mama, die sich geschworen hatte, daß ein Jude nur über ihre (Mamas) Leiche in Frage kam.

Eine meiner weiteren Leidenschaften im Sanatorium wurde Wjetka, aber ich legte offenbar keine ausreichende Beharrlichkeit an den Tag, um mich mit ihr anzufreunden, denn ich dachte dabei an eine andere. Schade. Zu den männlichen Bewohnern des Sanatoriums, mit dem alten Pionierführer an der Spitze, hegte ich keinerlei Sympathien. Außer zum Organisator im Kul-turbereich, einem ausgewachsenen schönen Mann, Bajanspieler, Sportler, unserem allgemei-nen Liebling. Nach seiner Erzählung befand er sich hier nach dem Frontdienst und einer leichten Verwundung zur Erholung.

Was für einen Schock erlitten wir alle, als er vor unseren Augen von den „Organen“ verhaftet wurde. Später erzählte man uns, daß er Anführer einer Bande gewesen sei, die vor kurzem eine Bank in Perm überfallen hatte. Inwieweit dies der Wahrheit entsprach vermag ich nicht zu sagen. Wir trauerten ein Weilchen ..... und vergaßen den Vorfall.

1944 kamen wir erneut an eine andere Schule. Die Schule Nr. 11, heute die „Djagilew“-Schule. Damals rief sich niemand ihren „Elite-Status“ ins Gedächtnis. Bereits die 9. Klasse verpflichtete zu einer etwas erwachseneren Verhaltensweise. Und unsere Einstellung zum Lernen, zu den Lehrern wurde ziemlich ernst.

Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an Mjeliza (Tochter von Peter) Sokolowa, unsere Klassenleiterin, Mathematik-Lehrerin. Sie war auch unsere Physik-Lehrerin (jung und damals schwanger), die in mir ein noch größeres Interesse und Liebe zur Mathematik und Physik hervorrief. Ich träumte davon Physik-Gelehrter, Atomwissenschaftler und Astronom zu werden. Leider gestattete es mir das Schicksal nicht, höher als zum Wissenschaftler für angewandte Geophysik aufzusteigen.

Die neunte Klasse war erfüllt von Lernen, Sport (außer Spielen mit Jura Fedotow in der Jugend-Fußballmannschaft wurde weiter Volleyball im „Dynamo“-Stadion gespielt), ehrenamtlichen Arbeiten im Schülerrat. Aber am wichtigsten und entscheidensten war das Warten auf den SIEG.

Und dann war es soweit! An jenem 9. Mai 1945 spielte das Radio seit den frühen Morgen-stunden Siegesmärsche. Jura Fedotow kam angelaufen, und wir liefen zusammen zu Jumschanow und Pawlow, und anschließend in die Schule, wo man uns mitteilte, daß der Unterricht ausfiele. Voller Begeisterung rannten wir durch die Stadt, von einem Orchester zum anderen, von einem improvisiert aufgebauten Tanzplatz zum nächsten. Es herrschte allgemeine Freude, allgemeiner Jubel, allgemeiner SIEG!

Es dröhnten Pauken und Trommeln, die SIEGES-Parade marschierte auf dem Roten Platz auf. Amerika hatte die Atombombe über Hiroshima abgeworfen, und wir griffen in Erfüllung der mit den Verbündeten getroffenen Vereinbarungen Japan an und vernichteten es, aus Dankbar-keit für seine standhafte Neutralität in den für uns so schweren Jahren. Stalin lobte uns auch, die „kleinen Schräubchen“ (das heißt das sowjetische Volk), wegen ihrer Mitwirkung am davongetragenen Sieg, und ich dachte immer häufiger darüber nach, weshalb wir trotz des Sieges so schlecht leben, warum wir etwas so sagen und es dann ganz anders machen, warum wir uns selbst so skrupellos rühmten und Angst davor hatten, die Wahrheit auszusprechen.

Während der Sommerferien waren wir alle in Perm, beschäftigten uns mit Sport und einem Spiel, das Wadim Jumschanow sich ausgedacht hatte: wir teilten die Welt in politisch-ökonomische Blöcke, die gegenseitig Krieg gegeneinander führten. Es war ein halbwegs kindliches Spiel, welches jedoch auf dem Wissen um die politische und wirtschaftliche Geographie basierte. Sehr bald, als ich verhaftet wurde, hatte dieses Spiel Folgen für mich, weil es sich nämlich auf meine Haftdauer auswirkte.

Im Herbst bereiteten wir uns alle für die 10. Klasse an der Schule Nr. 11 vor; das war in jener Zeit die letzte Klasse der Oberschule. Aber das Schicksal ließ mich diese Schule nicht beenden. Ich habe bereits von meiner kritischen Einstellung gegenüber den Reizen der bolschewistischen Ideologie gesprochen, der Heuchelei und der Irreführung, welche alle Lebensbereiche des sowjetischen Volkes durchdrangen.

Die Gerüchte über den Blut-Terror drangen auch bis zu mir vor. Als anschauliches Beispiel für die Opfer des Regimes diente mein Onkel, der 1937 unter die Mühlsteine Jeschows geriet und sich im Ermittlungsverfahren auf eine Rolle als „Diversant“ gefaßt machen mußte, der die Absicht gehabt hatte, das Elektrizitätswerk zu sprengen, aber es gelang den „heldenmütigen“ Tschekisten nicht, ihn zu „mürbe zu machen“, und mit dem Erscheinen Berijas geriet der Onkel in die „frische Strömung“, mit der er aus dem Gefängnis hinausgefegt wurde. Der Onkel hatte unglaubliches Glück, obwohl er nach all dem, was er durchgemacht hatte, ein wenig „überschnappte“.

Wenn man die schrecklichen Mißerfolge in der Landwirtschaft, in der Wirtschaft und bei der Sicherstellung der Versorgung mit Massenbedarfsgütern in jener Zeit noch mit den Folgen des Krieges rechtfertigen konnte, so ließen sich die blühende Korruption, besonders in der Partei- und Beamten-Elite, die allgegenwärtige Vetternwirtschaft und die entsprechende öffentliche Moral in meinen Augen keinesfalls rechtfertigen.

Von diesem Tatbestand ausgehend, übervoll mit dem Gefühl von mangelnder Gerechtigkeit, von Kinderträumen und „Revolutionsgeist“, gründete ich auch die „Neue Kommunistische Partei für Gerechtigkeit“, die sich zusammensetzte aus: Isja Sekzer – dem Vorsitzenden, Slawa Pawlow, Wadja Jumschanow, Borja Bjelow und Dima Pleschkow, der später beitrat.

Wir anerkannten und bewahrten das Programm der WKPb (der Allrussischen Kommunisti-schen Partei der Bolschewiki) und machten uns daran, die Satzung zu überarbeiten. Unser erklärtes Ziel war es, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, die Korruption zu beseitigen und eine „wirkliche sozialistische“ Gesellschaft zu errichten. Unsere Methode war es, die Mehr-heit der Bevölkerung auf dem Propaganda- und Agitationswege für unsere Reihen zu gewinnen und die Beamtenelite aus dem Machtapparat hinauszuwerfen und zu beseitigen.

Über den Diktator verloren wir kein Wort. Die Angst vor ihm und seinem Unterdrückungs-system war so groß, daß wir uns schon intuitiv dazu entschlossen, ihm gegenüber keinerlei Stellung zu beziehen. Wir waren Dilettanten, wir hatten keine Vorstellung von den Grund-kenntnissen der Makroökonomie, von den grundlegenden Theorien wie man einen Staat regiert. Wir waren ganz einfach große Kinder, die ein großes, begeisterndes, in diesem Staat jedoch sehr gefährliches Spiel veranstalteten. Jedenfalls ich! Denn wie sich herausstellte waren zwei der fünf Mitglieder unserer „Partei“ (die später die Bezeichnung „antisowjetische Organisation“ erhielt) von Anfang an geheime Mitarbeiter des KGB. Darin lag nichts Widernatürliches: genau dieses war die Ausgangslage unser „fortschrittlichen sowjetischen Gesellschaft“.

Zwei Monate ließ man uns bestehen. Am 6. Dezember 1945, nach dem Tag der „Stali-nistischen Verfassung“, wurde ich verhaftet. Meine Knabenzeit endete, es begannn meine Jugendjahre und meine Lehrjahre im Lager.

MEINE LEHRJAHRE IM LAGER

(ERSTES, ZWEITES, DRITTES SEMESTER)

Am frühen Morgen des 6. Dezember verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zur Schule. Es war ganz dunkel. Ich war gerade in den Komsomolskij-Prospekt, zwischen der Straße des Kommunismus und der Leninstraße, eingebogen, da fingen zwei baumstarke Männer in Zivil an mir nachzujagen, und neben mir hielt ein Emka. Ich wurde festgehalten und ins Auto gezerrt. Ich war so erschrocken, daß ich noch nicht begriff, um was es hier eigentlich ging, riß mich los und rannte davon. Natürlich holten sie mich ein (etwa dort, wo sich heute die Rückseite des Zentral-Kaufhauses befindet) und stießen mich dann mit Hilfe eines Dritten ins Auto. Einer von der „Ergreifungsgruppe“ hob meine heruntergefallenen Schulbücher und Schreibhefte auf (es war gerade schick in Mode, ohne Aktenmappe zur Schule zu gehen), was mich ein wenig beruhigte, wenngleich ich während der nicht lange dauernden Fahrt immer wieder fragte: „Onkelchen, wohin bringt ihr mich?“ Als der Wagen hielt, kroch der älteste, der neben dem Fahrer gesessen hatte, heraus, stellte sich in Positur und sprach:“Es gibt da so eine Behörde – den KGB“

Ich wurde nach oben geführt und sogleich ins Kabinett des Leiters der Ermittlungsabteilung, Oberst Chezelius, gebracht. Wir „machten uns miteinander bekannt“. Er war ein hübscher Mann, etwa 35 Jahre alt. Ich erfuhr, daß ich ein Staatsverbrecher war, daß er selbst das Untersuchungsverfahren leiten würde und man mich im inneren Gefängnis des Permer KGB unterbringen würde, wo ich auch unverzüglich hingefahren wurde. Des weiteren erfuhr ich, daß Chezelius’ Sohn ebenfalls an der 11. Schule lernt und ich eine Erklärung abgeben sollte, weshalb ich „bei der Festnahme Widerstand geleistet“ hatte.

So begannen meine Tage im Gefängnis.Ich wurde in eine Zelle geführt. Ich erinnere mich an einen schmalen Korridor mit ungefähr zehn Metalltüren auf jeder Seite, mit Essensklappen und Gucklöchern, und am Ende des Ganges befand sich eine Toilette, in der Art wie man sie auch auf Bahnhöfen vorfindet, mit allen öffentlichen Vorrichtungen und mit Türen, die in zwei Höfe führten, wo die Häftlinge spazierengehen konnten. In der Zelle standen zwei Schlafstellen und zwischen ihnen ein Tischchen am Fenster, das mit einem sogenannten „Maulkorb“ versperrt war. Am Eingang, links – der unvermeidliche Latrinenkübel, und dann blieb noch ein wenig Platz, der ausreichte, um sich „die Beine zu vertreten“: zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück.

In diesem Käfig wurden noch zwei Menschen gehalten. Der eine stellte sich mir als Ingenieur aus Krasnokamsk vor, der andere – ein einfacher, ungebildeter Mann, war Bergarbeiter aus Kisel. Ihre Familiennamen nannten sie nicht.

Tagsüber saßen wir auf den Schlafstellen, wie in einem Zugabteil, zur Nacht rückten wir sie zusammen und schliefen „komfortabel“ darauf, ich als Jüngster (16 Jahre alt), der ich nachts nicht den Latrineneimer benutzen mußte - in der Mitte. Tagsüber zu schlafen war verboten, aber nachts schien das grelle Licht einer elektrischen, metallvergitterten Glühbirne uns unentwegt in die Augen. Daran gewöhnte ich mich jedoch schnell.

Zu den Verhören wurden die Verhafteten in der Regel am Tage gerufen (es machte sich die Nachsicht des Regimes gegenüber 1937 bemerkbar und eine gewisse Gutmütigkeit des Personals in Zusammenhang mit dem glücklichen Ausgang des Krieges). Bei den Verhören wurde ich keinen körperlichen Einwirkungen ausgesetzt, und auch die Zellengenossen beklagten sich nicht. Nur einmal konnte der „Bürger Chezelius“ meine Hartnäckigkeit nicht ertragen, sprang mit erhobenen Fäusten auf mich zu, beherrschte sich dann aber. Während der Verhöre führten wir mit ihm hauptsächlich ideologische Streitgespräche.

Ich verbarg meine „antisowjetischen“ Ansichten nicht, sondern behauptete vielmehr, daß ich im Recht wäre. Der Oberst brachte meine Antworten gewissenhaft zu Papier, fügte Wörter ein, wie z. B. „böswillig“, „in der Absicht, die Sowjetmacht zu verleumden“, und dergleichen mehr. Ich unterschrieb jede Seite und zwang ihn, diese Ausdrücke auszustreichen. Aber die ganze Verantwortung für unsere „Partei“ nahm ich auf mich.

