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Das heldenhafte Schicksal einer einfachen Dorfschullehrerin

Bildungsministerium der Russischen Föderation
Abteilung für Bildung des Bezirks Minusinsk, Region Krasnojarsk
Städtische Bildungseinrichtung – Allgemeinbildende Mittelschule N° 13 in Schoschino

Autorin: Alina Charatjan

Projektleitung: Tatjana Iwanowna Muschailo, Lehrerin für Geschichte und Gesellschaftskunde an der Städtischen Bildungseinrichtung der Allgemeinbildenden Mittelschule N° 13 in Schoschino.

Schoschino, 2008

Aktualität des Themas:
Die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfernen sich immer mehr aus unserem heutigen Zeitgeschehen. Die umfangreiche und tiefgehenden Umgestaltungen der letzten 10-15 Jahre haben das heutige Rußland sozusagen in einen Gegenspieler der ehemaligen UdSSR und des russischen Imperiums verwandelt. Patriotische Erziehung, die heutzutage sehr aktuell ist, läßt sich nicht ohne Rückblick auf die Vergangenheit und ohne Bezug zum zeitgenössischen Leben aufbauen. Wenn wir wollen, daß die russische Gesellschaft die Bedingungen für politische Freiheit achtet und auch zu verteidigen versteht, dann ist es wichtig, daß die Jugend bereits auf Schulebene eine klare Antwort auf die Frage erhält, was eigentlich eine Gesellschaft darstellt, in der die Rechte von Menschen verletzt werden und wie Menschen in einer solchen Gesellschaft leben, damit sich so etwas niemals wiederholt. Für die Jugendlichen ist es sehr schwierig, sich auszumalen, was damals geschehen ist. Das Wesen der mit den Repressionen, der Umsiedlung und den Deportationen in Zusammenhang stehenden Ereignisse sowie die Beweggründe für diese Geschehnisse, läßt sich ohne besondere Hinweise und konkrete Beispiele unmöglich begreifen. Eben deswegen ist eine Begnung mit noch lebenden Zeugen dieser Ereignisse äußerst wertvoll. Menschen, die die Jahre der politischen Verfolgung, die Deportation und den Krieg miterlebt haben, wissen um den Wert des Lebens, können anhand ihres eigenen beispiels überzeugend beweisen, daß man für sein Leben um jeden Preis kämpfen muß.

Ziel des Referats:

1. Das Aufzeigen eine der schrecklichsten Seiten in der Geschichte des Landes auf Grundlage von vorhandener Literatur, Archivmaterialien sowie anhand des Schicksalsbeispiels einer einfachen Dorfschullehrerin, die die ganze Schwere der Deportation mitgemacht hat;

2. Sich selbst und andere mit dem Schicksal einer Frau bekanntzumachen, die in aller Bescheidenheit in unserer unmittelbaren Umgebung lebt, die für unsere Generation eine Legende darstellt und über die wir bisher so gut wie nichts wußten.

Aufgabenstellungen:

1. Den Zeitraum der Deportationen in der UdSSR in Kurzform charakterisieren;
2. Die Ereignisse beschreiben, die die Familien der deportierten Deutschen miterleben mußten – hier ganz konkret am Beispiel der Familie Fertich während der Umsiedlung;
3. Den Weg von Jekaterina Henrichowna nachzuzeichnen, den sie bis zur ihrer Einstellung als Lehrerin nahm;
4. Ihren Beitrag zum Leben unseres Dorfes und dem Leben der hier wohnenden Menschen zu bewerten.

Inhaltsangabe:
1. Einführung
Aus der Geschichte der Repressionen und Deportationen in der UdSSR.
Über die Deportation der Deutschen in den Bezirk Minusinsk.
2. Hauptteil
2.1. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Umzug nach Sibirien (nach den Erinnerungen der J.G. Filatowa)
2.2 Schwierige Lebensverhältnisse im Dorf Kotschergino (nach den Erinnerungen von J.G. Filatowa).
2.3 Schul- und Studienjahre (nach den Erinnerungen von J.G. Filatowa).
2.4 J.G. Filatowas Familie
3. Schlußfolgerungen
3.1. Das Schicksal der J.G. Filatowa im Schicksal meines Dorfes.

