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Fahrschein für die Hinfahrt

Forschungsarbeit von Schülern der höheren Klassenstufen

Ausgeführt von: Aichhorn, Sascha (deutsche Schreibweise möglicherweise auch Eichhorn; Anm. d. Übers.), Aleksandrowa, Marianna Schüler der 9. Klasse an der M-Arbatsker Mittelschule No. 8

Lehrerin: Artonowa, Ljudmila Iwanowna

2004

Es kam der Krieg, es kam das Elend,
sie vertrieben uns alle auf immer,
nachdem sie uns die Heimat, das Haus
und all das mühsam angeschaffte Hab und
Gut genommen hatten ...

Ohne Gerichtsverhandlung wurde allen
augenblicklich ein Etikett angeheftet.
Magst du auch so klar wie ein Stück Glas sein,
aber bist du in Deutscher, dann bist und bleibst
du ein – Faschist.

W. Esterle

In dem hier vorliegenden Aufsatz soll auf Grundlage von Archiv-Quellen und Erzählungen von Augenzeugen jener Ereignisse (den Großmüttern Amalia Gottliebowna Keller und Elisabetha Wilhelmowna Aichhorn) das Thema der Repressionen während des Großen Vaterländischen Krieges dargelegt werden.

In diesem Jahr wird der 60. Jahrestag des Sieges über das faschistische Deutschland begangen. Für diesen Sieg hat das russische Volk einen unermeßlich hohenPreis bezahlten müssen. Dazu gehören nicht nur die unmittelbaren Verluste von Menschenleben auf den Schlachtfeldern und in den Besatzungsgebieten, sondern auch die Leiden zahlreicher Völker, die durch das stalinistische Regime in den 1940er Jahren gewaltsam aus ihren historischen Lebensräumen zwangsausgesiedelt wurden.

Tausende und zehntausende von ihnen kamen während dieses Umsiedlungsprozesses unterwegs ums Leben – durch Entbehrungen, Krankheiten und die alle Kräfte übersteigende Zwangsarbeit an den Orten ihrer Neuansiedlung.

Laut Angaben der Volkszählung von 1939 gab es in Chakassien lediglich 300 Deutsche oder 0,1% der Gesamtbevölkerung. 1

Gemäß der Volkszählung aus dem Jahre 1959 lebten in Chakassien schon 10.500 Deutsche, d.h. 2,6% der Gesamtbevölkerung, und sie stellten damit bereits die viertgrößte ethnische Gruppe in dem Gebiet dar. 2

Bei der Analyse der vorhandenen Dokumenten zur Geschichte der Deutschen in Chakassien kann man folgende Arten unterschieden:

- Ukase (Erlasse), Anordnungen der höchsten Machtorgane des Sowjet-Staates, die ganz genau die rechtliche, politische und soziale Lage der Deutschen in ihrer Eigenschaft als Sonderzwangsumsiedler definierten;

- Dokumente der örtlichen Partei- und Räte-Organisationen, die den Mechanismus enthüllten, mit dem diese Erlasse umgesetzt wurden.

Das erste Dokument, das eine jähe Wandlung im Schicksal des deutschen Volkes mit sich brachte, war der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR No. 21-160 mit der Unterschrift M.M. Kalinins vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutschen aus den Wolgagebieten und die Liquidierung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ 3. Darin heißt es, dass „sich unter der in den Kreisen des Wolgagebietes lebenden deutschen Bevölkerung tausende und zehntausende Diversanten und Spione befinden, die auf ein Signal aus Deutschland hin, Sprengungen durchführen sollen. Die deutsche Bevölkerung versteckt in ihren Reihen Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht“.

Aufgrund dieses Ukas wurde die in den Wolgagebieten ansässige deutsche Bevölkerung nach Kasachstan, Kirgisien und in Gegenden Sibiriens, unter anderem nach Chakassien, umgesiedelt.

Meine Großmutter Amalia Gottliebowna Keller erinnert sich: „ Ich wurde am 4. August 1935 in dem Großdorf Schwedt, Gebiet Saratow, geboren; Nationalität Deutsche; Mädchenname Altergot, Ehename Keller. Weit entfernt von Sibirien bin ich geboren – am Mütterchen Wolga“. Außer ihr gab es vier Brüder: Gottlieb (geb. 1933), David (geb. 1937), Andrej (geb. 1939), Iwan (geb. 1941). Meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater sind beide im Jahre 1909 geboren. Die Uroma hieß genauso wie die Großmama – Amalia, und Urgroßvater Gottlieb hatte den gleichen Vornamen wie der älteste Sohn. Sie besaßen ein Haus, hielten ein Pferd, eine Kuh, Hühner, Schweine. Die Großmutter erinnert sich daran, wie sie mit dem ältesten Bruder zum Krebsefangen an den Fluß gegangen ist.

Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg,und im September 1941 wurde die Familie Altergott, ebenso wie die anderen deutschen Familien, entsprechend dem Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941, aus der Region Saratow ausgesiedelt. Der Grund – Verfolgung aus politischen Motiven. Großmutter war damals 5 Jahre alt, aber ungeachtet dieser Tatsache kann sie sich an dieses schreckliche, auf fremdem Boden durchgemachte Jahr und all die schlimmen Folgejahre erinnern, die ihrer Familie zuteil wurden. Lange fuhren sie in Güterwaggons, die bis an den Rand mit Menschen vollgestopft waren; jeder trug ein Bündel mit irgendwelchen Sachen und Essen in den Armen. Die kleineren Brüder weinten die ganze Zeit, bettelten um Essen und Trinken. In den Waggons war es heiß und stickig. Wo ihre Kuh und das Pferd hingekommen waren, das konnte niemand ihnen sagen, und wofür man eigentlich diese Menschen aus ihren Häusern vertrieb, das hat die Oma bis heute nicht begriffen.