So arbeiteten wir auf einer freundschaftlichen Basis, bis wir uns entzweiten, weil er versuchte, aus mir das Geständnis herauszupressen, daß mich die Erwachsenen angestiftet hätten. Da erklärte ich ihm stolz, daß ich selbst auf „alles“ gekommen war, nachdem ich unsere Wirk-lichkeit untersucht hatte. Chezelius versicherte mir, daß ich noch ein ganz und gar unerfah-rener junger Mensch sei und daß er mir mit Vergnügen den Hosenboden strammziehen und mich verprügeln würde. Daraufhin sprang ich empört auf und rief: „Das versuchen Sie mal!“ Chezelius sprang mit erhobenen Fäusten auf mich zu, aber ... das habe ich ja schon erzählt. Danach hörten seine Versuche auf, den Erwachsenen zu unterstellen, sie hätten mich ange-stiftet. Lange Zeit wunderte ich mich, warum das so war, warum die allmächtigen Organe noch nicht einmal versuchten, meinen Vater in diese Sache hineinzuziehen, warum sie so einfach einwilligten, die Angelegenheit mit mir allein auszumachen, und sonst niemanden zur Verantwortung zogen, obwohl sie mir die beiden Paragraphen 58-10 (Geschwätz – „antisowjetische Agitation“) und 58-11 („antisowjetische Organisation“) zuschrieben.

Dann begriff ich: das Gebietskomitee (Genosse Gussarow) war nicht daran interessiert, die Sache aufzubauschen und in allernächster Nähe abzuwickeln, inmitten sowjetischer Schüler und Komsomolzen (da kann man mal sehen, Genossen!). Und ich dankte Gott für meinen Vater, für meine Familie und für meine „Freunde und Mittäter“.

Erst nach vielen Jahren, als ich Einblick in meine Untersuchungsakte genommen hatte, erfuhr ich von jener Rolle, die zwei von ihnen gespielt hatten. Ich erfuhr ebenfalls, daß alle freund-schaftlich bemüht waren, mein Verschwinden nicht hervorzuheben, sondern darüber lediglich hinter vorgehaltenener Hand flüsterten. Das bestätigte meine Vermutung über die "Zentralver-waltung" des Gebietskomitees.

Wie ich hinterher begriff, waren die Behörden sogar bereit, mich für „psychisch krank“ zu erklären, und nach Abschluß der Ermittlungen wurde ich zur Erstellung eines gerichtsmedizi-nischen Gutachtens fortgebracht. Aber davon – später.

Ich saß eine zeitlang, bis Juli 1946, im inneren Gefängnis des KGB, mit einer einmonatigen Unterbrechung, als ich mich nämlich bei der psychiatrischen Untersuchung befand. Ziemlich schnell, bereits im Dezember 1945, wurde es mir gestattet, Pakete zu empfangen und meinen Vater in Chezelius’ Kabinett wiederzusehen. Der Vater fing an zu weinen, und ich erkannte erst da die ganze Tragweite der Tragödie, die sich in meinem Leben ereignet hatte. Aber es war bereits zu spät, und ich war auch weiterhin der Meinung, daß ich Recht hatte. Und das denke ich auch heute noch! (Und daß es dumm war!).

Ganz am Anfang geriet ich an einen mir wohlgesonenen, gönnerhaften Koch, einen einfachen Soldaten, der vor kurzem mit einer Oberkiefer-Verwundung aus dem Krieg zurückgekehrt war. Er bot mir immer einen Nachschlag vom 1. und 2. Gericht an; seine Sympathie und Aufmerksamkeit wiesen mir den Weg, und bis heute habe ich ihn in warmer Erinnerung.

Es ist unwichtig, daß er mich, als er entdeckte, daß ich die zusätzliche Ration unter allen Zellengenossen aufteilte, ausschimpfte und aufhörte, mir diese „humanitäre Hilfe zu erweisen.

Meine Zellenkameraden wechselten ständig; gewöhnlich waren wir zu zweit, aber einmal saß ich für etwa zwei Wochen allein in der Zelle. Diese Zeit fiel mit den Mai-Feiertagen zusam-men, ich hörte den Klang von Orchestern und den Gesang der Demonstranten, und eine unheimliche Schwermut ergriff mich. Ich heulte.

Dank sei Gott, der sich meiner erbarmte und mir einen Zellengenossen schickte, der bejahrt und sehr klug war. Vieles erklärte er mir, vieles lehrte er mich, aber hauptsächlich zeigte er mir richtiges, meisterhaftes Schachspielen, mit dem wir uns dank der Erlaubnis des Genossen Chezelius ständig beschäftigten.

Was geschah mit mir in der Klapsmühle? Wahrscheinlich befand sie sich dort, wo heute die psychiatrische Klinik des Gebietes steht (in der Straße der Revolution). Es war Sommer, und ich verbrachte die Tage in einem grünen Hof, der mit einem Stacheldrahtzaun umgeben war.

An Wachtürme kann ich mich nicht erinnern, aber anscheinend standen wir (die potentiell psychisch Kranken) unter ständiger Beobachtung.

Ich freundete mich mit einem erwachsenen Intellektuellen an, der mir gestand, daß „er vorgäbe verrückt zu sein“, und daß er von Zeit zu Zeit alles mögliche anrichtete. Er spielte auch nicht schlechter Schach als ich und spielte mit mir „um etwas“, z. B. um ein Ei, um Konfekt oder irgendetwas anderes Eßbares, das in den Paketen zu uns gelangte, die mir gelegentlich von meinen unglücklichen Eltern und ihm von seiner auch nicht glücklicheren Ehefrau geschickt wurden. Was aus ihm geworden ist, ob es ihm gelang, die „Wach-Psychiater“, die „Verwandten und Nahestehenden“ von Professor Serbskij hereinzulegen, weiß ich nicht, denn ich ging als erster von dort weg. Mir gelang es jedenfalls nicht, und ich bemühte mich auch nicht darum.

Es kam der Tag, an dem ich einer sachkundigen Kommission unter der Leitung von Professor

Salkind vorgeführt wurde. Von dieser ganzen Prozedur erinnere ich nur die letzte Frage: „Ihre Familie besitzt jetzt die Möglichkeit, nach Polen auszureisen. Willst du dahin zurückkehren?“ Und meine Antwort: „Nein, denn schließlich gibt es dort keinen Sozialismus!“ Darauf erwiderte der Professor: „Also bleibst du bisher hartnäckig dabei, daß es in der UdSSR keinen Sozialismus gibt. Geh!“

Bald schafften sie mich zurück ins Gefängnis. Wenn ich jetzt auf die gewesenen Ereignisse zurückblicke, danke ich Gott und Professor Salkind dafür, daß ich einer zwangsweisen Unterbringung sowie „Intensiv„-Behandlung in der psychiatrischen Heilanstalt entging. Lob sei Gott! Ehre und ein langes Leben dem Professor, sofern er noch lebt!

Ungefähr bis Ende Juni mußte ich mich im „heimatlichen“ Gefängnis "durchschlagen", beschäftigte mich nur mit Lesen, Schachspielen und Essen. Dann wurde ich zum Gefängnisleiter gerufen (wir hatten uns noch auf dem Weg zur Psychiatrie und zurück „angefreundet“), und er verlas mir gegen Quittung das Urteil des OSO (Sonderkollegium beim Minister für Innere Angelegenheiten): 3 Jahre Arbeitsbesserungslager mit allgemeiner Anstaltsordnung. Und er beglückwünschte mich zu einer derart „milden“ Entscheidung. Und die Wahrheit ist die: als ich mich vor kurzem mit meiner eigenen Strafakte vertraut machte, da erkannte ich, daß Genosse Chezelius, der die Akte an das Sonderkollegium geschickt hatte, 5 Jahre für mich gefordert hatte. Dankeschön, , daß ihr für einen jungen Burschen Mitleid hattet. Danke auch dem Schicksal, daß all dies nicht zu Zeiten der Kosmopoliten und Ärzte-Saboteure geschehen ist, sonst hätten sie mir noch viel mehr „aufgebrummt"!

Und dann werde ich ins Durchgangsgefängnis gebracht, Eine große Zelle, vollgestopft mit Menschen, durchgehende, hölzerne Pritschen, die von den halbnackten, schweißgebadeten Körpern glänzen. Mich nahm sofort ein „Patenonkel“ unter seine Fittiche, und ich richtete mich auf einer separaten Pritsche beim Fenster ein.

In dieser Hinsicht hatte ich Glück, trotz meiner Nationalität, meines Vor- und Familien-namens. Anscheinend erwiesen sich meine geringe Größe und der berühmte § 58 als günstig.

Etwa eine Woche lang lebte ich sorglos dahin, bis zu dem Zeitpunkt, als mich ein Beamter, offensichtlich der operative Bevollmächtigte, zu sich rief. Er verlangte von mir Informationen darüber, was in der Zelle gesprochen wurde, welche Verbrechen in Vorbereitung waren. Ich weigerte mich. Und der operative Bevollmächtigte war es auch, der mich dann in eine andere Zelle steckte – für Minderjährige. Sogleich wurden mir meine Stiefel weggenommen, welche Papa mir noch ins Untersuchungsgefängnis gebracht hatte. Dann wurde ich ein wenig geschlagen. Mich retteten „Romane“, die ich begann ihnen aus dem Gedächtnis vorzulesen (von Scott und Cooper).

Ich wurde ein „hochgeachteter Mensch“, konnte auf eine zusätzliche Essensration oder eine

Schüssel Suppe Anspruch erheben, durfte selbständig über die an mich geschickten Pakete verfügen (natürlich zusammen mit zwei Hehlern, welche die Zelle unter ihrer Fuchtel hatten).

Meine „Verschickungs“-Epopöe fand dank der Bemühungen meines Vaters ein Ende: ich wurde vom stellvertretenden Leiter des Lagerstützpunktes Nr. 1 aus der Zahl der anderen Spezialisten „ausgewählt“ (einer Industrie-Kolonie), die fast im Zentrum von Perm lag, an der Stelle, wo sich jetzt das Puppentheater befindet.

Leiter des Lagerstützpunktes war Leutnant W.W. Fudelman, und das half dem Vater ihn dazu zu bewegen (ich glaube, daß dies nicht uneigennützig geschah), „das Kind“ zu sich zu nehmen. Ein ausgewähltes Kontingent an Spezialisten (50 Leute, darunter 10 Minderjährige), die für die Produktion unbedingt erforderlich waren, wurde zusammengestellt, auf die Folgen einer etwaigen Flucht hingewiesen („ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach links – das gilt bereits als Fluchtversuch!“), und dann wurden wir aus dem Gefängnistor hinausgebracht. Begleitsoldaten mit Hunden führten uns durch die Straßen von Perm bis zum zukünftigen Puppentheater in der Karl-Marx-Straße.

So gelangte ich in die „privilegierte“ Industrie-Kolonie, wo ich auch meine gesamte restliche Haftstrafe verbüßte. Die Kolonie (Lagerstützpunkt) nahm ein ganzes Viertel zwischen der Karl-Marx-Straße und dem Gebäude der Zeitschrift "Swesda" ein und war in etwa zwei gleichgroße Zonen aufgeteilt, eine Wohn- und eine Betriebszone. Die Wohnzone begann an einem zweigeschossigen Verwaltungsgebäude. Unten befanden sich Doppeltore mit Verbindungstunneln, einer Durchgangssperre und einem Block mit Räumlichkeiten für die Wachmannschaft, die Einsatztruppe, der KWTsch (Kultur- und Erziehungsabteilung), Besucherzimmer, oben – die Büros der Leitung, ein Empfangszimmer, die Buchhaltung, die Versorgungs- und Verkaufsabteilung.

Dann kam ein Platz, der an einer Seite vom Essensblock, der „heiligen“ Brotschnei-demaschine und dem Eßraum begrenzt wurde, auf der anderen von einem zweistöckigen Gebäude: hier waren die medizinische und Sanitätsabteilung, die Räume des aus Gefangenen bestehenden Betriebsführungspersonals, eine Schneiderwerkstatt, in der für die Frauen der Leiter und den ganzen Kommandeursstab kostenlos genäht wurde. Jetzt existiert das Gebäude schon nicht mehr. Das gegenüberliegende Ende des Platzes vollendete ein eingeschossiges Gebäude mit einem daneben befindlichen Raum für Häftlinge sowie einem Karzer im Kellergeschoß, und des weiteren eine kleine Kommandantur für die inneren Lager-Wachen.

All das war von einem Zaun umschlossen, der die Betriebszone von der Wohnzone sowie der Wach- und Durchgangszone abtrennte. Der Platz diente zum Spazierengehen, zur Erholung (dort war ein Volleyball-Feld eingerichtet) und natürlich zur Durchführung des abendlichen Zählappells. Während der ersten Nacht schnitten in der Baracke, in die ich nach dem Gefan-genentransport gekommen war, „Minderjährige“ einem Urka (Dieb) die Kehle durch. Ich war von diesem Ereignis tief erschüttert. Und als die einflußreichen Polithäftlinge (im wesent-lichen Stammesverwandte) dies bemerkten, nahmen sie mich schnell aus der Baracke heraus, und ich fand mich plötzlich in einem Raum für Erwachsene.

