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Unbekannter Autor . Über den Bau der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka

Vorwort von „Memorial“. Dieses Dokument gelangte ohne Hinweis auf den Autor an uns. Wir bitten alle, die den Urheber des Textes kennen, die Redaktion unserer Seite davon in Kenntnis zu setzen.

Gegen Ende des II. Weltkrieges war die Sowjetunion geschwächt und hatte schwere Verluste erlitten, aber Stalin feierte den Triumph. Und zu Ehren des Sieges beschloß er grandiose Bauplätze zu schaffen, unter anderem den Bau einer riesigen Eisenbahnlinie, die den arktischen Polarkreis überqueren und die Bezeichnung Große Stalinsche Eisenbahnlinie tragen sollte. Sie erforderte eine ungeheure Menge an Materialien, Ausrüstungsgegenständen und Menschenleben. Hunderttausende von Sklavenarbeitern wurden dort verwendet.

Alles, was von diesem großartigen Einfall übrigblieb – das sind über 2000 Meilen, von Moskau nach Nordosten verlaufende, durchgerostete Schienenstränge und verfaulte Schwellen. Die Große Stalinsche Eisenbahnlinie lebt nur noch in der Erinnerung der Menschen, denen es gelang zu überleben.

Alle menschlichen Gefühle - Liebe, Freundschaft, Barmherzigkeit, Mitleid, Ehrgefühl – hat man uns genommen. Bei uns gab es weder Stolz noch Würde, unser Los bestand lediglich aus Neid und Qualen. Das einzige Gefühl, was man uns gelassen hat, war Hunger ohne irgendwelche Emotionen.

1948 regierte Stalin die russische Gesellschaft. Sein Regime wurde totalitär. Innerhalb von 20 Jahren richtete er Millionen von Menschenleben in den Lagern des GULag zugrunde. Niemand war der Ansicht, daß ihm ein leichtes Schicksal zuteil wurde. Der Krieg zwang Stalin den Druck zu vermindern, aber bald begann eine neue Welle von Repressionen.

Die Große Stalinsche Eisenbahnlinie verlief vom Norden Europas aus nach Osten, parallel zum Polarmeer. Der offizielle Grund für das Projekt – strategische Notwendigkiet – Schutz der nördlichen russischen Grenze. Aber es gab noch ein anderes Ziel – die Lager des GULag nach dem Krieg miteinander zu verbinden.

Offiziell verlief das Leben in der Sowjetunion friedlich, und die Menschen lebten dort glücklich. Die Kommunistische Partei befreite die Arbeiter vom Kapitalismus, zwang sie jedoch hauptsächlich bei der Industrialisierung des Landes mitzuhelfen.

Preulke Bjankin, von der Nationalität her Russe, wurde 1945 von den sowjetischen Truppen an der chinesischen Grenze verhaftet: „Sie brachten uns nach Norden - in völlig überladenen Waggons mit schmalen, zugefrorenen Fenstern, in Kälte und Lärm und zusammen mit Kriminellen. Wir hörten auf, Tag und Nacht voneinander zu unterscheiden, weil der Zug unterwegs nicht einmal anhielt“.

25 Jahre vergingen bis zu jenem Moment, als antistalinistische Literatur aufzutauchen begann.

Wer kann die Verzweiflung von hunderten von Menschen beschreiben, die von ihren Ehefrauen getrennt wurden? Nach dem großen Krieg fürs Vaterland überließ man sie der Willkür des Schicksals. Man transportierte die Gefangenen in den Norden, den genauen Weg kannten sie nicht. Sie wurden im Stich gelassen. Die Dächer der Waggons waren erleuchtet, damit niemand herauskommen konnte. Auf dem Tender waren Maschinengewehre aufgestellt. Die gesamte Zugstrecke war von Leichen gekennzeichnet. Irgendwer war mit seinen Kindern bis zu dem winzigen Fenster hinaufgekrochen, und sie schrieen: „Großvater, Großvater, wo bringen sie uns hin?“ Und alle hörten die Stimme eines bereits gealterten Mannes: „Nach Sibirien, ihr Lieben, zur Schwerarbeit“.

Der Bau einer Eisenbahnlinie unter arktischen Bedingungen war ein kolossales Vorhaben. Alles Nötige wurde in den Norden gebracht, über hunderte von Meilen, auf Schiffen, über einen Zeitraum von mehreren Monaten, wenn die Flüsse eisfrei waren. Die Gefängniszellen von hunderten von Binnen-Lastkähnen waren mit Häftlingen überfüllt.