Was konnten ihr Vater und ihre Mutter schon tun, beide Analphabeten, die erst 32 Jahre alt waren. Wessen hatten sie sich schuldig gemacht, sie, ihre Brüder, von denen der jüngste gerade erst 2 Monate alt war? Aber das Leben ging weiter,und irgendwie mußte man leben und aushalten in jener rauhen sibirischen Gegend, in die sie gekomemn waren. So gelangten sie in den nasarowsker Kreis, Region Krasnojarsk, in ein abgelegenes Dorf namens Sachapta, 60 km von der Stadt Nasarowo entfernt. Herbst, Schmutz und Schlamm, aufgeweichte Wege – so gelangten sie teilweise mit Fuhrwerken, hauptsächlich jedoch zufuß dorthin.

Bis an die jeweiligen Bestimmungsorte wurden sie von Wachen begleitet, denn ihre Familien-mitglieder waren zu Volksfeinden erklärt worden. Die Großmutter meint, sie hätten die Befürchtung gehegt, dass die menschen deutscher Nationalität auf Seiten Hitlers standen. Die Russen, das heißt die Bewohner des Dorfes Sachapta, begegneten den Zwangsumsiedlern mit Vorsicht, aber eine feindselige Haltung brachte ihnen gegenüber niemand zum Ausdruck. Krieg, Hunger, Verfall – jeder hatte schwer an seinem Kummer zu tragen, und deswegen schenkte auch niemand ihnen besondere Aufmerksamkeit.

Die eigentliche Ansiedlung und das Einrichten der wirtschaftlichen Verhältnisse der Sonderzwangsansiedler oblag den örtlichen Machtorganen. Auf einer Sitzung des Büros des chakassischen Gebietskomitees der Allrussischen Kommunisten Partei (Bolschewiken) vom 8. September 1941 wurde die Frage „Über die Einsetzung einer Dreier-Kommission zur Aufnahme der Umsiedler aus den Wolgegebieten, den Gebieten Saratow und Stalingrad und ihrer Unterbringung an den verschiedenen Orten“ erörtert. 4 Für die damit verbundene praktische Arbeit wurde eine Dreier-Kommission ins Leben gerufen, zu der der Sekretär des Gebietskomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) aus der Führungsgruppe W.N. Kolpakows, der Leiter der NKWD Gebietsverwaltung S.M. Jakubson und der stellvertretende Vorsitzende des Gebietsrates M.I. Gener gehörten.

Am 20. September 1941 erörterte das Büro des chakassischen Gebietskomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) eingehend die Frage „Über den entstehenden Kostenaufwand im Hinblick auf die Zwangsumsiedlung der Deutschen aus den Wolgagebieten“. 6

Man legte einen Plan fest, nach dem die Geldmittel zur Deckung der bei er Aufnahme der deutschen Sonderansiedler entstehenden Kosten auf die einzelnen Bezirke in Chakassien verteilt werden sollten. Des weiteren wurde entschieden, dass den Familien der deutschen Sonderumsiedlern, denen an den neuen Wohnorten keine Häuser zur Verfügung gestellt werden konnten, Kredite der landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank zum Bau und zur Renovierung von Häusern zugeteilt werden sollten. Die Höhe eines solchen Kredites lag in einer Größenordnung von 2000 Rubel, mit einer Laufzeit von 5 Jahren und einer jährlichen Zins-Tilgung von 3%. Ab dem 2. Jahr nach dessen Erhalt sollten weitere Maßnahmen für die Aufnahme von Sonderumsiedlern in Erwägung gezogen werden. Dabei erstreckte sich die Verordnung des Zentralen Exekutiv-Komitees und des Rates der Volkskommisare vom 17.11.1937 „Über Vergünstigungen bei der ländlichen Umsiedlung“ nicht auf Umsiedler aus den Wolgagebieten.

War man für die Aufnahme an den entsprechenden Orten gerüstet?

Nach den Berichten, die aus den verschiedenen Distrikten eingingen, waren in Chakassien bis zum 20. September 1941 von 2550 Häusern (man hatte vorgehabt, pro Familie 1 Haus zuzuteilen) lediglich 204 fertig geworden – das entsprach 8% der erforderlichen Anzahl.7

Die notwendige Höhe des Landwirtschaftskredites für die Einrichtung der Sonderumsiedler betrug 4.285.000 Rubel.8

Die angekommenen Umsiedler wurden verstreut in leeren, verkommenen, Bretterbuden ähnlichen Baracken untergebracht, die als Behausung wenig geeignet waren. Viele der Sonderumsiedler-Familien blieben ohne Obdach und Lebensmittel, es fehlte an Kleidung, Schuhwerk und anderen dringend benötigten Gegenständen.

Die Kinder litten darunter ganz besonders; sie konnten die Enbehrungen nur schwer ertragen. All das wirkte sich auf den Gesundheitszustand der deutschen Umsiedler aus. Unter ihnen befanden sich überwiegend ehemalige Dorfbewohner, und trotz der erheblichen Schwierigkeiten im Alltag, nahmen sie an den Produktionstätigkeitenb teil, traten Kolchosen bei.