In der zweiten Nacht wurde ich von einem Schlosser zur Arbeit in die Schlosserwerkstatt abkommandiert. Werkmeister der Nachtschicht war ein Gefangener, ein Jude aus Weißruß-land. Er händigte mir eine Feile aus, zeigte mir, wie man gegossene Rohlinge, Schlüsselbärte, glatthobelt, und verlangte, daß die Norm erfüllt wurde. Leider war ich aufgrund meiner genetischen Beschaffenheit nicht dafür geeignet, ausdruckslose körperliche Arbeiten zu verrichten, und dementsprechend beherrsche ich bis zum heutigen Tag weder das Schlosser-, noch das Zimmermanns-, noch das Tischlerhandwerk. Gegen Morgen brachte der Meister die Arbeit für mich zuende (und korrigierte die Fehler), und ich schlief unter der Werkbank.

Nach dem Mittagessen wurde ich in die Ausgabestelle für Kleider, Schuhe, usw. gerufen. So lernte ich Jean Feldman kennen, der mein Freund, Kamerad und Beschützer wurde. Er war ein junger, hübscher, äußerst belesener rumänisch-jüdischer Intelligenzler, natürlich nach § 58 und zu einer Lagerhaft von 10 Jahren verurteilt. Mit seiner Unterkunft hatte er, nach lager-mäßigem Verständnis außergewöhnliches Glück, denn er wohnte in dem zweiten Raum der Wäsche- und Kleiderkammer und "ließ sich dort keine grauen Haare wachsen"; das Essen wurde ihm vom "Herrentisch nach Hause" gebracht, und freie Lohn-Angestellte eilten zu ihm in die Ausgabestelle "zum Empfang". Er war der alleinige Verfügungsberechtigte über das dortige gesamte Hab und Gut, angefangen von Bettwäsche bis hin zu Pelzmänteln und Pelz-jacken., und nach dem Krieg war das eine sehr geschätzte Sache.

Als erstes fragte Jean mich über alles aus, danach spielten wir zusammen eine Partie Schach, die er verlor (später verlor er fast nie mehr).

Später bestellte man Sjunja Gelman, den Leiter der Elektrowerkstatt, in die Ausgabestelle, und ich wurde zum Elektro-Lehrling bestimmt. Von allen mir nahestehenden Menschen, die meine Freunde, Kameraden, wohlwollenden Lehrausbilder wurden, und nicht nur Juden, sondern auch Russen und Ukrainer, wurde Sinowij Gelman mir der liebste. Er stammte aus Odessa, war ungewöhnlich klug, mit gutmütigen, Glanz und Wärme ausstrahlenden Augen!

In ihm lag eine eigentümliche Anziehungskraft, irgendein unverständlicher Charme. Nicht umsonst war die junge verheiratete Leiterin der medizinischen und Sanitätsabteilung unsterb-lich in ihn verliebt. Es tut mir sehr leid, daß ihre Liebe ein tragisches Ende nahm und die Frau gezwungen war, ihre Arbeitsstelle zu verlassen.

Sinowij war kein Politischer, sondern wegen undurchsichtigen Unternehmertums verurteilt worden (man darf nicht vergessen, daß er aus Odessa kam, außergewöhnlich klug, findig und professional). Heutzutage hätte er sich damit gut weiterentfalten können, aber nun ist es zu spät. Damals war er etwa 30-35 Jahre alt. Mir gegenüber zeigte er Humor, sogar mit einer gewissen Ironie, denn offenbar hieß er meine schlechte Eignung zu körperlicher Arbeit nicht gut. Aber was ihn friedlich stimmte war meine Auffassungsgabe, Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit beim Volleyballspielen! Und er selbst spielte ausgezeichnet und mit großer Begeisterung.

Bereits am zweiten Tag meines Erscheinens in der Kolonie erhielt ich die Möglichkeit, meine Volleyball-Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Dabei reichte ich nicht einmal bis zum oberen Netzrand, war lediglich als Verteidiger und als Aufschlag-Spieler eingesetzt. So hatte sich das eingespielt: ich "arbeitete" immer mit zwei Stürmern, rechts - Sinowij, und auf der anderen Seite ein Linkshänder, ebenfalls mein ständiger Partner (den Familiennamen habe ich vergessen).

Ich muß auch vom Fußball erzählen. Bald darauf tauchten bei uns zwei Fußballspieler auf. Einer war der ältere der beiden berühmten Starostin-Brüder, Alexander, der andere ein junger Georgier, "Kazo" - ehemaliger Spieler von "Dynamo Tbilissi".

Starostin, der von Beruf Buchhalter und als solcher hier auch eingetragen war, befand sich nicht mehr unter der Aufsicht von Begleitsoldaten und trainierte die Mannschaft von "Dynamo". Jeden Tag begab er sich zweimal "zur Arbeit" und kehrte erst nachts zurück. Wir lernten uns kennen, als die Spieler an den freien Tagen dem Ball nachrannten. Als kostbare Reliquie hatte ich aus der Kolonie ein Lehrbuch über Fußballspielen mitgenommen, das man mir einmal zum Geschenk gemacht hatte und das eine Widmung von Alexander Starostin enthielt: "Für Isa Sekzer, dem zukünftigen Sportmeister vom ehemaligen". Wer konnte damals annehmen, daß diese Prophezeihung sich nicht bewahrheiten würde: ich werde kein Sportmeister, und und der verdiente Titel geht ruhmreich an Starostin zurück.

Wenn wir spielten, waren gewöhnlich auch Starostin, "Kazo" (sofern sie gerade vom großen Fußball abkömmlich waren) und mein Lehrer, der Elektroschlosser Sascha Kartaschew, dabei.

Ein ganz junger Arbeitskumpel, nichtpolitischer Krimineller, lehrte mich in der Elektrowerk-statt, wie man die Anlasser durchgebrannter Motoren aufspult. Bald hatte ich mit Müh und Not gelernt, wie die Anlasser von Großmotoren aufgespult werden, aber die kleinen bekam ich einfach nicht hin, denn sie erforderten eine wahre Juweliersarbeit der Hände, und das traute man mir nicht zu. Die Berechnungen für die Wicklung nahm Gelman vor und das Sagen hatte in der Werkstatt der Meister Djatschenko, ein geselliger und guter Mensch.

Etwa nach einem Jahr wurde ich zu einer Arbeit für "Einfältige" versetzt, auf den Platz eines Büroschreibers in der Abteilung für Versorgung und Verkauf, nachdem der bis dahin dort tätige Grischin in die Freiheit entlassen worden war. Mit Grischin, einem jungen Mann, Buchhalter von Beruf, führte mich später das Schicksal erneut in die Verbannung nach Sibirien. Nachdem ich von Jean Feldman das Arbeitsangebot erhalten hatte, beriet ich mich mit Gelman, und jener meinte, daß aus mir sowieso kein "Arbeitstier" werden würde - und so gab er sein Einverständnis für meine Versetzung.

Auch mein unmittelbarer Erzieher und Vormund Borja Lawotschkin (in seiner Eigenschaft als "älterer Bruder") erklärte sich damit einverstanden. Er war sechs Jahre älter als ich. In den Kriegsjahren geriet er unter Besatzung, verheimlichte seine Nationalität, was nicht schwierig war, denn er war flachsblond und sah überhaupt nicht wie ein Jude aus, und mußte notgedrungen bei den Deutschen als Übersetzer arbeiten. So bewahrte er nach der Befreiung von den Deutschen zwar sein Leben, nicht jedoch seine Freiheit, sondern wurde im Jahre 1945 nach § 58 zu 5 Jahren verurteilt. Ich freundete mich schnell mit ihm an, und einen Monat nach meiner Ankunft in der Kolonie nahm er mich mit dem Einverständnis aller leitenden Politbrüder zu sich in die Zelle, wo die Produktionsleiter untergebracht waren, natürlich - auf den oberen Pritschen. Er arbeitete als Vorgesetzter im Produktionsbereich

(als Haupt-Verantwortlicher für die zentrale Lenkung des Arbeitsablaufs und der Planer-füllung), besaß einen sehr ruhigen, ausgeglichenen Charakter und genoß, ungeachtet seiner Jugend, eine verdiente Autorität. Ich will noch hervorheben, daß ich in der Produktions-kolonie lediglich Borja Lawotschkin kein einziges Mal fluchen hörte. Bald lernte ich auch Boris' Eltern und Schwester Musja kennen.

Zwischen ihnen (Boris und Musja) entstand Sympathie (oder Liebe?), die jedoch aus einem mir nicht bekannten Grund nach meiner Freilassung aus der Kolonie aufhörte. Auf diese Weise verbrachte ich in der Umgebung einer großen Anzahl wunderbarer, wohlwollender Menschen meine Haftstrafe in der Produktionskolonie (Sub-Lagerstützpunkt) No.1.

Mein unmittelbarer Vorgesetzter in der Abteilung war Moisej Boris Rosow, ein ziemlich weicher Mann (§58, 10 Jahre), der von vielen Kränkungen erfuhr, darunter auch von Leutnant Fudelman. Als wegen irgendwelcher Machenschaften der stellvertretende Direktor der Kamsker Reederei Abowitsch in die Kolonie kam, wurde Rosow sofort in den Stellvertreter-posten versetzt, als Abowitsch von dort fortging, kehrte er wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurück. Als man den in freiem Arbeitsverhältnis stehenden Lagerleiter Schestopal in seinem Amt befördern mußte, wurde Rosow erneut nur Stellvertreter! Er tat mir leid, ich sah in ihm einen einzigen Mängel: aus seinem Mund kam ständig ein schrecklicher Tabakgeruch und selbst ich, der eine tüchtige Vorliebe zum Rauchen hatte, konnte das nicht ertragen.

Ich befaßte mich in der Abteilung mit der Erfassung der vorhandenen Rohstoffe und Zulie-

ferteile für die Produktion, mußte Rosow täglich Meldung über die Reste und die bestellten, zu erwartenden Anlieferungen machen, derartige Auskünfte für Fudelman in einem extra dafür angelegten Journal vorzeigen, Buch über die fertiggestellte Produktion führen, Aufträge ausfüllen sowie deren Verladung entsprechend der geplanten Zuteilung im GULag, aber auch für einmalige Lieferungen disponieren.

In der Kolonie wurden Nägel in verschiednen Größen, gußeiserne Fleischwölfe, Hänge- und Möbelschlösser und andere Gußeisenteile hergestellt.

Am unangenehmsten war für mich die Verpflichtung, am frühen Morgen das Inventurbuch im Empfangszimmer Fudelmans abzuliefern. Dort saß eine strenge und peinlich genaue Sekre-tärin, wenngleich sie noch jung und auch nicht ohne Humor war. Sie begrüßte mich stets mit den Worten: "Ah, der Häftling, der Häftling ist da!" Ich wartete auf ihre Rückkehr aus dem Arbeitszimmer und war froh, wenn sie mir das Journal zurückgab, ohne daß ich dort noch einmal persönlich erscheinen mußte. In solchen Fällen erhielt ich strenge Verweise, wenn irgendetwas nicht richtig gelaufen war, und den Befehl, sofort in Rosows Kabinett vorstellig zu werden. Gott sei Dank passierte das selten. Jetzt begreife ich, daß Fudelman nicht so bösartig und streng war wie er immer schien, er war einfach, wie die meisten anderen auch, ein ziemlicher Feigling, besonders weil er (und obwohl er) seinen Stammesverwandten, deren Schicksal in seiner Macht lag, half so gut es ging. Ich weiß, daß er schon lange tot ist. Friede seiner Asche!

Mit Wärme im Herzen erinnere ich mich an viele Häftlinge, die um mich herum waren: den Leiter der Schneiderwerkstatt, ein schon älterer polnischer Jude namens Faler (er verhielt sich mir gegenüber liebevoll, jungenhaft und hatte es stets darauf abgesehen, mir in die Wange zu kneifen, wenn ich zu ihm zu Besuch kam), den stellvertretenden Hauptbuchhalter Melnikow, ein sehr intelligenter und gebildeter Mensch, der praktisch der Buchhaltung unter dem im freien Arbeitsverhältnis stehenden Leiter voranstand, der ausgezeichnet Schach spielte, aber beim Spiel mit mir oft verlor, den älteren Haupt-Mechaniker Michalew, der später ein Mäd-hen namens Schura heiratete, die als Zwangsarbeiterin in unserer Kolonie war, und viele andere.

Mit Schura passierte mir eine Geschichte, die mir bis heute in trauriger und bedauernswerter Erinnerung geblieben ist. Schura arbeitete in unserer Abteilung in der Versorgung für Verla-dearbeiter zusammen mit ein paar anderen Mädchen. Sie war älter als ich, Ende des Krieges hatte sie an der Front als Sanitäterin gedient und eine kleine Verwundung an der Wange erlitten. Als die Mädchen in unsere Abteilung kamen, flirteten wir natürlich mit ihnen und foppten uns gegenseitig. Ich widmete Schura die meiste Aufmerksamkeit, denn sie gefiel mir besser als die anderen, und ganz besonders ihre Bescheidenheit.