Nikolaj Maximowitsch, ein Soldat, dem Auszeichnungen verliehen worden waren, erhielt 10 Jahre wegen eines Streits mit dem Polit-Kommissar.

Alexander Snowskij, ein junger Medizin-Student wurde wegen antisowjetischer Agitation verurteilt; er bekam eine 10-jährige Lagerstrafe.

Im Herbst 1949, als die ersten Gefangenen endlich am Ort des Bauvorhabens eingetroffen waren, sahen sie dort nichts – keine Straße, keine Baracken, keine Bau-Ausrüstung. Nur erbärmliche Büsche, Bäume und schmale Pfade auf dem öden Boden.

Die Große Stalinsche Eisenbahnlinie wurde von Moskau aus kontrolliert, und wurde durch feste Bautermine begrenzt, die ebenfalls in Moskau festgelegt worden waren. Der Arbeitsdruck war dermaßen groß, daß die Ingenieure noch nicht einmal die allerersten Pläne des Schienenweges zuende geführt hatten, als bereits die erste Partie Häftlinge zum Ort des Bauvorhabens gebracht wurde.

Alexander Poboschij, festangestellter Bau-Ingenieur erinnert sich: „Es war überhaupt nicht einfach, eine solche Eisenbahnstrecke zu bauen. Meine Illusionen wurden schon bald vom Winde zerstreut. Fast alles blieb hinter dem Zeitplan zurück. Soviel Zeit wurde unnütz verschwendet. Die Häftlinge rührten sich kaum, über ihnen standen die Wachmänner mit Waffen und Hunden. Die weite Fläche um die Gefangenen herum war bald grau von stechenden Insekten“.

Genadij Stroganow war wegen eines kindlichen Vergehens zu 7 Jahren Lagerhaft verurteilt worden - er hatte eine Flasche Wodka gestohlen: „Nachdem wir unsere Arbeitswerkzeuge erhalten hatten, schufteten wir wie die Pferde. Wir mußten alles selber schleppen und litten furchtbar unter den stechenden Insekten. Die Häftlinge schliefen ihretwegen häufig in den Bäumen. Die Insekten stellten eine große Gefahr dar, und die Wachen führten eine ganz besondere Bestrafung ein, um die Gefangenen zur Arbeit zu zwingen: wenn einer aus der Reihe tanzte, banden sie an einen Baum, und nach wenigen Minuten war der ganze Körper von Insekten bedeckt und hatte sich in eine schwarze Masse verwandelt. Wenn das Experiment nicht mit dem Tod endete, dann wurde dieser gefühllose Körper am Ende des Arbeitstages ins Lager zurückge-schleppt. Die Lager trugen keine Bezeichnungen, sondern lediglich Nummern. Entlang der gesamten Bahnlinie gab es alle 4 Meilen ein Lager.

Die Allerschwächsten starben zuerst, jene, die an körperliche Schwerstarbeit nicht gewöhnt waren. Die etwas Kräftigeren und Gescheiteren hielten länger durch. Die Kräftigen brachten es fertig, an besseres Essen heranzukommen, wenn ein oder zwei benachbarte Plätze aufgrund von Todesfällen frei wurden und die Leichen noch nicht beerdigt worden waren.

Wenn du gut arbeitest – dann wirst du auch besseres Essen bekommen. Aber um besser zu arbeiten, muß man gut essen.

Ich selbst träumte damals von einer erotisch-kannibalischen Szene: Liebe und Hunger kehrten zu ihrem biologischen Ursprung zurück und gewannen aus den tiefsten Ecken des Unterbewußtseins alptraumhafte Erscheinungen. Ich erwachte schweißgebadet und begriff überhaupt nichts mehr.

Ein Faß Maschinenöl. Es wurde ständig von einer großen Menge entkräfteter Menschen umlagert. In ihrem Hunger glaubten sie, daß das Öl in Wirklichkeit Rahm war, der von den Amerikanern im Rahmen des Lend-Lease-Abkommens (amerikanische Hilfslieferung an die UdSSR während des 2. Weltkrieges; Anmerkung der Übersetzerin) geschickt worden war. Wir waren so glücklich darüber es nur ganz leicht zu berühren und die Finger in das Öl zu stippen. Es geschah nichts Schlimmes mit jenen, die bis zum Faß mit dem Maschinenöl vordringen konnten. Unser Organismus war bereits in der Lage, sogar mit Maschinenöl fertig zu werden.