Nach den Erinnerungen der Großmutter arbeiteten die Menschen Tag und Nacht in der Kolchose – Deutsche und Russen Seite an Seite. Die Familie Altergot war in einem kleinen Haus untergebracht, das den Namen „Brigade“ trug. Es befand sich im Viehhof und bestand aus einem Zimmer, in dem sich die kolchoseigenen Sättel, Pferdegeschirre, Kummets befanden, und es gab Pritschen, auf denen sie schliefen. Jeden Morgen wurde dieses Inventar mit hinaus genommen und jeden Abend wieder zurückgebracht, so daß während des Tages viele Leute dort herumliefen. Genau eine Monat später, als die Großmutter nach Sachapta kam, holten sie den Vater in die Arbeitsarmee, das heißt sie brachten ihn ins Lager.

Entsprechend dem Beschluß des Staatlichen Verteidiugungskomitees vom 14. Februar 1942 wurden alle deutschen Männer im Alter zwischen 17 und 50 Jahren in Arbeitskolonnen mobilisiert. Im Oktober 1942 wurde eine zusätzliche Mobilmachung deutscher Frauen durchgeführt, die keine Kinder unter drei Jahren hatten.

Die Arbeitskolonnen des NKWD gehörten zum System des GULAG, und die Lebensbedingungen darin unterschieden sich in nichts von den Stalinschen Konzentrationslagern.

Die Großmutter denkt zurück: „ ... wie ich mich jetzt erinnere, setzte der Vater uns alle auf seine Knie und sagte zur Mama: „Verkaufe alles, was du kannst, aber beschütze die Kinder“.

Wir sahen unseren Vater nie wieder. Fünfzig Jahre lang haben wir nicht gewußt, wo unser Vater ist; erst 1992 erfuhren wir, daß Vater nur zwei Monate nach seiner Zwangseinberufung in die Arbeitsarmee umgekommen ist und 1941 in einem Massengrab in der Region Perm beigesetzt wurde. Er ist mir als junger und hübscher Mann im Gedächtnis geblieben; er war erst 32 Jahre alt und 192 cm groß. Mein ganzes Leben lang habe ich jenen Tag vor Augen behalten, als wir uns vom Vater verabschiedet haben“.

Die gesamte übrige deutsche Bevölkerung stand unter der Aufsicht von NKWD-Sonder-Kommandanturen. Die Deutschen unterlagen einer ständigen Meldepflicht bei den zuständigen Kommandanten und besaßen nicht das Recht, sich über die Grenzen ihres Siedlungsbezirkes hinaus zu entfernen – nicht einmal für einen Tag. Das strenge Regime, das in der Siedlung herrschte, wurde mit der Verabschiedung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 26. März 1948 „Über die strafrechtliche Verantwortung von während des Großen Vaterländischen Krieges in entlegene Regionen der Sowjetunion ausgesiedelten Personen bei Flucht aus den Siedlungsgebieten“ noch weiter verschärft. In diesem Ukas heißt es, daß die Umsiedlung der Deutschen für immer erfolgt war und sie nicht das Recht besaßen, jemals wieder an ihre ursprünglichen Wohnorte zurückzukehren.

Schwere Zeiten waren das, sowohl in moralisch-psychischer, als auch in materieller Hinsicht.

Ihre Mama sah die Großmutter selten, weil sie sehr früh das Haus verließ und sehr spät zurückkam; sie arbeitete in der Kolchose. Sie selbst und der älteste Bruder Gottlieb paßten auf die jüngeren Geschwister auf. Im Winter 1941 wären sie beinahe verhungert. Es gab nichts zu essen; sie bettelten und baten um Almosen, ihre Arme und Beine waren geschwollen. Die Ortsansässigen besaßen wenigstens Kartoffeln, aber sie hatten gar nichts. Alle Lebensmittel, die sie mit sich genommen hatten, waren bereits aufgegessen. Immerzu wollten sie essen, die Brüder bettelten ständig um etwas Eßbares. Im Sommer war es etwas leichter: sie aßen Hühnchen und gruben die Wurzeln von Türkenbundlilien aus. Einmal überaßen Wanja und Andrej sich an Bilsenkraut und wären um ein Haar gestorben, im allerletzten Moment konnten sie gerettet werden.