Und erst nach meiner Freilassung erfuhr ich, daß Schura in mich verliebt gewesen und sogar zu Mama nach Hause gefahren war. Die Mutter erzählte mir davon und drängte darauf, daß ich Schura wiedersehen sollte. Zu jener Zeit hatte sie ihre Frist bereits abgearbeitet und war jetzt bei der "Altmetallsammlung".

Ich traf mich mit ihr, bat um Verzeihung, daß ich ihr umsonst den Kopf verdreht hatte, denn auch mich wartete noch das nicht leichte Schicksal eines ehemaligen Strafgefangenen. Natürlich liebte ich Schura nicht, aber sie tat mir sehr leid. Nach fünfundvierzig Jahren trafen wir uns wieder. Sie kam extra ins Zentrum für Kulturangelegenheiten, wo wir die Sprech-stunde für Opfer politischer Repressionen abhielten. Ich weiß nicht, wie sie es empfand, aber ich freute mich über unser Wiedersehen und die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Bekannten. Ich erfuhr von ihrem Schicksal, darüber, daß sie Sergej Davidowitsch Michalew geheiratet hatte, daß er verstorben war und sie Kinder und Enkel hatten. Ich erzählte Schura von meinen Wanderschaften und meinem nicht leichten Los. Und wir verabschiedeten uns, wie sich herausstellen sollte, für immer.

Es kam das Jahr 1948, meine Freilassung rückte näher. Aber die junge Leiterin der Sonder-Abteilung teilte Jean Feldman mit, daß eine Anweisung ergangen war, mich anstelle der Freilassung in Verbannung zu schicken, zur Sonderzwangsansiedlung in die Region Krasnojarsk. Der Vater setzte alle in Bewegung, die er nur konnte, und auf Beschluß der Gebietsstaatsanwaltschaft, unter Berücksichtigung meines Alters und meines vorbildlichen Verhaltens, wurde ich dann trotzdem in die Freiheit entlassen!

Natürlich gaben sie mir 24 Stunden Zeit, um mich aus dem Permer Verwaltungsordnungs-bereich davonzumachen, wobei ich mit dem Verbot belegt wurde, in keiner Gebiets-, Regions- oder anderen zentralen Stadt meinen Wohnsitz zu beziehen. Daher mußte ich am zweiten Tag vorübergehend bei der Tante Wohnung nehmen, wo ich mich ganze zehn Tage lang „durchschlug“. Ich erinnere mich an die Abendspaziergänge mit Pawel Kalenjuk, dem Mann von Kusine Vera, Militär-Flugmechaniker von Beruf, der im Jahre 1943 die Kriegs-

marine- und Flugtechnische Fachschule in Perm abgeschlossen hatte, an interessante Unter-haltungen über das Leben, über den Krieg. Mein lieber Pawel Emeljanowitsch! Du warst mir immer ein Freund, und ich habe unsere Freundschaft zutiefst geschätzt. Es tut mir so leid, daß das Leben mit dir so hart umgegangen ist, daß es aus dir einen Krüppel gemacht und dich gezwungen hat, Perm zu verlassen, in die Heimat, nach Lwow, zurückzukehren und dort in der Umgebung von Menschen zu leben, die deiner Ideologie gegenüber feindlich gestimmt waren.

Ich mußte mein Leben ordnen, ungeachtet der mir bevorstehenden Hindernisse, des mir aufgedrückten Stempels eines Andersdenkenden und des Paß-Paragraphen 5, der mich als Andersgläubiger auswies. Ich war 19 Jahre alt, hatte neun Jahre Oberschul-Bildung hinter mir, na, und natürlich die dreijährige Lager-„Universität“.

In der Kolonie unternahm ich den Versuch, meine Ausbildung durch Fernunterricht fortzu-setzen, was mir auch von höchster Stelle genehmigt wurde; bald vernachlässigte ich das Lernen jedoch wieder. Vor noch nicht langer Zeit war mir der Gedankengang eines Akade-mikers ins Auge gefallen, daß nämlich geniale Menschen teilweise Faulenzer sein können. Also, was diesen Teil betrifft, so erwies ich mich im Leben als supergenial. Offenbar hat eben diese Vorsilbe „super“ sowie einige weiter oben aufgezählte Kleinigkeiten, mich daran gehindert mein eigentlich vorhandenes Potential vollständig zu realsieren.

Somit entschied der Familienrat, daß es für mich weitaus realer wäre, ein Studium an irgendeinem Technikum in einem Klein-Städtchen aufzunehmen, in der Nähe von Perm.

Papa brachte mich zuerst nach Krasnokamsk, an das Technikum für Zellulose und Papier.

In der Stadt wohnten Bekannte des Vaters, bei denen ich unterkommen konnte, und die ein Empfehlungsschreiben von der Geschäftsleitung des Krasnowischersker Zellulose- und Papierkombinates besaßen, in dessen Permer Filiale der Vater tätig war. Aber der Direktor des Technikums bekam es aus den oben genannten Umständen „mit der Angst zu tun“ , und nahm mich mitten im Schuljahr weder ins erste noch ins zweite Semester auf.

Dann fuhren wir nach Krasnowischersk. Ich erinnere mich, daß auf dem Bahnhof Perm-I ein Bahn-Milizionär wichtigtuerisch den Bahnsteig auf und ab lief, bekleidet mit einem kaukasischen Filzumhang und einer hohen Pelzmütze, und ich wie ein Blatt im Herbstwind erzitterte: denn plötzlich kontrollierte er die Papiere. In Krasnowischersk wurde ich in das zweite Studienjahr eingeschrieben und bekam Quartier bei einem von Papas Bekannten, dessen Sohn Tolja in dem gleichen Kurs studierte. Am dritten Tag konnte Papa nach Hause fahren.

Es kam die zweite Dezemberhälfte; für Januar standen die Prüfungen zum ersten Semester an und ich machte mich mit unbändigem Eifer daran, mich in allgemeinenbildenden Disziplinen festzubeißen, z. B. in höherer Mathematik sowie in Zellulose- und Papier-Lehre. Alles war für mich neu, aber mein scharfer Verstand und mein gutes Gedächtnis ließen mich nicht im Stich: ich bestand alle Examina und Prüfungen mit Erfolg, unter anderem die in analytischer Chemie, was genauso schwierig war wie die anderen Fächer. Und zum ersten und letzten Mal im Leben erhielt ich ein Lehr-Stipendium.

Leider war Tolja, mit dem ich mich angefreundet hatte, was die Faulheit anging, noch „genialer“ als ich, und schloß seine Prüfungen nicht in allen Fächern gut ab. Ich konnte es mir erlauben, zusammen mit den Studienkameraden an der Neujahrsfeier 1949 teilzunehmen, wo ich zum ersten Mal, bis zur Bewußtlosigkeit, einen aufgesetzten Wein probierte, auf einem Schachturnier bei den Technikumsmeisterschaften mitspielte, wo ich den zweiten Platz belegte, und mich am Neujahrsabend mit Henrietta Tschepurnowa anfreundete, einem lieben Mädchen, im gleichen Alter wie ich, die im 3. Semester am Technikum studierte und die ich aufgrund ihrer inneren und äußeren Schönheit, ihrer außerordentlichen Güte und moralischen Reinheit sehr liebgewann.

Doch das Schicksal vergönnte es mir nicht, Heta zu heiraten oder Technologe in der Zellulose- und Papierherstellung zu werden. Mitte Januar, während der Ferien, als ich nicht zu Hause war, erschien ein Milizionär und hinterließ eine Vorladung: ich sollte mich beim Leiter der Miliz-Behörde melden. Am nächsten Tag begab ich mich, ohne irgendeinen Verdacht zu schöpfen, dort hin und vernahm den Beschluß über meine Verhaftung und Verschickung in die Verbannung an einen Bestimmungsort – in der Region Krasnojarsk.

Ich durfte mich nicht einmal mehr von meinen Freunden und Bekannten, von Heta, verab-schieden. Mich erwartete die Untersuchungszelle, der Gefangenentransport bis nach Solikamsk, anschließend die Fahrt im Stolypin-Waggon bis nach Perm und weiter, weiter ... So endete eine Seite meiner ruhelosen Jugendzeit, vor mir zeichnete sich die Romantik der Taiga, der „sibirischen Bergwerke“ und unbekannter Abenteuer ab!

MEIN VIERTES UND FÜNFTES LEHRJAHR IM LAGER

Im Stolypin-Waggon war es heiß und schwül. Wahrhaftig, bis Perm war er halb voll. Der Vater hat erzählt, daß er damals nach Perm-2 gelaufen ist und jenen Waggon sogar gesehen hat, der vom Solikamsker Passagierzug abgekoppelt worden war, aber näher ließ der Wach-posten ihn nicht heran.

Ich erinnere mich nicht daran, wie lange die gesamte Fahrt von Krasnowischersk bis nach Swerdlowsk dauerte, wo ich mich bald darauf im Transitgefängnis wiederfand. Unterwegs gab man uns (traditionsgemäß!) Brot und Hering zu essen, wir erhielten kaum Wasser, und ich hatte Hunger, quälenden Durst und war wütend auf die Begleitwachen. Bei der Ankunft im Gefängnis, als wir der Form halber gefragt wurden, ob wir keine Beschwerden hätten, sagte ich, doch, die hätten wir. Der Leutnant wunderte sich sehr, hörte sich aber alles an, und nachdem wir, die in die Verbannung Geschickten, in einer großen Zelle untergebracht worden waren, setzte man uns eine Ration Brot sowie einen Krug mit stark gesüßtem Tee vor, was uns sehr gelegen kam, denn für die weitere Verpflegung waren wir eigentlich erst zum Mittagessen am nächsten Tag eingeplant.

Im Swerdlowsker Etappengefängnis verbrachten wir beinahe einen halben Monat, bis der Gefangenentransport nach Krasnojarsk vollständig war. Hier erfuhr ich von dem berühmten Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 21. Februar 1948 über „die Verschickung von besonders gefährlichen Staatsverbrechern zur Verbüßung einer Verban-nungsstrafe in weit abgelegenen Orten der UdSSR“. In der zweiten Februarhälfte wurden wir erneut in Stolypin-Waggons verladen und nach Krasnojarsk gebracht.

David Mironowitsch BazerDas Krasnojarsker Etappengefängnis unterschied sich wenig von dem in Swerdlowsk. Auch hier verbrachte ich etwa einen halben Monat, bis man den Gefangenentransport an die Angara zusammengestellt hatte. Hier stieß ich auf Menschen, die in meinem weiteren Schicksal eine große Rolle spielen sollten, die sich auf väterliche Weise um mich kümmerten und mir einiges aus dem Leben beibrachten, bis zum Jahr 1954 und meiner Rückkehr mit Walja, meiner Ehefrau von der Angara, und Töchterchen Ljubischka nach Perm. Das waren (ja, meine Stammesverwandten) Berniker, Ingenieur und Mechaniker, ehemaliger Direktor der Fabrik, und David Mironowitsch Bazer, von Beruf Buchhalter, Menschewik, der bis in unsere Tage lebte (hauptsächlich in Gefängnissen, Lagern und in der Verbannung), alle beide äußerst intelligente, belesene Leute.

Anfang März 1949 verlud man uns endlich in zwei Maschinen vom Typ Douglas und brachte uns per Sonderflug an die Angara, in die Ortschaft Motygino. Die Landung erfolgte gerade-wegs auf dem Eis der Angara. Anschließend wurden wir auf Studebekker-Lastwagen ver-frachtet, und gegen Abend waren wir schon in Kirgitej, einer kleinen Siedlung unweit vom Endziel unserer Reise – den Siedlungen Nischne-Angarsk oder Ussowo – benannt nach dem Wissenschaftler, der hier Eisenerz-Vorkommen (Hämatit) entdeckt hatte.

Am folgenden Tag wurde eine berufsmäßige Auswahl getroffen , und gegen Abend kamen wir in Ussowo an. Jeder von uns war für eine bestimmte Arbeit und Unterkunft eingeteilt. Ich gehörte zu den unqualifizierten Arbeitskräften und wurde einem jungen Bohrarbeiter an einem kleinen Schürfbohrloch zugeordnet: in der Siedlung war die Nischne-Angarsker Geologie- und Schürfexpedition des „Jenissejstroj“ des MWD der UdSSR untergebracht. Die Bohrleute wurden, ebenso wie ich, in einem Zelt für zehn Personen untergebracht, mit einem eisernen „Kanonen“-Ofen in der Mitte (es war März und man hatte keine sibirische Kälte mehr erwartet).