Ich erhob mich langsam und sah auf meine Beine: oberhalb der Knöchel quollen sie über den Rand der Gummistiefel. Das bedeutete, daß mein Körper tatsächlich vor lauter Hunger anzu-schwellen begann. Ich schnürte die Schuhe auf, befreite die mit gekreuzten Stoffstreifen (Fußlappen) bedeckten Füße und fing mühsam an, meine wattierte Hose an der Naht aufzu-reißen. Jede Bewegung verursachte mir einen schneidenden Schmerz, denn ich mußte von der Haut die schwielige Schicht aus Blut und Eiter abreißen, aber ich hielt nicht eher inne, als bis ich zwei nackte, vor Kälte ganz rot gewordene Beine sah, die mit Geschwüren übersät waren, aus denen eine gelbrosa Flüssigkeit rann. Um die gesteppte Wattejacke herunterzuziehen, mußte ich dennoch von der Pritsche herunterklettern. Erst nachdem ich das alles gemacht hatte, setzte ich mich vor lauter Müdigkeit auf den Boden und lehnte den Rücken an die Wand (mochte ich doch jetzt ruhig anschwellen). Mir war nicht kalt; ich empfand nur Übelkeit und Schwindel. Und ich merkte noch nicht einmal, wie ich einschlief und dabei den Kopf auf zwei weiche, vom Blut feuchte Fußkissen senkte.

Ich wartete, erfaßt von einer mir unerklärlichen Angst und Unruhe. Der Kopf war schwer wie eine reife Zuckermelone; die Wunden auf den unbedeckten Beinen waren während des Schlafes allmählich getrocknet, aber sie entzündeten sich und begannen heftig zu jucken. Mir war schwül und stickig zumute, und erneut spürte ich einen Druck in der Harnblase, aber ich hatte schon keine Kraft zum Aufstehen mehr. Gleichzeitig mit einer Welle von Wärme in der Hose sah ich auf dem Boden eine kleine Pfütze. Hoffnungslos! Absolut hoffnungslos!“

Die Arbeitsbedingungen für die Gefangenen betrafen in mancher Hinsicht auch die Lager-Obrigkeit und die freien Ingenieure des Bauprojektes. Sie handelten gemäß den unmittelbaren Instruktionen Stalins und zwangen gemäß diesen Anweisungen Menschen zur Arbeit, die bereits völlig erschöpft und entkräftet waren.

Der festgelegte Plan scheiterte allmählich aufgrund zahlreicher unvorhergesehener Schwierigkeiten.

Bau-Ingenieur Poboschij: „Die in der Arktis herrschenden Bedingungen sind für Bauarbeiten absolut ungeeignet. Die wie Bohnenstangen abgemagerten Häftlinge waren zu schwach, um den Bedingungen des ewigen Frostes standzuhalten.

Wir errichteten eine kleine Siedlung für die Lager-Leitung, entwarfen einen Graben, der dem ewigen Frost schadete. Im Sommer, wenn der Boden anfing aufzutauen und sich zu bewegen, gerieten alle Gebäude auch in Bewegung. Innerhalb von zwei Monaten hatte sich alles um etwa hundert Meter verschoben.

Telegraphisch erhielt ich beunruhigende Nachrichten: Berichte über ständige Unglücksfälle, sowohl in kleinem wie auch in großem Maßstab. Den Bahndamm hatten sie innerhalb von zwei Wochen fertiggestellt, wie es die Leitung verlangt hatte, aber nicht so, wie es die Ingenieure und Spezialisten für erforderlich gehalten hatten.

Die Einwirkung des Frühlings machte den ewigen Frost zunichte. Die sandigen Bahndämme tauten, wurden verunreinigt mit Schutt und Abfällen, und die Betonfundamente verschwanden im sumpfigen Boden, ebenso wie die eingesunkene Bahnlinie, die Schwellen, Schienen und der Bahndamm.

Das Führungssystem – das war auch etwas, was mir Kopfschmerzen bereitete. Im Lager wurde jeder beliebige Befehl mit „Wird gemacht!“ angenommen, selbst dann, wenn jeder genau wußte, daß er niemals ausgeführt werden würde. Es war klar, daß alles nur Theorie war, daß alles mit dem ersten Frühlingshochwasser fortgeschwemmt würde, aber eine solche Arbeit – ist das Resultat großer Hektik und Eile. Wir beeilten uns, damit es uns gelang, den Zeitplan zu erfüllen.