Eine ständige Bleibe, eine Behausung auf Dauer, besaßen sie nicht – sie irrten von einem Eckchen ins andere. Von 1941 bis 1953 wechselten sie mehr als 10 mal die Stuben, und Stube – das bezeichnete nichts anderes als das Mieten eines einzigen Zimmers in einem Haus. Sie wohnten sogar auf dem Friedhof, dort stand ein kleines Wärterhäuschen von 3 x 4 Metern Größe. Sie schliefen auf Pritschen. Es gab einen Eisenofen, anstelle von Matratzen – Stroh. Den Ofen beheizten sie mit Reisig, die sie zusammen mit den Brüdern aus dem Wald mit nach Hause brachten. Nachts wühlten sie in den Abfalleimern, sammelten Kartoffelschalen, hefteten sie am Eisenofen fest, und wenn sie geröstet waren, dann aßen sie sie. Die Miete für ihre Unterkunft in der Stube, die Leute ihnen überlassen hatten, mußten sie abarbeiten. Die Großmutter wusch, blich, scheuerte die Fußböden in den Häusern der Wirtsleute mit einem Reibeisen und Sand, bis sie weiß waren. Um im Sommer nicht an Hunger zu sterben, verdingten sie sich und hüteten Kühe. 1942 lebte es sich etwas leichter, denn da verfügten sie bereits über ihre eigenen Kartoffeln, und jedem neuen Jahr sahen sie mit der Hoffnung entgegen, daß jeden Augenblick jemand kommen und ihnen sagen würde: macht euch fertig, ihr könnt nach Hause zurückkehren, aber leider geschah das nicht. Das Leben ging weiter, die Brüder wuchsen heran. Ab dem 9. Lebensjahr begannen auch die Kinder in der Kolchose zu arbeiten. Großmutter arbeitete im Hühnerstall, wo sie die Hühner versorgte; auf dem Getreide-Dreschboden arbeiteten jeweils zwei Mann - sie säuberten den Weizen, schaufelten den Weizen in den Schober,. Außerdem züchteten sie Runkelrüben und bewachten diese während der Nacht. Schwer war die Arbeit auch auf der Darre, aber dort konnte man wenigstens gerösteten Weizen essen. Sie erhitzten ihn, indem sie ihn einfach auf den Schaufeln über das Feuer hielten, und aßen ihn dort auch gleich auf oder schütteten ihn in ihre Stiefel und Jackentaschen und trugen ihn auf diese Weise nach Hause. Mit 13 Jahren begann die Großmutter in der Kolchose Heu zu mähen.

Im Alter von 10 Jahren, als der jüngste Bruder gerade 4 Jahre alt geworden war, brachte ihre Mama sie in die Schule, aber dort wurde ihnen gesagt, daß sie für die erste Klasse schon zu groß sei; aber eine Abendschule gab es nicht. Uns so blieb meine Großmutter, wie das Schicksal es bestimmt hatte, Analphabetin, ebenso wie ihr ältester Bruder Gottlieb. Die jüngeren Brüder erhielten teils 4, teils 7 Jahre Schulbildung.

Die Hoffnung, in das Gebiet Saratow zurückkehren zu können, schwand von Jahr zu Jahr. Der Krieg war schon zuende gegangen, aber trotzdem blieben sie auch weiterhin Volksfeinde und befanden sich unter Kommandantur-Aufsicht, unter der Kontrolle der Straforgane.

Am 4. August 1951 vollendete Großmutter ihr 16. Lebensjahr, und am 15. August starb ihre Mutter im Alter von nur 41 Jahren. Tag und Nacht arbeitend, hatte sie sich in der Kolchose eine Erkältung zugezogen und war anschließend an Meningitis erkrankt. Genau eine Woche hatte sie im Krankenhaus gelegen, als sie starb; da war der jüngste Bruder gerade erst 10 Jahre alt. Am 15. Oktober desselben Jahres wurde Amalia Gottliebowna Altergot von der Meldepflicht bei der Sonder-Kommandantur des MWD Nr. 63 im Bezirk Nasarowo, Region Krasnojarsk, freigestellt. Die Großmutter erinnert sich: „Die Menschen um uns herum begegneten uns mit Verständnis, hatten Mitleid mit uns, stellten uns nachts von der Arbeit frei; sie standen auf den Anhängern der Traktoren und pflügten Tag und Nacht, während ich nur tagsüber arbeitete. Der Brigadeleiter hatte Mitleid mit mir, weil ich doch für die jüngeren Brüder sorgen mußte“.

1953 wurde die Kommandantur abgeschafft, Großmutters Onkel, der sich im Norden in der Verbannung befand, kam nach Sachapta gefahren, und mit ihm zusammen zogen sie dann nach Taschtyp. Im Alter von 19 Jahren zog sie zum ersten Mal in ihrem Leben Filzstiefel an. Das Leben in Taschtyp gestaltete sich noch schwieriger als in Sachapta. Sie lebten in einer Erdhütte am Ufer des Flusses. Um ein Uhr nachts reihten sie sich in die Menschenschlange ein, um im Laden Roggenbrot zu ergattern.

Für jeden aus der Familie nahm das Leben seinen Gang. Die jüngeren Brüder beendeten die Handwerksfachschule, brachten den Armeedienst hinter sich und heirateten dann. Der älteste und der mittlere Bruder fuhren nach Krigisien und richteten sich dort ihr weiteres Leben ein. Am 1. Mai 1957 heiratete Großmutter meinen Opa - Wilhelm Wilhelmowitsch Keller, einen Deutschen, der zur Station Son, Region Krasnojarsk, deportiert worden war. Sie hatten einander in der Siedlung Malye Arbaty kennengelernt, wohin der Großvater umgezogen war, als dort eine neue Forstwirtschaftssowchose gegründet wurde; seine Eltern hatten diese Siedlung erbaut. Seit dem 1. Mai 1957 lebt Großmutter nun in der Siedlung Malye Arbaty.

Im Dorf Taschtyp hatte sie als Bäckergehilfin, Näherin und Reinmachefrau in der Kantine gearbeitet. In der Siedlung Malye Arbaty hackte sie Brennholz an der Station; wo konnte sie denn sonst noch arbeiten, wenn sie noch nicht einmal über die geringste Schulbildung verfügte. Nach der Geburt der Kinder, es sind drei an der Zahl - meine Mama, Onkel Sascha und Onkel Witja -, ginbg sie nicht mehr arbeiten. Die Hauptsache im Leben waren für sie die Kinder, ihre Familie, der heimische Herd.