I. Einführung. Aus der Geschichte der Repressionen und Deportationen in der UdSSR.

Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg, „der seit Beginn der Existenz einer menschlichen Zivilisation als blutigste humanitäre Katastrophe weltweiten Ausmaßes “ in die Geschichte eingehenden sollte (Die Geschichte der politischen Repressionen und der Widerstand gegen die Unfreiheit in der UdSSR, S. 150).

Es war der Anfang rauher Schicksalsschläge, die auf das Los derer entfielen, die das stalinistische Regime den „eingeschworenen Feinden der Sowjetmacht zurechnete, die voller Haß auf den sozialistischen Aufbau eingestimmt waren“.

Ab Beginn des Jahres 1940 vollzogen sich Deportationen von hundertausenden von Bewohnern der westlichen Gebiete der Ukraine und Weiß-Rußlands weit in die Tiefen Sibiriens hinein. Zuallererst wurden im Februar Züge mit mehr als 140.000 Sonderumsiedlern aus den Reihen der sogenannten „Osadniks“ (polnisches Lehnwort für “Siedler”, das in der Sowjetunion für Veteranen der Polnischen Armee verwendet wurde, die in den westlichen Landesteilen der Ukraine und Weiß-Rußlands aufgrund ihrer Teilnahme am Krieg von 1919-1920 gegen Sowjetrußland Landanteile erhalten hatten, welche im Polnisch-Sowjetischen Vertrag von Riga 1921 an Polen abgetreten worden waren und 1939 von der Sowjetunion erneut besetzt wurden) gen Osten geschickt. Ihnen folgten im April, entsprechend dem Beschluß des Politbüros vom 2. März, 61.000 auf administrativem Wege ausgesiedelte Familienmitglieder repressierter polnischer „Offiziere, Polizeiangehöriger, Gendarmen, Gefängniswärter, Gutsbesitzer, Fabrikanten, hochgestellter Beamten und Mitglieder konterrevolutionärer, aufständischer Organisationen“. Der dritte Strom zur Deportation bestimmter Menschen vollzog sich Ende Juni / Anfang Juli; er setzte sich zusammen aus Bewohnern der Ukraine und Weißrußlands, die aus den von Deutschen besetzten polnischen Territorien stammten. Der Einmarsch Nazideutschlands in die Sowjetunion förderte as Wiederaufleben wahrer moralisch-ethischer Werte innerhalb der Gesellschaft. Die über dem Lande hängende tödliche Gefahr, die in dem Moment gegenwärtig wurde, als es nicht mehr nur um die Existenz eines unabhängigen Staates, sondern auch um das physische Überleben von Millionen von Menschen ging, weckte in den Leuten die Bereitschaft, um jeden Preis und egal, was auch kommen mochte, die Freiheit des Landes zu verteidigen. Man wundert sich über die Widersprüche.Einerseits wurden lebenswichtige Maßnahmen zum Widerstand gegen die Aggressoren und zur Mobilisierung der Wirtschaft getroffen. Aus den Gefängnissen und Lagern wurden nicht nur einige schon früher verfolgte hochrangige Militärs, bedeutende Konstrukteure und großartige Organisatoren der kriegstechnischen Industrie, entlassen, sondern auch Hundertausende, die aufgrund des Ukas vom 26. Juni 1940 verurteilt worden waren. Dies gestattete im wesentlichen eine Festigung von Front und Hinterland. Das Recht auf Verteidigung des Vaterlandes mit einer Waffe in den Händen wurde auch den Sonderumsiedlern aus den Reihen der in den 1930er Jahren enteigneten Großbauernschaft eingeräumt. Dazu erinnert sich im folgenden A. Woltschok, Bewohner des Gebietes Smolensk: „Es war so, als ob der schreckliche Krieg vor dem Angesicht der schwierigen und schrecklichen Lebensumstände alle auf eine Ebene gestellt hatte. Sowohl die Behörden, als auch die Ausgestoßenen hatten ein gemeinsames Ziel – zu überleben, durchzuhalten“. Andererseits jedoch setzte das totalitäre Regime in Bezug auf das eigene Volk und sogar unter den Bedingungen dieses schrecklichen Krieges, seine Praxis der grausamen Verfolgungen der sogenannten inneren Feinde aus den Reihen völlig unschuldiger Menschen fort. Es fällt schwer, nicht mit dem russischen Philosophen nd Denker I.A. Ilinij einigzugehen, der einmal schrieb, daß „der NKWD-Terror während des Krieges, wie es stets zu gefährlichen Zeiten der Fall gewesen war, an Gewalt um das Doppelte zunahm“ (Geschichte der politischen Repressionen und der Widerstand gegen die Unfreiheit in der UdSSR, S. 157-159).