Am nächsten Morgen, schon vor Tau und Tag, fanden sich unsere Bohrmeister ein und führten jeden zu seinem Bohrloch, von denen die meisten in der Taiga, in einem Umkreis von 2-3 km von der Siedlung entfernt lagen. Mein Bohrgerät, ein KAM-300, wurde bei Bohrun-gen bis zu einer Tiefe von 50-100 m eingesetzt und von zwei Leuten bedient: meinem Vorge-setzten und mir. Er, ein junger, nicht sehr hochgewachsener Bursche, war der wendigere von uns beiden und besaß die größere körperliche Kraft, ich – Hilfsarbeiter.

Meine Aufgabe war es, beim Herunterlassen des Gerätes die drei Meter langen Bohrstangen am Bagger anzubringen – an einen Spezialverschluß am Ende der Fördertrosse, sie zusam-menzuschrauben und anschließend das herabgelassene Gerät auf eine spezielle Gabel zu montieren.

Beim Hochziehen des Gerätes erfolgte dann alles in umgekehrter Reihenfolge. Natürlich war eine derartige Arbeit für mich keineswegs zufriedenstellend. Zudem war ich in der ersten Zeit vollkommen auf Hungerration gesetzt: eigenes Geld hatte ich nicht, und verdient hatte ich bislang noch kein neues. Berniker half mir aus der Not. Fast einen halben Monat lang fütterte er mich durch, solange ich noch kein Paket vom Vater erhalten hatte, und das erkenne ich in großer Dankbarkeit an. In der Tat, gab es zum Mittagessen in der Kantine nichts weiter als Suppe und Kascha (Brei) zu essen, aber hier hatte ich ja schon keine andere Wahl.

Vom „Arbeitslohn“ vergnügte ich mich. Als erstes bestellte ich in der Kantine eine Standard-portion Hochprozentigen (und in unseren Kreisen gab es nur Hochprozentigen, Cognac *** und „sowjetischen Champagner“) – d.h. 40 Gramm. Danach verlief der ganze Abend sehr fröhlich, und ich wurde von den strengen Zivil-Bediensteten der Miliz von diesem Tanzabend nach Hause begleitet.

Sehr schnell hatte ich mich in der Siedlung eingelebt, fing an, bei einer Laienspielgruppe mitzumachen (Tanzkreis), wurde Stammgast bei Tanzabenden im Siedlungsklub und trat zunächst der 1. Volleyball- und danach der Fußballmannschaft unserer Siedlung bei. Natürlich nahm ich an Schachturnieren teil, die im Klub veranstaltet wurden, und war dort ungeschlagener Meister.

Schnell fanden sich Freunde auf dem Sportplatz ein und Freundinnen beim Tanz. Ich schrieb an Heta, erklärte ihr meine Lage, das Gefühl in der ewigen Situation eines Verbannten zu sein und bat sie dafür um Verzeihung, daß ich ihre Hoffnungen nicht erfüllt hatte. In dem Gefühl selbstloser Liebe und aller guten Wünsche für Hetas Glück schlug ich ihr auf ziemlich harte Weise vor, unsere Freundschaft zu beenden. Und das Leben in der Verbannung nahm seinen Gang. Ich lernte Morduchaj Issakowitsch Singalowskij kennen, einen Warschauer, Fernmel-de-Ingenieur, der ebenfalls nach Verbüßung einer Lagerhaftstrafe in die Region Krasnojarsk in die Verbannung geschickt worden war. Er war Leiter der Fernmeldestation und, weil er im Lager im Bereich der geologischen Erkundungen gearbeitet hatte, schlug er dem Chef-Geologen der Expedition Iwantschenko (er war Spezialist, ein kulturell veranlagter Mensch, der früher die Expedition geleitet hatte, aber in Zusammenhang mit ihrer Verlegung in den Zuständigkeitsbereich des MWD war er an die Stelle eines einfachen Majors der inneren Truppen Pankows gerückt) vor, bei den Sucharbeiten nach Hämatit die elektrische Schürf-methode auszuprobieren.

Morduchaj Issakowitsch Singalowskij Anfang Juni wurde eine geophsikalische Gruppe unter der Leitung Singalowskijs zusam-mengestellt, und er nahm mich zu sich. Ich erhielt die Aufgabe, den Umgang mit einem Rechenschieber zu erlernen, und schon bald nahm ich damit Berechnungen vor.

Die ursprüngliche Truppe bestand aus 7 Leuten – Feldvermesser und zwei Leute, welche die Ergebnisse der Bodenmessungen auswerteten.

Diese Arbeit gefiel mir. Ich liebte die Taiga, obwohl es mühsam war, sich durch den weichen, stark amortisierten Moosbelag fortzubewegen, mit dem die ganze Taiga bedeckt war.

Eine große Zerreißprobe für die Selbstbeherrschung waren die Kriebelmücken, welche die Taiga gänzlich ausfüllten und bei einigen Leuten das Fleisch bis fast auf die Knochen weg-fraßen, besonders an Stellen, wie zum Beispiel zwischen den Fingern. In dieser Beziehung war Gott mir gnädig und ich überstand die Berührung mit diesen Kriebelmücken verhältnis-mäßig leicht.

Natürlich konnte man ohne Mückenschutzmittel nur in der Siedlung herumlaufen (dort wehte ein stärkerer Wind), aber keineswegs bevor es anfing zu regnen, wenn die Kriebelmücken in dichten Schwärmen die Luft erfüllten und in Mund, Nase, Augen und Ohren eindrangen.

Dafür waren die Waldzecken überhaupt nicht mit dem Erreger der Enzaphalitis infiziert, so daß ihr Biß zwar für gewöhnlich recht unangenehm, jedoch nicht gefährlich war.

Im ersten Sommer arbeitete unsere Truppe bei der Elektroprofilierung unweit der Siedlung in speziell durch die Taiga geschlagenen Querschnitten, die durch Stockmarkierungen und Ein-kerbungen an den Bäumen gekennzeichnet waren (hier standen hauptsächlich Fichten, Lärchen – ebenfalls eine große Nadelbaumart, und Tannen; äußerst selten traf man hier Birken an, es gab aber auch Zirbelkiefern), und an den bereits vorhandenen Abbaustellen entlang liefen: beim Schürfen der schmalen Gräben konnte man schon das Hämatit-Erz und die Mischgesteinsschichten (Argillit, Aleurolith, mitunter Ur-Basalt und Granit) erkennen, und nach den Ergebnissen der elektrogeologischen Vermessungen (Elektro-Querschnittsmes-sungen), wurden diese dann angebunden an bereits vorhandene geologische Schürfungen. Eine solche Arbeit gestattete es uns, jeden Tag in die Siedlung zurückzukehren und voll-wertige Erholung (Sport, Tanz, Schachspiel, Laienspielgruppen) in Anspruch zu nehmen. Und ich freundete mich nicht nur mit Sportkameraden und Laienspiel-Mitgliedern, sondern auch mit Arbeitskollegen an.

Stanislaw Iwanowitsch KowalewskijAnfangs waren wir 5 Leute: Ilja Bachur, ehemaliger Chauffeur für irgendeine einflußreiche Parteipersönlichkeit in Minsk, wofür er dann mit Lagerhaft büßen mußte, etwa 35 Jahre alt und von uns allen am praktischsten veranlagt; Stanislaw Iwanowitsch Kowalewskij, der älteste von uns, ungefähr 45-50 Jahre alt, den das Leben weise gemacht hatte und der die Lagerhaftstrafe für seine „Zusammenarbeit mit den Deutschen“ verbüßte (sofern man ihm glauben kann – und ich glaubte ihm, denn er war ein sehr aufrichtiger, feinfühliger, freund-schaftliebender Mensch, und diese „Zusammenarbeit“ bestand lediglich in seiner Arbeit als Hausmeister beim Magistrat); Willi Grobmann, Deutscher, Ingenieur, etwa 35 Jahre alt, der mit einer Anzahl Spezialisten in die Sowjetunion geraten war, die Hitler 1939 gemäß dem Molotow-Ribbentrop-Pakt zur Unterstützung Stalins dorthin entsendet hatte, und der dann 1941 weiter, geradewegs ins Lager geschickt wurde und dann zu uns kam – in die Verban-nung, ein sehr treuherziger Mensch, der sich an unser russisches Gemüt überhaupt nicht anpassen konnte, ein ehrlicher und zuverlässiger Kamerad; Jura Kuluntschakow, der im gleichen Alter war wie ich und mir als Freund am nächsten stand – er war nach der Verteilung der Studenten aus dem Technikum in Aschchabad zu uns gekommen; und ich.

Ilja, Jura und ich ließen uns ab dem Herbst zusammen in einem Balkenhaus nieder, das Ilja ekauft hatte, und lebten in einer Gemeinschaft. Manchmal tranken wir zusammen, und schnell lernte ich diese „Kunst“. Im Winter des Jahres 1949-1950 arbeiteten bei uns bereits zwei Elektroschürf-Trupps (Kuluntschakow und Simonow), und Singalowskij wurde Gruppenleiter und saß zuhause.

Ich arbeitete zusammen mit Jurij als Berechner und Stanislaw Iwanowitsch als Vor-Arbeiter. Er schleppte auf seinem Rücken zwei schwere Elektrobohr-Batterien und befehligte die Arbeiter. Durch die Taiga bewegten wir uns auf mit Hirschfell überzogenen, breiten Skiern vorwärts. Da wir nach Brigadenleistung (nach festgelegten Preisen für jede Schürfstelle) bezahlt wurden, begannen wir zunächst nicht mit 7, sondern nur mit 6 Leuten zu arbeiten; ich erledigte sowohl die Berechnungen als auch die Arbeit an der nahegelegenen Meßelektrode.

Dadurch konnten wir mehr verdienen. Bei uns in der Laborabteilung arbeitete Anelja, eine junge, verbannte Litauerin. Unsere ganze Jugend war hinter ihr her, aber sie war streng-gläubige Katholikin und wartete auf „ihren“ Bräutigam.

Ein Ereignis dieses Winters war die kurzfristige Entsendung unserer Gruppe in die Tiefe der Taiga, ins Sewernij-Revier. Zuerst brachte man uns mit der gesamten Ausrüstung auf Traktoren-Schlitten fort, und wir übernachteten mitten im Schnee in Fellschlafsäcken: wir brachen Zweige von den Nadelbäumen für unsere Schlafstellen ab, entfachten ein Lagerfeuer und, was das wichtigste war, heizten uns gut von „innen“ ein. Was haben wir gelacht als sich herausstellte, daß der Schlafsack für Stanislaw Iwanowitsch viel zu „klein“ war und unser ganzer betrunkener Haufen ihn kaum dort hineingestopft bekam.

Noch ein großes Ereignis in meinem weiteren Leben war die Bekanntschaft mit Ulman, einem verbannten litauischen Juden, der die Versorgungsabteilung leitete und eine zeitlang in der Sonderbaracke (ein langgezogenes, solide gebautes, einstöckiges Gebäude aus Holz, mit einem Korridor in der gesamten Länge und auf beiden Seiten getrennten „Wohnungen“, die aus einem Zimmer und einer Küche bestanden) für leitende und in freiem Arbeitsverhältnis stehende Arbeiter lebte. Er war leidenschaftlicher, jedoch nicht sehr starker Preference-Spieler.

Also, er und Kirow – ein verbannter Geologe und Erdölfachmann, der auch in jenem Haus wohnte, machten sich daran, mir in Ermangelung eines „Dritten“ dieses Kartenspiel beizu-bringen. Leider wollte niemand aus unserer Gemeinschaft sich den Spielern anschließen; ich wurde bereits beim folgenden Spiel für ausreichend spielreif befunden, und so veranstalteten wir ein regelmäßiges (wöchentliches) Dreiergespann, das nur gelegentlich zu einem Vierer wurde, wenn es einen gab, der mitmachen wollte. Schon sehr bald wurde ich in der Spielgruppe als Autorität anerkannt, besonders beim Austragen des sogenannten „Miser“-Spiels (bei dem die Pflicht besteht, auf keinen Fall eine Karte aufzunehmen). Das Preference-Spiel diente mir während der gesamten Verbannungsdauer in Sibirien zum Vergnügen, und auch später, als ich unter geologischen Feld-Bedingungen ohne Familie leben mußte. Ich muß noch sagen, daß wir immer nur um einen ganz kleinen Einsatz spielten, so daß man nur wenig gewinnen oder verlieren konnte. Es war auch ganz egal, denn jeder Gewinn kam „auf den Tisch“. Natürlich gaben wir etwas dazu und kauften normalerweise eine Flasche Cognac, und der Gastgeber der „Spiel“-Wohnung stellte einen kleinen Imbiß zurecht.