Mit Beginn der Perestrojka keimte bei den Rußland-Deutschen die Hoffnung auf eine Rückkehr ins heimatliche Wolga-Gebiet auf.

Am 14. November 1989 wird auf einer Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR eine Erklärung verabschiedet, nach der „die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Völker, welche Opfer der gewaltsamen Umsiedlungen waren, als ungesetzliche und verbrecherische Aktionen anerkannt werden und die Sicherung ihrer Rechte gewahrt werden soll“.

Noch 1988 waren 5 Delegationen von Deutschen nach Moskau entsandt worden, um dort mit führenden Regierungsvertretern zusammenzutreffen; unter Ihnen befanden sich auch die in Chakassien lebenden F.G. Scheller und G.F. Kaiser. Wegen ihrer Aktivitäten in Chakassien standen sie, sowohl öffentlich als auch heimlich, unter der Beobachtung der Organe für Staatssicherheit, was durch zahlreiche schriftliche Beweisstücke und Informationen der KGB-Organe bestätigt wird. Eine große Anzahl von Dokumenten zum Problem der Wiederherstellung der deutschen Autonomie wurde von einem der Initiatoren der Gesellschaft der Deutschen „Wiedergeburt“ in Chakassien zusammengetragen, von A.I. Wagner.

Trotz aller Anstrengungen und Bemühungen blieb die Frage über eine Wiedererrichtung einer deutschen Autonomie an der Wolga auch weiterhin ungeklärt. Jetzt haben die örtlichen Abteilungen der Gesellschaft der Deutschen es sich zur Aufgabe gemacht, lediglich Sprache, Kultur, Sitten und Gebräuche sowie die Geschichte des deutschen Volkes zu erhalten.

Meine Arbeit möchte ich gern mit den Worten des englischen Philosophen F. Bacon beenden:

„Ein einziges ungerechtes Urteil hat noch mehr Unglück zur Folge, als viele kleine Verbrechen, die von Privatpersonen begangen werden; letztere verderben nur die kleine Rinne, durch die das Wasser läuft, nur vereinzelte Wasserstrahlen, wohingegen ein ungerechter Richter die Quelle selbst in Verruf bringt, und die Quelle – das ist das Leben“.

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1 50 Jahre Autonomes Gebiet Chakassien. Abakan, 1980, S. 6

2 Ebenda, S. 6

3 Zitiert nach: N.F. Bugaj 40-er Jahre „Die Autonomie der Wolga-Deutschen liquidieren ...“ Geschichte der UdSSR, 1991, No.2, S. 173

4 Filiale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien, Fond 2, Verz. 1, Akte 798, Blatt 162

5 Ebenda

6 Filale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien, Fond 2, Verz. 1, Akte 798, Blatt 190

7 Filale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien, Fond 2, Verz. 1, Akte 798, Blatt 207

8 Filale des Zentralen Staatsarchivs der Republik Chakassien, Fond 2, Verz. 1, Akte 798, Blatt 207

Die Lebensgeschichte meiner Großmutter Elisabetha Wilhelmowna Aichhorn (Eichhorn). Die Geschichte der Wolga-Deutschen

Die Deportation der Wolga-Deutschen stellt ein schreckliches und grausames Ereignis im Leben der Deutschen dar. Meine Großmutter – Elisabetha Wilhelmowna Aichhorn – wurde im Wolga-Gebiet geboren, in der Region Saratow, im Dörfchen Dönhof. Dort führte sie mit ihren Eltern und Geschwistern ein recht gutes Leben. Aber die Verordnung vom 28. August 1941 brachte eine jähe Wende. Wie es in dieser Verordnung hieß, befanden sich unter der deutschen Bevölkerung Diversanten und Spione, das heißt die Sowjetmacht hielt die Deutschen für Verräter. Man gab ihnen 24 Stunden. Innerhalb dieser Zeit mußten sie ihren Wohnort verlassen haben. Auf diese Weise wurden die Deutschen nach Sibirien vertrieben und un den verschiedenen sibirischen Kreisen verstreut angesiedelt. Meine Großmutter geriet nach Chakassien, in den Bogradsker Kreis – in die Kolchose Saragasch. Das Leben im Saragasch war die wahre Hölle für die verschleppten Deutschen. Mehrere Familien wurden zusammen in einer Baracke untergebracht – ohne jegliche Existenzmittel. Sie besaßen keine geeignete Kleidung, sondern liefen in Lumpen herum. Sie ernährten sich, von dem, was sie gerade hatten: sie liefern über die Felder, sammelten verfaulte Kartoffeln, Weizenähren, durchstöberten den Müll und bettelten um Almosen. Viele Menschen konnten einem derartigen Leben nicht standhalten; sie starben an Hunger und Kälte. Bald darauf wurde meine Großmutter, zusammen mit anderen Deutschen, zur Station Son, im selben Kreis, geschickt.