Da ab Ende 1941 klar wurde, daß sich der Krieg gegen die UdSSR noch länger hinziehen würde, und die Wirtschaft des Dritten Reiches dringend zusätzliche 2,6 Millionen Paare arbeitender Hände benötigte, faßte die nazistische Leitung einen Beschluß über den Arbeitseinsatz russischer Kriegsgefangener. Gleichzeitig wurden in der nazistischen Ökonomie jetzt auch Zivilpersonen zum Arbeiten herangezogen, die man mit besonderer Gewalt aus den besetzten Sowjet-Territorien ins Reich deportierte. „Züge mit verschleppten sowjetischen, ganz friedlichen Bewohnern bewegten sich während des Krieges nicht nur gen Westen, sondern auch in Richtung Osten; so wurde im sowjetischen Hinterland die Praxis der gewaltsamen Aussiedlung in weit entlegene Regionen des Landes aus Gründen der Nationalitätenzugehörigkeit angewandt. Zunächst wurde ein Großteil der Bewohner der Autonomen Repubik der Wolgadeutschen verschleppt. Im Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 wurde diese Aktion mit eindeutig ausgedachten „Angaben“ darüber begründet, „daß es unter der in den Wolgagebieten lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione gibt, die auf ein Signal aus Deutschland hin in den von Deutschen bewohnten Wolgarayons Sprengungen vornehmen sollten. Die Aussiedlung von Deutschen geschah aber nicht nur aus der Wolgarepublik, die schon bald darauf liqudiert wurde, sondern auch aus den Gebieten Stalingrad, Saratow und anderen Regionen des europäischen Teils der UdSSR. Zu Beginn des Jahres 1942 unterlagen
insgesamt etwa 1,1 Millionen Deutsche einer solchen gewaltsamen Verschleppung. Betroffen waren auch Wehrdienstleistende deutscher Herkunft, die aus den Streitkräften demobilisiert und in die Arbeitsarmee gesteckt wurden, wo sie faktisch den gleichen Status wie Gefangene hatten.“ (Die Geschichte der politischen Repressionen und des Widerstandes gegen die Unfreiheit in der UdSSR, S. 160).

Über die Deportation von Deutschen in den Bezirk Minusinsk

Laut Angaben des Archivs in Minusinsk, Fond 275, Verzeichnis 1 und N° 483, wurden Deutsche in den Bezirk Minusinsk in Dörfer wie beispielsweise Tigritzkoje, Lugawskoje, Bystraja, Tes und Schoschino. In Schoschino trafen die Familien Faller, Wolf, Bauer, Gendel (Hendel? Händel?) und andere ein. Insgesamt wurden mehr als 2475 Umsiedler und Deportierte un die verschiedenen Dörfer dieses Bezirks gebracht (Archiv der Stadt Minusinsk: Fd. 275, Verz. 1 und N° 483).

2. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Umzug nach Sibirien

Meine Arbeit ist einem Menschen gewidmet, der zunächst in das Dorf Kotschergino, Bezirk Kuragino, deportiert wurde, jedoch einen Großteil seines Lebens in meinem geliebten Dorf Schoschino verbrachte. Die Rede ist von Jekaterina Genrichowna (Heinrichowna) Filatowa – einer Mathematiklehrerin, die auf eine Arbeitszeit von 46 Jahren zurückblicken kann. Meine Arbeit habe ich mit den Worten dieser bewundernswerten Frau verfaßt.