Im Frühjahr 1950 fuhr Singalowskij irgendwo hin und brachte bei seiner Rückkehr Lew Davidowitsch Pollak und dessen Ehefrau mit. Er war ein bekannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Strahlen-Chemie, der unter den Hammer des stalinistischen Systems geraten war und den das Schicksal ebenfalls in die Krasnojarsker Verbannung geführt hatte. Er wurde technischer Leiter unserer Gruppe und organisierte und verwirklichte wenig später im Handumdrehen die VES-Messung (vertikale elektrische Sondierung), mit der es möglich war, erzhaltige Schichten in großer Tiefe aufzuspüren. Lew Davidowitsch war sehr herrschsüchtig und duldete von niemandem auch nur den geringsten Widerspruch, und bald entstand zwischen ihm und mir aufgrund meines freiheitliebenden Charakters und meiner Dünkel ein Konflikt. Auf Befehl von Major Pankow wurde ich bestraft: ich wurde für die Dauer von zwei Monaten an eine Stelle als einfacher Arbeiter versetzt. Singalowskij und Pollak riefen mich „auf den Teppich“ zurück und schlugen einen „Kompromiß“ vor: ich arbeite weiter als tech-nischer Operator, bekomme dafür aber nur den Lohn eines Arbeiters. Ich war gezwungen mein Einverständnis zu geben. Aber meine Achtung vor dem einen oder anderen war erschüttert, und im weiteren Verlauf der Dinge versuchte ich, mich bei der ersten Möglichkeit aus ihrer Macht zu lösen.

Mit Major Pankow rechnete ich auf andere Weise ab. Als im Sommer 1950 in der Siedlung die Wahlen für die örtlichen Machtorgane stattfanden und die „hervorragende Parteipersön-lichkeit und der Spezialist“ Pankow als Deputat für meinen Bezirk gewählt wurde, da erklärte ich mit lauter Stimme, daß ich nicht für ihn stimmen und die 100%-Quote verhindern würde.

Dann brachten sie mich zum Wählen in einen anderen Bezirk. Übrigens erzählte man sich über diesen Pankow bei uns folgende Anekdote: als die Bohr-Brigaden die Verpflichtung auf sich genommen hatten, die maximale Förderung von 75% zu gewährleisten (unter der Voraus-setzung, daß es sich um bröckelige Erdschichten handelte), da soll der Vorgesetzte Pankow von ihnen verlangt haben, daß sie nicht weniger als 125% schafften.

Im März jenes Jahres widerfuhr uns ein denkwürdiges Ereignis: unter der Leitung Pollaks wurden geophysikalische Kurse für Anlagenbediener mit dem Spezialfach „technische Bedienung“ von Elektro- und Magnet-Förderanlagen“ organisiert. Ich beendete die Kurse mit Auszeichnung und begann nun schon auf gesetzlicher Grundlage als technischer Operator bei der Elektro-Bohrtruppe zu arbeiten, und ab Herbst 1950 – als technischer Haupt-Operator der Erdschichtenbestimmungsgruppe, welche elektrometrische Messungen in schmalen Spalten mit praktisch jenen Apparaten durchführte, die man auch bei Elektrobohrungen verwendet, sowie einem dreipoligen Kabel, das auf eine Winde aufgewickelt war, in unserem Fall mit Hand-Antrieb. Für mich aber waren die beiden wichtigsten Ereignisse des Jahres 1950 der Besuch des Vaters, der hierher kam, um mich wiederzusehen, und das Erscheinen einer jungen Spezialistin. Sie hieß Katja Kusnezowa, hatte die geologische Fakultät an der Staat-lichen Moskauer Universität beendet und war hier zu uns geraten, nachdem sie dem geolo-gischen Komitee des „Jenissejstroj“ des Ministeriums für Innere Angelegenheiten zugeteilt worden war.

Diesen Sommer arbeiteten wir alle in der Laborabteilung, wo die Bohrkerne beschrieben und alle Ergebnisse in eine Bodenschatzkarte eingetragen wurden, das heißt bei der Bearbeitung von Bodenproben und der Erstellung eines geologischen Rechenschaftsberichtes. Sehr schnell entstand zwischen Katja und mir eine gegenseitige Sympathie und, um etwas mutiger zu werden, trank ich ein bißchen zuviel und erschien dann bei ihr, zusammen mit dem Sohn des Laden-Leiters aus unserer Siedlung, der nüchtern war, aber dumm. Kurz darauf war ich mit Katja allein, wir lasen Gedichte (ich versuchte auch meine zu lesen), sprachen über viele Dinge, unter anderem auch über mein Schicksal, und ... gestanden uns unsere Liebe. Wir beschlossen uns anzufreunden, uns richtig kennenzulernen und, falls sich unsere Erwartungen nicht enttäuschten – zu heiraten. Katja war ein überaus herzlicher Mensch, sehr rein und aufrichtig und von einer eigentümlichen Schönheit. Nicht groß, dunkelhaarig, mit einem langen Zopf, das Gesicht rund, mit gleichmäßigen Zügen, großen kastanienbraunen Augen und einer Figur, die ihrer Größe entsprach, nicht dick, aber auch nicht dünn. Mir gefiel alles an ihr, aber ganz besonders der Tatbestand, jetzt kann ich es ja gestehen, daß ich ihr gefiel, ich, dem der Stempel eines politischen Zwangsansiedlers aufgedrückt war, der keine Hoch-schulbildung abgeschlossen hatte und der keine besonderen Lebensperspektiven in der sowjetischen Gesellschaft besaß. Andererseits, wieder mein Charakter, der, geneigt zu ritterlicher Selbstaufopferung besonders gegenüber mir nahestehenden Freunden, zu übermäßiger Selbstkritik und erniedrigender Selbsteinschätzung, es nicht zuließ, daß ich die mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzte, um unsere körperliche Annäherung zu erreichen und damit unserer Heirat zu beschleunigen. Und dafür bezahlte ich.

Katja war natürlich im Komsomol, und als allen unsere Freundschaft klar geworden war, wurde sie einem unbarmherzigen Druck von Seiten der Partei- und Komsomol-Leitung ausgesetzt, ebsnso wie von den „Truppen des MWD“ in Gestalt des Majors Pankow. Ihr wurde unmißverständlich klargemacht, was sie für den Fall zu erwarten hätte, daß sie die Frau eines ehemaligen Polithäftlings werden sollte.

Und Katja, ohne zu heucheln, gestand mir unter Tränen, daß ihr Mut dafür nicht ausreichte.

Ich empfand das natürlich als sehr schmerzlich, aber mein Charakter gewann schließlich die Oberhand. Und so brach ich die Beziehungen zu Katja ab, in der Meinung, daß es so für sie besser wäre, denn der Schuldige an dieser traurigen Geschichte würde ich in ihren Augen sein. Dergestalt sah unser Schicksal aus!

Und nach Ablauf so vieler Jahre, im Licht der nachfolgenden Ereignisse, vermag ich nicht zu beurteilen, was für uns besser gewesen wäre: dem Schicksal zuwiderhandeln, standhalten und versuchen unser Glück aufzubauen oder es so zu machen, wie es nun geschehen ist?

Jedenfalls bedauerte Katja nach einiger Zeit, als unsere Wege sich bereits vollständig getrennt hatten, das Vorgefallene in einem Brief an meine Mutter, aber es war bereits zu spät ... Meine liebe Katja! Ich dachte noch lange Zeit an dich und bewahrte dir gegenüber ein Leben lang meine Dankbarkeit für kleine Augenblicke des Glücks, die du mir gegeben hast!

Meine liebe Mama! Du hast mir damals zurecht Vorwürfe wegen meiner Unentschlossenheit, meinem „Liberalismus“ gemacht. Du warst selber so klein und gebrechlich, aber Mut brauchtest du dir nirgends auszuleihen, den hattest du! Und zu Beginn des Sommers 1951 tratest du in die Fußstapfen des Vaters und begabst dich auf eine riskante Reise, du kamst zu mir. Du sahst dich um, trafst auch mit meinen Freunden zusammen und fuhrst beruhigt wieder ab. Mit großer Dankbarkeit, in Ehrfurcht vor dir, denke ich daran zurück.

Im Sommer 1951 wurde unsere geophysikalische Truppe aufgelöst. Katja, Anelja und einige Spezialisten wurden in den Norden versetzt, andere, wie zum Beispiel Jura Kuluntschakow, in die unlängst organisierte Tataro-Muroschninsker geophysikalische Gruppe, mit Unterbrin-gung in der Ortschaft Matygino, bei der Kreisverwaltung für Geologie. Ich und Ilja Bachur blieben als selbständige Einheit für die Bestimmung von Erdschichten und die Anfertigung von Diagrammen über die Bodenbeschaffenheit in Ussowo zurück.

Ich verfiel in heftige Depressionen und wollte nicht an diesem Ort bleiben, der in mir so bedrückende Erinnerungen wachrief. Ich hatte Glück. Zur Expedition kam der Hauptgeologe der Kreisverwaltung Lebedew. Ich wußte, daß er den politischen Verbannten, die er als „weiße Neger“ bezeichnete, große Anteilnahme entgegenbrachte. Und ich übergab ihm einen Bericht mit der Bitte um Versetzung in den Tataro-Muroschninsker Trupp. Im Gang unterhielt er sich mit mir und schrieb sogleich eine Resolution für meine Versetzung in die tatarische geophysikalische Gruppe (Ortschaft Tatarka), welche von dem in der Verbannung lebenden bekannten Geophysiker Sander geleitet wurde.

Sander ernannte mich zum Leiter der vor kurzem eingerichteten und getrennt operierenden Elektrofördertruppe in der Taiga, fünf Kilometer von Kirgitaj entfernt, wo man mit der Suche nach Bauxit beschäftigt war. Ich wählte ein paar Arbeiter aus Ussowa, aus den Reihen der neuangekommenen Zwangsansiedler aus, unter denen sich auch mein ehemaliger großer Freund Nowakowskij aus Charkow befand, organisierte ein Feldlager sowie die Versorgung und führte selbst in meiner Eigenschaft als Operator täglich Elektrobohrungen durch. Das heißt ich arbeitete für drei und meine Belohnung war, daß ich am Ende der Saison die Fehl-menge an Lebensmitteln auch noch bezahlen mußte, die auf meinem Rechenschaftsbericht standen und im Lager in einer einfachen Laubhütte gelagert wurden.

NowakowskijZum November hin, als es schon frostig wurde und Schnee lag, beendete die Gruppe ihre geologischen Forschungsarbeiten auf dem Versuchsgelände, und damit war die gestellte Aufgabe erledigt . Mich versetzte man in die Winterbohreinheit, die sich in der Ortschaft Rybnoje befand. Ein Teil des Winters 1951-1952 verging erneut mit schwerer Arbeit in der winterlichen Taiga. Dort trafen wir auch wieder auf Stanislaw Kowalewskij und lebten mit ihm in einer Wohngemeinschaft; bei mir in der Einheit arbeitete auch der für mich als Vormund bestellte Nowakowskij, der etwas älter war als ich.

Beim Tanz lernte ich ein ortsansässiges Mädchen kennen, Walja Sajzewa, die sich als Freundein meiner zukünftigen Ehefrau erwies, was ich später erfahren sollte.

Unsere Bekanntschaft endete aus zwei Gründen ziemlich schnell: auf einem der Tanzabende bekamen ein paar junge Burschen Lust, mich wegen meines „Verhältnisses“ mit Walja Sajzewa zu verprügeln. Mir gelang es Hilfe herbeizurufen – Nowakowskij mit seinen Leuten, und ich kam mit einem kleinen Schrecken davon; und Anfang 1952 wurde ich zu Bohrkern-beschreibungsarbeiten in die Siedlung Petropawlowskij, weit in den Kreis hinein, versetzt, und die Verbindung mit Rybnij hörte auf.

m Februar hielt der neue Leiter der Tataro-Muroschninsker Einheit, Ladyschenskij, es – mit dem Ziel Mittel zu sparen – für möglich, daß alle Verbannten entlassen würden, um Personal zu kürzen, „vorübergehend“ wie er uns sagte, bis zum Beginn der Feldarbeitssaison! Ich ließ mich in Motygino nieder, wurde als „Gasthörer“ zu den nächsten geophysikalischen Lehr-gängen gerufen und erst im Mai erneut zum Arbeiten eingestellt, allerdings als Berechner. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mit Valentina Kalabina verheiratet, einer Sibirjakin aus Motygino, die ich beim Tanzen kennengelernt hatte, mich schnell mit ihr anfreundete und ... sie heiratete. Das erste und letzte Mal im Leben! Walja stammte aus einer Arbeiterfamilie, hatte keine abgeschlossene Mittelschulbildung, war hübsch und dunkelhaarig. Sie lebte mit ihrer Mutter und dem Stiefvater im eigenen Haus, hinter dem Flüßchen Rybnaja. Ungeachtet der Tatsache, daß – als ich sie die ersten Male nach dem Tanzen nach Hause begleitete - die ortsansässigen Jugendlichen, die uns entgegenkamen, mich mit den Worten beleidigten „Beine ausreißen und Stäbchen hineinstecken“, endete unsere Beziehung nicht. Ich hörte nur auf, Walja zu begleiten, aber sie fing dann an, mich nach Hause zu bringen und blieb auch über Nacht... Ja, und so haben wir dann geheiratet.