Das Leben an der Station Son unterschied sich in nichts von den Zuständen in Saragasch. Auch hier herrschten Hunger und Kälte. Die Männer wurden in die Arbeitsarmee eingezogen; daher blieben die Frauen mit ihrer Arbeit ganz allein zurückn. Sie bearbeiteten Bäume, schälten die Rinde von den Stämmen, trugen schwere Lasten und verrichteten im großen und ganzen sehr schwere Arbeiten. 1949 kehren die Männer aus der Arbeitsarmee zurück, und das Leben wird ein wenig leichter. Anfang 1950 werden die Deutschen in den taschtypsker Kreis, in die Siedlung Malye Arbaty, geschickt, allerdings zuerst nur die Männer, denn damals standen nur einige wenige Baracken in der Siedlung – das übrige Gelände war dicht mit Faulbeerbäumen und Johannisbeergestrüpp bewachsen. Man mußte erst Häuser bauen, und alles beschaffen, was sonst zum Leben notwendig war. So wird zu Beginn der 1950er Jahre in der Siedlung geschäftig gebaut – es entstehen Häuser und Geschäfte, ein Krankenhaus, eine Schule; eine Ziegelei wird in Betrieb genommen, es gibt ein Holzbeschaffungsrevier, einen forstwirtschaft-lichen Betrieb. Und nach und nach kommt das Leben in Gang. Meine Großmutter lebt noch heute in Malye Arbaty und erinnert sich mit Tränen in den Augen und schmerzendem Herzen an jene furchtbaren Jahre und schweren Zerreißproben, die dem Schicksal der Wolga-Deutschen zuteil wurden.

Schüler der 9. Klasse – Alexander Aichhorn

Szenen aus dem Video-Material „Fahrschein für die Hinfahrt“

Es kam der Krieg, es kam das Leid.
Für immer wurden wir vertrieben, man nahm uns Haus und Hof
und alles, was wir so mühsam erworben hatten ...
Und sogleich, in jenem Augenblick, heftete man uns
ein einziges Etikett an.
Magst du auch so rein sein wie Glas,
aber wenn du erst einmal ein Deutscher bist,
dann bist du auch schon ein Faschist.
(W. Estern)

 

Episode I. Sascha: Man sagt, daß der Krieg unterschiedliche Gesichter und das Schicksal der Menschen auf unterschiedliche Weise berührt. Aus der offiziellen Literatur und im Geschichtsunterricht erfahren wir von den Ereignissen an der Front, von den Kämpfen und Angriffsoperationen, aber wir wissen nur sehr wenig darüber, welche Tragödien und Dramen er den völlig unschuldigen Menschen brachte, und schließlich war es doch der Krieg, der zum Grund für ihr tragisches Schicksal wurde.

Heute wollen wir, das heißt Sascha Aichhorn und Marianna Alexandrowa, vom Schicksal derer berichten, die uns besonders nahe stehen – unseren Großmüttern: Amalia Gottliebowna Keller und Elisabetha Wilhelmowna Aichhorn, die 1941 im Wolga-Gebiet lebten, und in eben diesem Jahr 1941 sollen sie auch nach Sibirien verschleppt werden. Sie gerieten nach Chakassien, zur Station Son, und anschließend, im Jahre 1950, als das forstwirtschaftliche Revier in Son aufgelöst wurde, schickte man sie hierher – nach Maly-Arbat, denn man hatte beschlossen, hier ein neues Holzbeschaffungsgebiet zu eröffnen. Und genau hier leben sie noch heute. Unsere Siedlung befindet sich ganz im Süden Chakassiens; sie wurde 1950 gegründet.

Episode 2 (Sprecher im Hintergrund): auf Beschluß der Behörden begann man 1950 damit, die deutschen Zwangsumsiedler von der Station Son hierher zu verlegen.

Und an dieser Stelle entstand ein neues Revier, das später in „forstwirtschaftlicher Betrieb“ umbenannt wurde. Wie die Großmutter erzählte, gab es hier anfangs absolut nichts – nur Sumpf, Faulbeerbäume, Dickicht und Gestrüpp. Und die unter Kommandantur-Begleitung zwangsverlegten deutschen Umsiedler sowie Kalmücken sollten hier die Voraussetzungen für die Entstehung eines Holzbeschaffungsreviers gründen.

In unserer Siedlung gibt es eine Straße, die im Volksmund auch „die deutsche“ genannt wird, denn hier lebten früher, und auch heute noch, ausschließlich deutsche Familien.

Hier gehen wir nun also durch diese Straße, deren Häuser damals, Anfang der 1950er Jahre, von unseren Großvätern erbaut wurden; die Anbauten und Nebengebäude kamen dann später, in den 1970er Jahren, hinzu.

Nach ihren Erzählungen wohnten in jedem Haus drei Familien.

Die Wohnbedingungen waren äußerst schlecht: sie schliefen auf strohbedeckten Pritschen, das Geschirr wurde von allen gemeinschaftlich benutzt, sämtliche Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs sowie Arbeitswerkzeuge befanden sich in einem Raum.

Heute ist der 25. Dezember, Weihnachten - für die Katholiken der wichtigste kirchliche Feiertag, den unsere Großmütter feiern, denn sie sind beide katholisch-lutheranischen Glaubens.

Episode 2 (im Bild): Elisabetha Wilhelmownas Wohnung. Auf dem Tisch liegen kirchliche Bücher, der Text des Katechismus von Martin Luther, eine (katholische) Bibel; man hört ein Gespräch in deutscher Sprache, deutsche Lieder.

Man hört folgenden Kommentar: die Großmütter sind katholisch (lutheranisch), zu Sowjetzeiten war es ihnen verboten, sich zu versammeln, gemeinsam Gebete zu lesen und zu Hause eine Bibel zu besitzen, aber ungeachtet dieser Verbote bekannten sie sich auch weiterhin heimlich zu ihrer Religion.