Im Dorf Bauer, Gebiet Saratow, Bezirk Kamenka, in der Familie von Genrich (Heinrich) Johannowitsch Fertich und Anna Karlowna (sie befinden sich auf den Fotos unten)

      

Am 18. Dezember 1935 wurde Töchterchen Katja geboren, das erste Kind. Das Elend kam ins Haus, als Katherina noch im Vorschulalter war. „Nach den Erzählungen der Mutter und des Vaters gab man ihnen eine Woche (vielleicht auch ein wenig mehr oder etwas weniger) um alle Sachen zu packen. Zuhause erschienen Leute, die eine Bestandsaufnahme vom Besitz machten. Sie notierten separat auf einem Stück Papier das Vieh, auf dem anderen den übrigen besitz“. Lange bewahrten Jekaterinas Eltern diese Bescheinigungen auf, aber jetzt befinden sie sich nicht in ihrem Besitz. „Also, wegen der kurzen Frist wurde alles umgeschrieben und abgegeben, und wir durften nur ein Minimum mitnehmen: das waren eine Truhe, in denen sie den Backofen hineinstellten, ein paar Tassen, Löffel und einige Kleidungsstücke“. „Und Lebensmittel, aber ich weiß nicht mehr welche; aber ich kann mich noch ganz klar daran erinnern, - sagt Filatowa, - wie Mama kleine Plätzchen buk und diese zu mehreren Ketten auf einen Faden aufzog, die sie, als sie schon in Kotschergino eingetroffen waren, an einen Nagel hängen wollten: aber eines der Plätzchen zerbrach, und ein Stückchen fiel genau in eine Ecke unter dem Fußboden. Noch lange habe ich danach gesucht, konnte es aber nicht wiederfinden“.

Am 18. Dezember dieses Jahres vollendet Jekaterina Genrichowna Filatowa ihr 73. Lebensjahr. Ich betrachte ihr schneeweißes Haar und begreife, daß dieser schlohweiße Kopf nicht allein von ihrem Alter herrührt, sondern von allem, was sie in ihrem Leben durchgemacht hat. Und sie fährt mit soviel Traurigkeit in der Stimme mit ihrem Bericht fort. „Ich weiß noch, daß sie uns mit Sack und Pack zum Ufer der Wolga brachten. Dort war alles mit Truhen und Kisten vollgestellt, und dazwischen liefen die Eltern mit ihren Kindern umher. Ich war ein aufgedrehtes, unruhiges Mädchen; irgendwann verlief ich mich zwischen all den Truhen, und irgend jemand brachte mich später zu den Eltern zurück. Ich erinnere mich auch noch daran, daß auf der Wolga viele weiße Schiffe (Dampfer) schwammen. Sogar jetzt habe ich das Gefühl, alles noch ganz frisch vor den Augen zu sehen. Wie sie uns zum linken Ufer der Wolga übersetzen, wie wir auf die Waggons verladen wurden – Kuhställe wurden sie genannt – das weiß ich nicht mehr. Aber diese Truhen – die standen ganz dicht aneinandergedrängt, und auch übereinander, und wir rannten immerzu dorthin, um uns zu vergewissern, daß die unsrige noch da war“.

Die Frau schaut aus dem Fenster, lächerlt und fährt fort... „Natürlich hielt der Zug unterwegs auch mal an. Und an einer der Stationen stieg Großmutter Anna – die Mutter meines Vaters mit mit aus. Schon setzte sich der Zug wieder in Bewegung, und wir waren immer noch nicht zurück. Lärm, Geschrei. Jemand packte mich und versuchte, mich in den Waggon zuschieben. Ich sehe noch mamas Arme, die sich mir entgegenstreckten, mich ergriffen und hineinzerrten; und dann stießen sie auch noch die Großmama hinein. Nach uns ließen sie niemanden mehr aussteigen“.