Wie es sich gehört, hielt ich um Valentinas Hand an, und im April fand die Hochzeit statt, zu der auch die Singalowskijs (seine Frau gestand Valja, daß sie mich liebte! Singalowskij selbst beendete später seine Karriere als Fotograf in der Ortschaft Motygino). Anwesend waren auch Jossif Katz (wir hatten zusammen in Ussowo gearbeitet) mit seiner schönen Ehefrau, der launischen Tamara Kurbatowa, die Possewskis, sehr nette Leute, er – ehemaliger Flieger, der ins GULag geraten war und mit mir als Berechner in Rybnij arbeitete.

Im Sommer 1952 machten wir Bodenarbeiten, zusammen mit meiner Walja, sie als Arbeiterin der geophysikalischen Truppe. Erneut trafen wir auf Jurka Kuluntschakow, der auch schon verheiratet war, durchstreiften gemeinsam die Taiga, fern von jeglichen menschlichen Sied-lungen. Und zum Winter hin wurden Walja und ich wieder entlassen. Erst gegen Februar 1953 gelang es mir erneut Arbeit bei der Ischimbinsker Bohrgruppe zu finden (Förderung von Hämatit), die von einem mir bekannten Geologen geleitet wurde. Davor lag der Versuch seitens der „Organe“, mich in eine Kolchose zu treiben, ab ich blieb standhaft. Anfangs arbeitete ich erneut am Bohrloch, danach wurde ich als Geophysik-Spezialist zur Inklino-metrie, zur Neigungsmessung von zenital und azimutal gelagerten Rechtecken sowie der räumlichen Lage der Schachtöffnungen versetzt.

Zum Sommer hin zog Walja zu mir (davor, im März, lebte sie als Gast bei meinen Eltern). Man teilte uns ein kleines Zimmer in einer Siedlungswohnbaracke zu. In Ischimba trafen wir erneut David Mironowitsch Bazer, der als Oberbuchhalter in der Bohreinheit tätig war. Für Walja und mich nahm er so etwas wie eine Vaterstelle ein. Oft ließen wir uns abends bei ihm zuhause nieder, zusammen mit vielen Intelligenzlern aus der Siedlung. Darunter war auch die Familie Gramp – „englische“ Armenier, natürlich auch Verbannte.

An freien Tagen spielte ich häufig in Gesellschaft mit einem schon nicht mehr jungen Geologen Preference, einem außerordentlich intelligenten Abkömmling aus einer adeligen Familie (ebenfalls Verbannte), und eine Einladung zu ihm nach Hause, zusammen mit der Grubenvermessungs- und Bohrtruppe sowie anderen galt als Ehre.

Im März geschah etwas, das meinem weiteren Schicksal eine jähe Wendung gab. Stalin starb! Ich erinnere mich noch an die gespannte Stimmung vor diesem Ereignis. Die Stimme Lewitans! Und da, endlich, die Trauer-Versammlung, auf der eine „ideologische“ Minder-heit, unter ihnen auch Bauern, laut weinten, aber die Mehrheit, die Verbannten, mit finsteren Mienen dastand und ich versuchte meine unermeßliche Freude nach außen hin zurückzuhal-ten! Es kam der Amnestie-Erlaß, unter den auch ich mit meiner dreijährigen „Haftstrafe“ fiel. Aber erst nach einem Jahr, in dessen Verlauf Walja und mir ein noch froheres Ereignis wider-fuhr - unsere erste Tochter, Ljuba , wurde geboren -, wurde ich offiziell aus der Verbannung in die Freiheit entlassen, mit Aufhebung der Vorstrafe und dem Recht auf Rückkehr nach Perm.

Anfang Juli 1954 verabschiedeten wir uns von allen, von denen wir konnten, erhielten den Segen von Waljas Eltern und schifften uns auf einem Dampfer ein, der dem Lauf der Angara folgte, ab Bogutschan, bis nach Strelka an der Mündung der Angara in den Jenissej. Ljubuschka war 4 Monate alt, Walja 22 Jahre und ich 25. So endete die sibirische Verban-nungs- und Zwangsansiedlungszeit in meinem Leben, gingen meine Lager-Studienjahre zuende! Leb wohl, du kaltes und heißes, entferntes und nahes, schweigend-herausforderndes und romantisch-anziehendes Sibirien! Lebt wohl, meine lieben Freunde, die ihr für mich zu Verwandten und Nahestehenden geworden seid, lebt wohl, ihr guten Menschen, Dank euch für alles, gutes und schlechtes, das ihr mich gelehrt habt, und dafür, daß ihr es nicht zugelassen habt, daß ich auch nur einen einzigen Augenblick meinen Glauben in den Menschen verloren habe, in die schöpferische Kraft der großartigen Natur!

Vor uns lag die Etappe des Erwachsenendaseins, der Erziehung unserer Kinder, der gegenseitigen Akzeptanz sowie froher Hoffnungen und Erwartungen.

DAS ERWACHSENENLEBEN

DIE ERFÜLLUNG UND DAS SCHEITERN VON HOFFNUNGEN

Seit jenen Zeiten sind fast 44 Jahre vergangen. Ljuba ist jetzt 44. Unsere jüngste, Vera ist 43, Walja bereits 66 und ich – ich mag gar nicht davon reden – 69! Mein Leben mit Valentina Petrowna ist so gut wie vorbei. So manches geschah in diesen Jahren, aber Walja und ich haben immer standgehalten. Die Liebe überwand alle Mißgeschicke und Kränkungen. Und an unserem Lebensabend sind wir uns tatsächlich ganz ähnlich geworden. Wir bereicherten uns gegenseitig: der eine durch seine Kenntnisse, der andere durch sein kulturelles Verhalten, durch seine Duldsamkeit sich selbst und den Menschen gegenüber, seine Beherrschung und Güte. Ich danke dir, meine liebe Ehefrau, für alles, und nehme auch deine Dankbarkeit zufrieden an!

Ich vermag nicht zu sagen, meine lieben Töchter, daß ich euch gegenüber eine solche Selbstzufriedenheit fühle. Nein. Stark ist auch das Gefühl der Schuld, der Nichtausschöpfung von Möglichkeiten. Ich flehe um Vergebung und werde bis zu meinem Tode bereit sein, euch alles zu geben, was in meinen Kräften steht!

In diesen Jahren zogen wir, nachdem wir die Aufgabe der Erschließung der am Fluß Kama gelegenen Erdöllagerstätten gelöst hatten, mit euch wie die Nomaden durch die Region Perm, von Süden nach Norden, von Bikbarda über Kueda und Ossa bis nach Polasna, und schließ-lich nach Perm, wo wir uns eine zweite Heimat und dir, Werotschka, die erste errichteten.

Ich beendete die Kuedinsker Abendoberschule und bin stolz darauf, daß ich dafür die Silbermedaille erhielt. Ich schloß auch das Fernstudium an der staatlichen geologischen Fakultät der Stadt Perm auf dem Spezialgebiet Ingenieur für Geologie und Geophysik ab.

In der Tat zeigte sich auch hier meine ausgeprägte Faulheit (wenn man bedenkt, daß ich dabei nie aufgehört habe zu arbeiten und mein Familienleben zu unterbrechen): für das Studium benötigte ich 10 Jahre. Auf der Dienstleiter bewegte ich mich vorwärts, soweit es eben für mich, einen ehemaligen Politgefangenen, möglich war.

1985 ging ich im Alter von 55 Jahren + 1 (wegen der Arbeit im freien Gelände) in Rente, und schied damit aus dem Amt des Chefmeteorologen des geophysikalischen Trustes. Danach arbeitete ich als gewöhnlicher Werktätiger weiter.

Im Jahre 1989 „kroch ich aus dem Untergrund hervor“ und begab mich zur Permer Gesellschaft „Memorial“, und 1990 wurde ich zum Vorsitzenden der Permer Vereinigung für die Opfer politischer Repressionen gewählt. In jenem Jahr 1989 wurde ich von unseren „liebenswürdigen Organen“ rehabilitiert. Im Sommer 1992 wurde ich von der Gesellschaft „Memorial“ als verantwortlicher Sekretär der gegründeten Kommission zur Wiederher-stellung der Rechte von Opfern politischer Repressionen (offiziell – „von rehabilitierten Opfern“, als ob es nichtrehabilitierte OPFER geben kann) zur Arbeit in die Verwaltung der Region Perm entsandt. Auf diesem Posten war ich fünf Jahre lang tätig und setzte meine ganzen Kräfte für den Kampf mit den bis dahin existierenden bolschewistischen Beamten-Inquisitionen, mit der Schicht von parteistaatlichen, unmoralischen Opportunisten, Dämago-gen mit jahrelangen Parteizugehörigkeiten, die rechtzeitig vom „roten Güterzug“ auf die Trittbretter des blau-weiß-roten „Expreßzuges“ der sogenannten Demokratie hinüberge-sprungen waren. Ich bin glücklich, daß ich tausenden unschuldiger Opfer des Stalinismus, die von den Bolschewiken und „Eulen“ unterdrückt und gefoltert wurden, aktive Hilfe erweisen, daß ich sie in einer Gemeinschaft kompromißloser Kämpfer vereinen kann, Kämpfer gegen die mit den Jahren in Vergessenheit geratenen bolschewistischen Krankheitserreger, die einen Clan von Verbrechern mit unmenschlichen Gesichtszügen hervorgebracht haben!

Ich bin glücklich, daß ich den Menschen etwas zurückgeben kann, jenes warme und teil-nahmsvolle Verhalten, welches mir die Menschen, die durch die Vorsehung des Schicksals an meiner Seite standen, unaufhörlich zu Beginn meines Lebensweges entgegenbrachten.

Meine Pflicht wird keine Erfüllung finden, wenn ich nicht meinem Vater all das gebührend zurückgebe, was er verdient hat, er, der 1959 im Alter von 54 Jahren verfrüht aus dem Leben schied, und meiner Mutter, die in ehrwürdigem Alter in unserer „historischen Heimat“ ver-starb, aus der unsere Vorfahren verjagt wurden, und die dann zwischen guten und schlechten Menschen durch die Welt zu „spazieren“ begannen.

In Würdigung des Andenkens und der Anerkennung meines Vaters wende ich mich in meinem Testament mit dieser Bitte an die Menschen: wenn ich sterbe möchte ich, daß ich zu Füßen meines Vaters auf dem Jegoschichinsker Friedhof in Perm beigesetzt werden.

EINIGE ENDERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN

Ich ging einen großen und von Ereignissen erfüllten Lebensweg. Ich begegnete vielen Men-schen. Ich las viel, dachte nach, analysierte und zog Schlußfolgerungen. Deswegen nehme ich mir die Freiheit heraus, einige Gedanken auszusprechen, in der Hoffnung, daß sie sich in diesen schwierigen Tagen, die Rußland durchmacht, nützlich erweisen können. Ich bin mir darüber bewußt, daß ich bei der Einschätzung meiner Fragen nicht in professioneller Weise in Erscheinung trete, obwohl ich denke, daß dies auch kein Fehler ist: im Gegenteil, eine frische Ansicht, ohne jegliche Vorurteile stellt sicher die beste Betrachtungsweise dar. Jedoch möchte ich meine Forderungen niemandem aufzwingen (für mich sind das Forderungen), und ich bin stets bereit, fremden Meinungen zuzuhören.

DER MENSCH, GOTT UND DIE RELIGION

1. Der Mensch ist Vorsitzender der Tierwelt, der sich Dank des Zusammentreffens von für die lebende Natur günstigen Umständen auf der Erde entwickelt hat. Man kann es drehen und wenden wie man will, aber wir gehören zur Klasse der Säugetiere, in der Tat, zur Gruppe der vernünftigen, denkenden, was es uns gestattet, uns für die „Krönung der Natur“ zu halten, und das ist nicht unbegründet. Die Entwicklung der Natur, der Menschheit geht den Weg des Fortschritts, allerdings sehr ungleichmäßig im Hinblick auf den Schwingungsprozeß. Zu gleicher Zeit sagt uns die menschliche Erfahrung, die wir besitzen (und etwas anderes kann es bei uns nicht geben), daß alle Prozesse im Weltall sich zuerst beschleunigt entwickeln und dann nachlassen (nach dem Verständnis der Entropie). Der Mensch als Lebewesen neigt gemeinsam mit der ganzen Natur zu solchen Prozessen. Und er kann nicht aus seiner tieri-schen Umhüllung herausschlüpfen, kann nich höher steigen als es ihm die Natur vorgeschrie-ben hat.

DEM MENSCHEN IST ES NICHT GEGEBEN, DIE NATUR, DAS WESEN DES ZUSAMMENHANGS VON ERSCHEINUNGEN, BIS ZUM ENDE ZU ERKENNEN UND ZU VERSTEHEN, SICH SELBST VOLLSTÄNDIG ALS TEILCHEN EBEN DIESER NATUR ZU BEGREIFEN! Das Wesen und der Aufbau der Materie, „Anfang und Ende der Welt“, Ausdehnung und Verdichtung des Weltalls, und so weiter – es ist dem Menschen nicht gegeben, die ganze absolute WAHRHEIT bis zum Ende zu erkennen! Lediglich ein vollkom-mener Ignorant kann dies nicht klar wahrnehmen, ebnesowenig wie seine hoffnungslose Dummheit dabei. Die Erkenntnis dessen bedeutet keine „Kapitulation“ vor den „dunklen Mächten“, wie unsere progressiven Materialisten es nennen würden, im Gegenteil, es liegt in jeder der betrachteten historischen Etappen die Grundlage für das rationale Zusammenwirken des Menschen mit der Natur und des Menschen mit dem Menschen (mit der Gesellschaft), als Teil dieser Natur.