Episode 3. Sascha: Für den Sieg über das faschistische Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg, dessen 60. Jahrestag in diesem Jahr begangen wird, zahlte mußte das sowjetische Volk einen ungeheuer hohen Preis zahlen. Dazu gehören nicht nur die Verluste von Menschenleben auf den Schlachtfeldern und in den vom Feind besetzten Gebieten, die zerstörte Wirtschaft und die schwere Arbeit im Hinterland. Für diesen Sieg erlitten auch zahlreiche Völker ein tragisches Schicksal, die durch das stalinistische Regime in den 1940er Jahren aus ihren historischen Lebensräumen an andereOrte zwangsumgesiedelt wurden. Tausende und zehntausende von ihnen kamen während des Umsiedlungsprozesses unterwegs ums Leben, starben wegen der schlechten Ernährung, an Krankheiten oder aufgrund der schweren Arbeit an den neuen Aufenthaltsorten, die all ihre Kräfte überstieg.

Marianna: Und heute. Unsere Erzählung wird sich mit jenen befassen, in deren Schicksal der Krieg und die Nachkriegsjahre ihre besonderen und äußerst erbarmungslosen Spuren hinterlassen haben. Wir wollen heute vom Schicksal unserer Großmütter berichten: Elisabetha Wilhelmowna Aichhorn und Amalia Gottliebowna Keller (Altergot).

In den ersten Kriegsmonaten, als die faschistischen Armeen gen Moskau marschierten, genauer gesagt – am 28. August 1941, wurde ein Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR unter der Akten-Nr. 21-160 veröffentlicht. Es war von M.I. Kalinin persönlich unterzeichnet und sollte die „Umsiedlung der im Wolga-Gebiet lebenden Deutschen“ regeln.

Darin wurde völlig ohne jegliche Grundlage behauptet, daß es „unter ihnen zehntausende von Diversanten und Spionen gäbe ...“. Auf Basis dieser Regierungsverordnung wurden die in den Wolga-Gebieten ansässigen Deutschen nach Kasachstan, Kirgisien und in verschiedene Regionen Sibiriens zwangsumgesiedelt, unter anderem auch nach Chakassien.

Episode 3: Elisabetha Wilhelmowna ind Frieda Wasiljewna erzählen vom Leben an der Wolga: von der Wirtschaft, dem Haus, ihrer Lebensweise und womit sie sich beschäftigten. Später berichten sie darüber, wie sie zwangsumgesiedelt wurden – wieviel Zeit man ihnen für die Vorbereitungen zur Abreise gab, was sie mitnehmen durften, wie sie Haus und Hof zurücklassen mußten, wie sie dann nach Sibirien fuhren und schließlich an der Station Son (Chakassien) ankamen.

Episode 4. Marianna: Laut Protokoll des Büros des chakassischen Gebietskomitees der WKP (B) begann die Arbeit hinsichtlich der Aufnahme und Unterbringung der Zwangsumsiedler am 8. September 1941 mit der Einsetzung einer Gebiets-Trojka aus den Reihen der Vorsitzenden des Gebietskomitees der WKP (B), der regionalen NKWD-Verwaltung und des Exkutiv-Komitees des Gebiets-Soviets. Es war geplant, 10.500 Deutsche auf dem Territorium der Region zur verstreuten Ansiedlung aufzunehmen. Damit sie sich dort ihr Leben einrichten konnten, hatte man für sie die Bewilligung von Krediten in einer Größenordnung bis zu 2.000 Rubel vorgesehen. Diese sollten sie von der Landwirtschaftsbank mit einer Laufzeit von 5 Jahren erhalten. Ferner sollte im Augenblick der Vertreibung der Deutschen eine Auflistung über das von ihnen abgegebene Vieh und Getreide gemacht werden, damit sie an den neuen Aufenthaltsorten ebenfalls wieder Vieh zur Verfügung gestellt bekamen. Aber unter den Bedingungen, wie sie zur Zeit des Krieges herrschten, schien das nicht möglich zu sein.

War man für die Aufnahme an den neuen Aufenthaltsorten gerüstet? Nach Berichten, die aus den einzelnen Kreisen kamen, waren am 20. September 1941 von 2550 Häusern (man hatte die Absicht, pro Familie ein Haus zuzuteilen) lediglich 204 Häuser fertiggestellt – das entsprach 8% der geforderten Anzahl. Im September-Oktober 1941 trafen die ersten Transporte mit Sonderzwangsumsiedlern in Chakassien ein.

Episode 5: Bericht der Amalia Gottliebowna über das Leben in Sapachta (Chakassien) – wie sie dort ankamen, wie sie untergebracht waren und welche Erfahrungen sie durchmachten, welche Nöte und Entbehrungen sie durchstehen mußten (im Bild zu sehen: Fotografien aus dem Familien-Archiv).

Marianna: Aus den Informationsmaterialien, aufgezeichnet vom chakassischen Gebietskomitee der WKP (B), Sektor für Informationswesen, durch die Instruktorin und Berichterstatterin des Schirinsker Bezirkskomitees der WKP (B) Makejewa : „Im Oktober 1941 kamen 2160 Wolga-Deutsche in unserem Kreis an, darunter 175 Spezialisten – davon 18 Mitglieder der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken und 11 Komsomolzen. Sie alle wurden auf Kolchosen und Bezirks-Sowchosen verteilt, wo bereits vorher Unterkünfte für sie vorbereitet worden waren. Was die Behausungen betrifft, so sind die Umsiedler zufriedenstellend untergebracht; Verpflegung wird den Umsiedlern durch die Kolchosen zugeteilt ...“. In ähnlich lautenden Informationen niedergeordneter Parteiorgane spürt man deutlich deren Bemühen, ihre Tätigkeit mit beschönigenden Worten darzustellen. Wie kann denn schon von einer zufriedenstellenden Versorgungslage die Rede sein, wenn das Volk Hunger litt.