Schwierige Lebensverhältnisse im Dorf Kotschergino

Der neue Wohnort, an den die Familie Fertich geschickt wurde, hieß Kotschergino im Bezirk Kuragino. Nach den Worten von Jekaterina Genrichowna „brachten sie uns nach Kotschergino und brachten uns mit mehreren anderen Familien in einem Haus unter. Als wir in Sibirien ankamen, hatten wir keine Lebensmittel; deswegen machten sich die Eltern zuallererst ans Umgraben des Gemüsegartens, um Kartoffeln zu aufzusammeln, die nach dem Ausgraben im Boden zurückgeblieben waren (das nannte man Stoppeln). Sie halfen den Bewohnern beim Graben und Tragen der Kartoffeln. Später trugen die Eltern ganze Bündel Brennholz von der Insel herüber, schüttelten die zusammengepreßten kleinen Stückchen haraus und trugen die Späne nach Hause. Damit heizten sie auch. An den langen Winterabenden und –nächten saßen unsere Eltern und strickten Schals, Pullover, große Tücher und Socken: sie stellten alles her, was die Einwohner bei ihnen bestellten, und sie taten es nur deswegen, um Lebensmittel dafür zu bekommen – Kartoffeln, Kohl, Rüben. Ich weiß auch noch ganz genau, wie ich einmal zusammen mit der Mutter einen gestrickten Schal zu einer Dorfbewohnerin brachte; sie bezahlte ihn mit einem Eimer gefrorener Rüben. Das hat auch damals meine Kinderseele verwundet, und ich kann mich jetzt nur mit Schaudern daran erinnern. Als Zahlungsmittel dienten auch erfrorene Kürbisse. Noch schwieriger wurde es für die Familie, als der Vater mit anderen deutschen Männern in die Trudarmee nach Kirow eingezogen wurde.

„Ich weiß noch, wie die Großmama – Vaters Mutter, die ganze Nacht in einer Ecke auf Knien zubrachte, um für das Leben ihrer fünf Söhne zu beten. Die letzten zwei (Karl und Jakob) haben sich bei der Arbeit in der Trudarmee zu Tode geschuftet. Großmutters Gebete halfen: drei ihrer Söhne konnte sie später lebend wiedersehen“. „Im Frühjahr 1942 pflanzten unsere Mütter nichts, in der Annahme, daß sie uns zurück in die Heimat schicken würden, aber das geschah nicht; deswegen mußten sie uns dann mit Hand- und Lohnarbeit irgendwie über die Runden bringen. Im Laufe des Jahres 1942 wurde ein Teil der Deutschen an andere Orte gebracht, und so kam die Großmutter mit ihrer Familie in die Stadt Turuchansk. Im Sommer 1943 kehrte der Vater krank und vollkommen geschwächt, kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten und ohne Zähne (aufgrund von Skorbut) aus der Arbeitsarmee zurück. Vor der Deportation hatte der Vater es noch geschafft, eine Ausbildung zum Traktoristen und Mähdrescherfahrer zu absolvieren. Nun schlug man vor, daß er einen Mähdrescher führen sollte. Daraufhin arbeitete er dann auf einem Mähdrescher der Marke „Stalinez“ – eine riesengroße Maschine, die einen kleinen Traktor hinter sich her zog. Der Vater war ein sehr gewissenhafter Arbeiter, er hatte keine freien Tage – weder bei schönem noch bei regnerischem Wetter. Er war in der Lage, bei der geringsten Veränderung des Motorengeräusches seiner Maschin zu sagen, an welcher Stelle etwas nicht in Ordnung war. Der Vetr gehörte auch stets zu den Bestarbeitern. Bei gutem Wetter erntete er zwischen 20 und 25 Hektar Getreide. Das Verhalten der Dorfbewohner gegenüber dem Vater, und auch gegenüber all seinen Brüdern, war gut, sie riefen ihn nur bei seinem Vor- und Vatersnamen. Der Vater mochte gern Späße machen; vielleicht war es gerade das, was die Leute zu ihm hin zog. Die Frauen waren mit ungelernten Tätigkeiten beschäftigt, und als die Kolchosen mit dem Tabakanbau anfingen, begannen sie in diesem neuen Produktionszweig sowie im Kolchosgarten zu arbeiten“.

Ungeachtet der Tatsache, daß die Deutschen an der Wolga lebten, wahrten sie ihre Traditionen, Sitten und Gebräuche, und vor allem verständigten sie sich untereinander auf Deutsch. Jekaterina Genrichowna erinnert sich, in dem sie behutsam die von ihr aufgehobenen Fotos vor sich auf den Tisch legt: „Ich ging in den Hof hinaus und stand lange Zeit neben dem Zaun. Wenn die Kinder zur Schule nach Schoschino gingen, standen sie lange auf der anderen Seite des Zauns, sprachen mit mir über irgend etwas, aber ich konnte ihnen nicht antworten. Wann ich Russisch gelernt habe, weiß ich nicht mehr“.