Eine Kommission mit beeindruckenden Abbildungen der Eisenbahnlinie sowie der darauf verkehrenden Züge wurde nach Moskau geschickt. „Kein Grund zur Besorgnis“, sagte der Inspektor. Es gab eine Anweisung der Leitung hunderte von Leuten zur Arbeit an beide Endpunkte der Bahnstrecke zu schicken. Diese Eisenbahnstrecke wurde durch nichts und durch niemanden unterstützt, außer durch geschwächte Menschen. Beide Seiten sollten aufeinander zuarbeiten und sich irgendwo in der Mitte treffen.

Die Anordnung wurde unterschrieben, der Befehl erteilt, die Arbeit wurde in Angriff genommen.

Je näher der arktische Winter rückte, um so mehr verstärkte sich bei allen die Anspannung, und die ganze Situation wurde noch grausamer.

Irgendein Unbekannter lag neben mir auf der Pritsche und gab mir nachts etwas von seiner kläglichen Wärme ab, und bekam dafür als Gegenleistung etwas von meiner. Es war eine jener Nächte, in denen der Wind durch alle Ritzen drang. Am Morgen entdeckte ich, daß mein Nachbar tot war, und das hat mich so sher erschüttert, daß ich, während ich einen Befehl der Wachen ausführte, wie ein Kind in Tränen ausbrach.

Am Vorabend des Neujahrstages begingen die Wachmannschaften den Feiertag; die ganze Nacht hindurch waren sie fröhlich und veranstalteten Saufgelage. Das Licht aus ihrer Baracke erhellte die gesamte Umgebung. Bei schrecklicher Kälte plünderten 6 Gefangene die Garage und fuhren mit Fahrrädern in die Tundra. Spät in der Nacht entdeckte einer der Wachhabenden das Verschwinden der Fahrräder. Die betrunkenen Wachen ließen die halbverhungerten und völlig geschwächten Menschen in Reih und Glied zum Appell antreten.

Sie schimpften und machten sich dann auf die Suche nach den Vermißten. Am Morgen hatten sie alle sechs mit den Fahrrädern Geflohenen gefunden, genauer gesagt ihre erfrorenen Leichen“.

Bis zum Jahr 1951 war klar geworden, daß die Große Stalinsche Eisenbahnlinie nicht zeitplangemäß fertiggebaut würde. Aber die Anweisungen Stalins blieben in Kraft. Zwischen der östlichen und westlichen Abzweigung blieb eine Entfernung von mehr als 500 Meilen offen. Aber selbst dann, als die Eisenbahnlinie gelegt war, war die Höchstgeschwindikeit der Lokomotive auf 10 Meilen pro Stunde beschränkt.

Der einsetzende Winter stellte sich als einer der allerfrostigsten heraus.

„ Das Wetter konnten wir exakt selber voraussagen, ohne Meßgeräte. Gefrorener Nebel bedeutete eine Außentemperatur von minus 40 Grad. Wenn man noch leicht atmen konnte, beim Atmen jedoch ein heftig klirrendes Geräusch enstand, dann hatten wir minus 50 Grad. Und wenn sich in der Luft so etwas in der Art von gefrorenen Holzspänen befand und das Atmen schwerfiel, dann waren es minus 60 Grad. Bei unter minus 60 Grad gefror der Speichel in der Luft“.

Starker Frost veränderte den Menschen und nahm in erster Linie Einfluß auf dessen Körper und durchdrang die Seele.

Wenn die Knochen erfrieren konnten, dann war es auch dem Verstand nicht möglich durchzuhalten. Mit der Seele verhielt es sich auch so, als ob sie sich in eine Muschel zurückzog, als ob sie eingefroren wäre, und in diesem Zustand konnte sie ewig verharren. Der Mensch verlor alles, außer der Hoffnung das durchzustehen, Essen zu bekommen, am Leben zu bleiben.

Solche rauhen Lebensbedingungen in den Lagern erschwerten den Wachleuten die Führung einer exakten Gefangenen-Registrierung. Die erfrorenen Leichen wurden oft in Bettücher eingeschlagen und andere Gefangene mußten sie dann auf die Straße hinausschleppen und dort aufschichten.

Am 25. März 1953, 20 Tage nach dem Tod Stalins, faßte der Ministerrat der UdSSR den Beschluß, den Bau der Stalinschen Eisenbahnlinie einzustellen. Die Häftlinge arbeiteten Monate danach immer noch, beschäftigten sich mit der Demontage, schleppten Haken und Schienen fort.

Es existieren keine offiziellen Angaben über die Anzahl derer, die bei diesem Bauvorhaben umgekommenen sind. Schätzungen schwanken zwischen 60000 und 100000 Menschen.

Gegen Ende der Bauarbeiten waren mehr als 500 Meilen Schienenstränge gelegt; das entsprach einem Toten pro Schwelle.


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