2. Gott – das ist ein MENSCHLICHER Begriff! Wir wissen, daß er bereits im menschlichen Verstand unserer Ur-Vorfahren auftauchte. Und die einfachen Überlegungen unserer Atheisten-Materialisten rufen, so scheint es, keine Zweifel hervor. Jedoch lohnt es sich, nur einmal daran zu denken, daß uns das Erkennen der absoluten Wahrheit nicht gegeben ist, daß es bis heute trotz der wissenschaftlichen Errungenschaften immer noch eine Menge unerklär-licher Erscheinungen gibt. Und wir müssen zugeben, daß der in die Natur hineingelegte Begriff von Gott ebenfalls für uns bis zum Ende unfaßbar ist!

Eine andere Sache – die Religion, die im Menschen schon von alters her dessen Urzustand kultiviert hat. Die Religion, die den GLAUBEN an den jüdischen, christlichen (darunter auch den orthodoxen), islamischen, buddhistischen Gott, usw., usw., anerzieht! Man kann über-zeugt sein: all das stammt vom Unglauben, all das ist – gesetzmäßig, leider, das Ergebnis der Stammesentwicklung der Urmenschheitsgesellschaft, die zur Feindschaft zwischen den Geschlechtern, den Religionen und letztendlich der nationalen Feindschaft führte, was den Staatsoberhäuptern sehr gelegen kam, der Elite und letztlich auch den Geistlichen. Ich hoffe, daß die Entwicklung der Menschheit noch lange weiter voranschreitet und in ferner Zukunft zu einem vereinten GOTT aller Völker und Nationen führen wird, einem GOTT, dessen Wesen eine allgemein menschliche Moral, Gerechtigkeit gegenüber allen, Gleichwertigkeit und gleiche Möglichkeiten für alle ist, einem GOTT, dessen Platz nicht im „Himmel“, sondern im Herzen aller Menschen liegt!

Aus dieser Position heraus muß ich meine Einstellung zum jüdischen Volk erklären. Es ist mein Volk! Ein Volk, mit dem ich gemeinsam den faschistisch-deutschen Genozid, den polnischen Antisemitismus und den russisch-sowjetischen Chauvinismus überlebte, was man mich bis heute nicht vergessen läßt!

Ich vergesse nicht. Und trotz meiner atheistischen Einstellung verstehe ich sehr gut, daß nur der Glaube an Jahve es meinem Volk gestattete unter den Bedingungen allgemeiner Verfol-gung zu überleben, standzuhalten und von neuem seine ehemalige Heimat zu erkämpfen, einen eigenen Staat zu gründen und für jeden von uns einen Zufluchtsort zu schaffen. Ich stand immer auf Seiten meines Volkes, und werde dies auch immer tun, wenngleich ich die Religion generell verneine und die jüdischen religiösen Traditionen nicht wahre.

MENSCH, GESELLSCHAFT, STAAT

3. In Anerkennung des Menschen als Krönung der Natur auf der Erde, als Lebewesen, das über einen beispiellosen Verstand und unbegrenzte Möglichkeiten im Hinblick auf geistige und körperliche Mühen verfügt, ist es unumgänglich, ebenso die außerordentliche Individu-alität jedes Menschen anzuerkennen, die schon weit entfernt ist von der gesamten ihm vorangegangenen Tierwelt. Jeder Mensch besitzt einen Vor- und Familiennamen, sein ihm eigenes Gesicht, seinen Körper, seinen Charakter. Im Unterschied zur Katze, zu den Affen und sogar zum Tiger. Daher müssen wir, wenn eine menschliche Gesellschaft, menschliche Kollektive und Staaten geschaffen und vervollkommnet werden, von den Interessen des Menschen ausgehen, jedes einzelnen Menschen, aus denen und für die diese Kollektive, Zusammenschlüsse und Staaten gebildet werden.

4. Grundlage für den Aufbau, wie man bei uns sagt, eines RECHTS-Staates, müssen, wie Ziegelsteine, die auf einem Fundament gestapelt werden, die individuellen Rechte des Menschen sein. Als charakteristische Besonderheit der Menschenrechte tritt ihre besondere arithmetrische Eigenschaft in Erscheinung: sie summieren sich nicht in Abhängigkeit von der Anzahl der Menschen.

Das heißt: die Rechte, sagen wir, von zehn Menschen sind gleichwertig und gleichgewichtig durch das Recht eines Menschen, der ihnen widerspricht. Das muß man so verstehen: egal wieviele Menschen sich auch zusammenfinden, so können sie doch nicht das Recht auch nur eines einzigen Menschen für ungültig erklären, es einschränken oder verletzen; derartige Fragen unterliegen nicht einer Entscheidung auf dem einfachen demokratischen Wege – der Abstimmung! Das betrifft die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte des Men-chen. Daher die Forderung nach einem Rechtsstaat, in dem die Menschenrechte nationaler, gesellschaftlicher, sozialer und anderer von der Verfassung anerkannten Minderheiten garan-tiert werden.

DIE REALISIERUNG DER MENSCHENRECHTE KANN NICHT ALS GRUNDLAGE FÜR DIE VERLETZUNG VON RECHTEN AUCH NUR EINES EINZIGEN MENSCHEN DIENEN!

5. Das oben dargelegte Konzept widerspricht hauptsächlich der bolschewistischen „Theorie“ vom Aufbau des Sozialismus auf den Knochen der Menschen, der Theorie von der „frohen“ Sklaverei einer glücklichen Herde, die von allwissenden Führern oder einer Gruppe von „Fortschrittlichen“ gelenkt wird. Deswegen, und nicht weil ich eine zeitlang selbst an Unkenntnis und Ausschweifung litt, nehme ich die „russische sozialistische Idee“ nicht im ganzen an, trotz vieler positiver Errungenschaften, aber die Methoden, die zur Erreichung dieser positiven Momente führten, lehne ich ab!

6. Rußland erwies sich als jenes unglückselige Land, welches das Schicksal für ein globales Experiment auswählte, dessen Völker sich dafür als am meisten empfänglich erwiesen. Leider war Rußland während der Revolution in zwei grundlegende und miteinander unvereinbare Kulturen getrennt: die adelig-elitäre und die bäuerlich-versklavte, zutiefst ungebildete. Die erste Kultur beruhte auf Individulität, die zweite – auf patriarchalisch-gesellschaftlichem Kollektivismus, wobei der Einzelne keinerlei besondere Eigenschaften oder Rechte besaß. Die erste haben wir, „Gott sei Dank“, beseitigt, aber die zweite füllte die ganze Gesellschaft aus und droht nun uns zu beseitigen! Der ganze Versuch der „Perestrojka“ und der Reformmaßnahmen zeugt davon.

Haben wir auch nur die theoretische Möglichkeit dem Untergang zu entkommen (dem Zerfall, dem Verfall, einer neuen Revolution und einer Wiederholung des bereits Geschehenen)?

ICH WEISS NICHT! MIR KOMMEN ZWEIFEL! ABER ICH MÖCHTE ES GANZ LEIDENSCHAFTLICH!

Ich bin davon überzeugt, daß wir mit wenig Blutvergießen nicht auskommen werden.

Wenn das auch wie eine Lästerung klingt, aber am radikalsten und ergebnisreichsten wäre es, sich unter einer „äußeren Verwaltung“ zu befinden, wie das gerade für Unternehmen üblich ist – Bankrotte in böser Absicht! Es ist egal, wer bei uns an der Macht ist. Jedes weitere Spiel in eine vermeintliche Demokratie, in den sogenannten Rechtsstaat, kann ja bei einem derar-tigen Maß an Korruption des gesamten Staates, das wir selber zugelassen haben, an ununter-brochenenem Diebstahl und Betrügereien, verwickelt mit Bandentum, nur zum Verfall führen!

7. Einige wichtige Momente, die meiner Ansicht nach in Zukunft bei der Errichtung eines wirklich demokratischen föderativen Staates unbedingt berücksichtigt werden müssen.

1) Ein Föderativ-Vertrag muß gleichzeitig zwischen allen Beteiligten geschlossen werden, die die Föderation bilden wollen, jedoch keinesfalls zwischen den Organen der zentralen Macht und jedem Subjekt im einzelnen. Das Zentrum ist kein Mitglied in der Föderation, seine Rechte und Pflichten werden durch den Föderativ-Vertrag festgelegt, im gegenseitigen Einverständnis zwischen den Partnern (den an der Föderation Beteiligten). Ferner können sich dem Föderativ-Vertrag neue Beitrittsmitglieder anschließen.

2) Alle an der Föderation Beteiligten sind gleich, gleichberechtigt und gleichwertig. Sie gliedern sich nach wirtschaftlichen Kriterien in zwei Gruppen: Geber und Empfänger (die einen geben mehr an das Bundesbudget, die anderen bekommen daraus mehr). Die wirtschaftlichen Kriterien für die Föderationsmitglieder werden einmal jährlich gemeinsam im Budget-Gesetz aufgestellt.

3) Durch den Vertrag werden Kriterien aufgestellt, die den Föderationsmitgliedern und ihren Verwaltungseinheiten das Recht geben, die Bezeichnung „nationale Verwaltungseinheit zu tragen. Das einzige Privileg des nationalen Gebildes ist das Recht der Anwendung von zwei Staatssprachen: der allgemein-föderativen Amtssprache (Russisch) und der nationalen, der ursprünglichen Muttersprache).

4) Die Beitrittsmitglieder der Föderation zahlen in den gesamtföderativen Reservefond einen Beitrag (eiserne Reserve) ein, und zwar in der Pro-Kopf-Größenordnung der Bevölkerung; dies ist im Vertrag festgehalten. Ausscheidenden Föderativmitgliedern wird der eingebrachte Beitrag nicht zurückerstattet und auch nicht anderweitig kompensiert.

5) Beitrittsordnung zur Föderation: Annahme eines entsprechenden Antrages durch das Gesetzesorgan des Beitrittswilligen; Durchführung eines allgemeinen Volksreferendums gemäß den von den Exekutiv-Organen der Gesetzes-Exekutive festgelegten Regeln; Einbringen des Antrages beim föderativen Gesetztesorgan; Durchführung eines gesamt-föderativen Referendums, nach den gesetzlichen Regeln, wie sie im Vertrag festgelegt sind. Im Falle einer positiven Entscheidung beginnt ein 2-jähriger Prozeß zum Beitritt in die Föderation.

6) Der Austritt aus der Föderation wird in folgender Weise durchgeführt. Im Falle einer positiven Entscheidung beginnt ein 1-jähriger Austrittsprozeß aus der Föderation.

7) Das föderative Wahlsystem soll nach dem direkten Mehrheitsprinzip ausgerichtet sein. Das heute gültige System, das nach „Parteilisten“ funktioniert, ist ein mit nichts zu rechtfertigen-des "Fressen" für die Moskauer, die „Parteien“ und „Parteichen“ gegründet haben, welche keiner braucht. Aber die Nominierung der Kandidaten nach Wahlbezirken soll nur von politischen Parteien oder gesellschaftlichen Vereinigungen (oder ihren Blöcken) durch-geführt werden, die in einer festgelegter Reihenfolge registriert sind. Die Erstellung von

Unterschriftenlisten ist nicht unbedingt erforderlich, aber das Einbringen eines Geldbeitrages zur Durchführung der Wahlkampagne, in einer Größenordnung, wie sie von der Wahl-Kommission, in Abhängigkeit von der Anzahl der eingetragenen Kandidaten, festgelegt wurde, plus eine zusätzliche Zahlung für jedes herausgebrachte Flugblatt oder andere polygraphische Material, für jede Minute von Fernseh- oder Radiosendungen die über die dem Wahl-Komitee zur Verfügung gestellte Zeit hinausgeht, für jede Zeile von Presse-Publikationen, die die vom Wahl-Komitee festgesetzte Zeilenanzahl übersteigt .

Die Geldsumme wird als bargedlose Zahlung auf das Bankkonto des Wahl-Komitees überwiesen, mit einer Bankbestätigung über die Herkunft des Geldes. Wenn Geld auf indi-viduelle Weise von natürlichen Personen gesammelt wird, dann unterliegen die Zahlungs-nachweise der Vorlage beim Wahl-Komitee. Herkunft und Beträge der Finanzierung von Kandidaten werden vor den Wahlen vom Wahl-Komitee veröffentlicht.

DAMIT SIND MEINE UMFANGREICHEN ERINNERUNGEN AN VERGANGENE TAGE UND BESCHEIDENEN VORAUSSICHTEN AUF KÜNFTIGE ZEITEN AM ENDE ANGELANGT


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