Schul- und Studienjahre

In die erste Klasse kam ich mit 8 Jahren; da sprach ich schon Russisch. Es gab keine Lehrbücher, und wir hatten auch kein Geld, um welche zu kaufen, aber ich konnte gut lernen. Ich weiß noch, wie Lehrer Tschemuin mich lobte; nur an seinen Vor- und Vatersnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich absolvierte 4 Klassen im Dorf Kotschergino; die 5. bis 7. Klasse absolvierte ich im Dorf Schoschino. Im Frühjahr uns Sommer gingen wir zufuß. Nach Abschluß der 7. Klasse wollte ich gern zusammen mit meiner Freundin am medizinischen Institut in Minusinsk studieren, aber ich durfte das Dorf nicht ohne Begleitung verlassen. Bis sie mir dann eindlich einen Begleiter bewilligten und wir auch tatsächlich in die Stadt Minusinsk zum medizinischen Institut fuhren, war es schon zu spät. Die Aufnahmeprüfungen waren bereits gelaufen. Nach Hause zurückgekehrt, begab ich mich in die Siedlung Kutagino und beendete dort die Klassen 8-10. In der Schule gehörte ich sowohl den Pionieren als auch den Komsomolzen an. Alle respektierten und achteten mich, allerdings wußte niemand, daß ich Deutsche war; das wurde verschwiegen, damit die anderen um Gottes willen nicht über uns redeten“. Viele Jahre war sogar ihr Vatersname ganz einfach und verständlich – Andrejewna. So nennen die Dorfbewohner sie auch heute noch.

„Später immatrikulierte ich am pädagogischen Institut der Stadt Abakan, um mein Studium an der Fakultät für Mathematik und Physik aufzunehmen. Aber bevor ich dorthin fuhr, wollten sie mir meine Meldebescheinigung vom Wohnort nicht aushändigen. Erst aufgrund der beharrlichen Intervention von Iwan Grigorjewitsch Kochanskij, der sich ganz zufällig auch dort im Kontor befand, gab man sie mir schließlich. Ich kam ans Institut und bewarb mich dort mit insgesamt vier Leuten um eine einzige Stelle“. Alle Deutschen, die nach Sibirien deportiert worden waren, befanden sich unter strenger Kontrolle der Kommandantur. Für die Familienmitglieder gab es eine Bescheinigung (Kopie s. Anhang 1). Aus den Erinnerungen von J.G. Filatowa: „Dem Vater hatten sie befohlen, einmal monatlich Rechenschaft über den Aufenthalt der Deutschen auf dem Dorfterritorium abzulegen, aber ich war diejenige, die das tun mußte. Sie gaben mir eine Vorlage, und dann schrieb ich: - keiner der Deutschen, die hier ihren Wohnsitz haben, hat in diesem Zeitraum (Tag / Monat) das Dorf Kotschergino verlassen. Der Vater unterschrieb das dann zum Schluß“. Besonders schwer waren die Kriegsjahre für diese menschen. Sie mußten abgefallene Ähren aufsammeln und gefrorene Kartoffeln essen; am Leben gehalten wurden sie auch durch Sauerampfer und andere eßbare Pflanzen, die von den Kindern gepflückt wurden.

J.G. Filatowas Familie

Nach Beendigung des Instituts fuhr Jekaterina Fertich zum Praktikum nach Schoschino, wo sie auch die Liebe ihres Lebens, Aleksej Michailowitsch Filatow fand, der an der Schule in Schoschino Geschichte lehrte. Es war Liebe auf den ersten Blick, und so beschlossen sie, ohne langes Zögern, zu heiraten. Am 10. August 1960, gleich nach der Hochzeit, reisten sie in den Bezirk Karatus, in das Dorf Wjerchnij Kuschebar, wo Aleksej Michailowitsch zum Schuldirektor ernannt wurde und Jekaterina Genrichowna zur Lehrerin für Mathematik und Klassenleiterin. Dort wurde ihre älteste Tochter Natalia geboren. 1962 zogen sie nach Schoschino um, wo die zweite Tochter – Ljudmila – das Licht der Welt erblickte. Die Töchter setzten die elterliche Sache fort: Natalia Aleksejewa - Direktorin an der Prigorsker Schule, schenkte der Großmutter zum 50. Geburtstag einen Enkel namens Andrej, der inzwischen am Moskauer Institut für Erdöl und Erdgas studiert. Er bereitet sich bereits auf seine Aspirantur vor. Ljudmila Aleksejewna arbeitet in einem Kindergarten in der Stadt Abakan. Dem Großvater machte sie zu seinem Geburtstag einen Enkel zum Geschenk – Ilja; auch er studiert jetzt am Moskauer Institut für Eröl und Erdgas. Außer den eigenen Töchtern haben sie und Aleksej Michailowitsch auch noch Igors Nichte großgezogen, die im Alter von 8 Jahren Vollwaise wurde. Er absolvierte die Fachschule für Binnenschifffahrt in Krasnojarsk. Inzwischen ist er mit einer Grundschullehrerin verheiratet.