Episode 6. Sascha: Laut Anordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 14. Februar 1942 wurden alle deutschen Männer im Alter zwischen 17 und 50 Jahren in Arbeitskolonnen mobilisiert, das heißt in die Arbeitsarmee. Im Oktober 1942 wurde eine zusätzliche Mobilmachung aller deutschen Frauen durchgeführt, sofern sie nicht Kinder unter 3 Jahren hatten.

Die Zwangsarbeitskolonnen des NKWD gehörten zum GULAG-System, und die Lebensbedingungen dort unterschieden sich in nichts von den stalinistischen Konzentrationslagern.

Die Sonderumsiedler befanden sich unter der Aufsicht von NKWD-Kommandanturen. Deutsche und andere Umsiedler unterlagen einer ständigen Meldepflicht bei den für die entsprechenden Abschnitte zuständigen Kommandanten. Sie besaßen nicht das Recht, sich über die Grenzen ihres Wohnbezirkes hinaus zu entfernen, nicht einmal für einen Tag. Das Regime wurde noch verschärft durch die Verabschiedung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948 „Über die strafrechtliche Verantwortung bei Flucht von während des Krieges in entlegene Kreise der UdSSR ausgewiesenen Personen aus den Ansiedlungsorten“. In diesem Ukas hieß es, dass die Umsiedlung der Deutschen auf unbefristete Zeit durchgeführt worden war und dass ihnen das Recht abgesprochen worden war, jemals an ihren vorherigen Wohnorte zurückzukehren. Für eigenmächtiges Sich-Entfernen (dies kam einem Fluchtversuch gleich) aus den Gebieten der Zwangsansiedlung trat nunmehr eine strafrechtliche Verantwortung in Kraft – 20 Jahre Zwangsarbeit.

Es folgt ein Bericht der Großmutter über das Leben an der Station Son und in Sachapta.

Sascha: Auf einer Sitzung des Büros des Gebietskomitees und der Bezirkskomitees der WKP (B) wurden die Unternehmensleiter darüber unterrichtet, dass es unzulässig sei, die Ausgesiedelten über die Grenzen ihrer Wohnbezirke hinaus zur Arbeit zu schicken. Sollte es dennoch zu Fluchtversuchen von Zwangsumsiedlern kommen, würden diese Leiter zu Komplicen erklärt, wodurch sie sich strafbar machten und zu 5 Jahren Freiheitsentzug verurteilt würden.

Unter den aus persönlichen Archivbeständen stammenden Dokumenten des Zentralen Staatsarchivs befindet sich auch die Genehmigung des Kommandanten der Sonderkommandantur der MWD-Verwaltung der Stadt Abakan zur Abfahrt der Familie Emich in einen Vorort von Abakan für die Dauer von 2 Tagen, um dort Kartoffeln zu ernten. Dies verdeutlicht sehr anschaulich das Regime, das für die Deutschen in der Sonderansiedlung herrschte, aber trotz aller angewandten Maßnahmen gelang es dennoch nicht vollständig, eine andauernde Migration unter der deutschen Bevölkerung zu erreichen. Nach Auskünften der MWD-Behörden der Region Krasnojarsk gab es im Jahre 1948 mehr als 1000 Fluchtversuche Ausgesiedelter; davon flohen aus dem Taschtypsker Kreis 43, aus dem Bogradsker 27 und aus dem Schirinsker 36 Personen.

In der Regel handelte es sich dabei um Versuche der unterschiedlichsten Familien, sich mit ihren Angehörigen wiederzuvereinen.

In den Beständen des Zentralen Staatsarchivs existiert eine ganze Reihe archivischer Ermittlungsakten, nach denen Sonderumsiedler wegen versuchter Flucht angeklagt wurden ...

Es folgt ein weiterer Bericht der Großmutter.

Sascha: Die Aufhebung der Meldepflicht für die in der Sonderansiedlung befindlichen Deutschen und deren Familienmitglieder sowie ihre Freistellung von der administrativen Aufsicht durch die NKWD-Behörden vollzog sich erst nach der Verabschiedung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955.

Episode 6: Elisabetha Wilhelmownas Bericht darüber, wie ihnen die Behörden verboten, Gottesdienste abzuhalten und Bibeltexte sowie andere Kirchenbücher beschlagnahmten; es gab Denunzierungen bei den Behörden, ständige Bedrohungen und Angst (auf dem Tisch liegen Bibeltexte in deutscher Sprache, Martin Luthers Katechismus und Fotografien aus den 1950er Jahren – aus der Zeit, in der die Siedlung Maly Arbat gegründet wurde).

Episode 7. Marianna: Heute fällt es schwer zu glauben, dass all dies geschehen konnte, dass der Staat es sich herausnehmen konnte, derart mit dem Menschen umzugehen, seine Rechte und seine Freiheit dermaßen zu verletzen, sogar die Freiheit der Gedanken und der gesprochenen Worte. Und wir, die heutige Generation, müssen das erfahren und in der Erinnerung behalten, denn die Geschichte birgt in sich die Eigenschaft sich zu wiederholen“.


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