Die Kinder der nach Sibirien deportierten und dort seit vielen Jahrzehnten lebenden Deutschen sind längst alle erwachsen geworden, die Burschen haben russische Mädchen geheiratet, die Mädchen sind mit jungen Russen die Ehe eingegangen. Von allen deutschen Kindern ist es nur Jekaterina gelungen, einen richtigen Beruf zu erlangen. Sie selbst ist der Meinung, daß sie das ausschließlich ihren Eltern zu verdanken hat, besonders dem Vater, den sie sehr geliebt hat.Jekaterina genrichowna wurde 1991 rehabilitiert (eine Kopie der Bescheinigung befindet sich im Anhang 1).

3. Das Schicksal der J.G. Filatowa im Schicksal meines Dorfes.

Jekaterina genrichowna arbeitete vom 15. August 1950 bis 30. August 2006 als Lehrerin – 46 Jahre lang. Für ihre Arbeit an der Schule bekam sie von der Behörde für Bildung zahlreiche Ehrenurkunden, aber auch Belobigungsschreiben vom Gewerkschaftskomitee der Kolchose für ihre Mithilfe beim Einbringen der Ernte. 1978 bekam sie eine Ehrenurkunde von der regionalen Behörde für Bildung, 1984 eine Auszeichnung des Ministeriums für Aufklärung der RSFSR. Am 15. Mai 2006 verlieh man ihr den Titel „Ehrenbürgerin des Minussinsker Bezirks“.

Nach unserem Gespräch bat ich Jekaterina Genrichowna alles aufzuschreiben, was sie mir erzählt hatte. Einige Tage später übergab sie mir ein Schulheft für Algebra der 11. Klasse, in dem ganz am Anfang eine Menge Übungsaufgaben gelöst wurden. Zuerst verstand ich überhaupt nichts, bis ich dann, etwa in der Mitte des Heftes, auf ihre Aufzeichnungen ´über ihr Leben stieß, aus denen ich für meine Arbeit nur einen kleinen Teil verwendet habe. Ich zeigte dieses Heft meiner Lehrerin Tatjana Iwanowna, die die Projektleitung meiner Arbeit übernommen hatte, und sie sagte, daß dieses Material von unschätzbarem Wert für das Museum und die Geschichte sei. (s. Anhang 2).

Das Schicksal dieser Frau hat mich dermaßen berührt, daß ich begann, viele Ereignisse, die sich in meinem Leben schon abgespielt hatten, mit ganz anderen Augen zu betrachten. Haben wir etwa ein schwieriges Leben? Um uns herum sind die geliebten Eltern, Freunde, die Schule. Man erzählt uns viel über unsere Rechte, und diese Rechte werden auch eingehalten. Mir scheint, daß die Kleinen die zur Zeit der Kindheit Jekaterina Genrichownas lebten, in den Jahren des Krieges und auch danach mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Und trotz all dieser Schwierigkeiten, Mißgeschicke und Unglücksfälle, verbitterten und verrohten die Kinder jener Zeit nicht; sie hegten keinen Groll, sondern, ganz im Gegenteil: sie liebten das Leben und strebten danach, in ihrem Leben einen würdigen Platz zu finden und anderen Leuten nützlich zu sein. J.G. Filatowa wurde nicht nur eine sehr gute Lehrerin, die ein dauerhaftes Wissen vermittelte (im Dorf war man der Meinung, daß, wenn Filatowa die Kinder unterrichtete, diese sich später sehr gut in Mathematik auskannten; und noch heute suchen wir sie so manches mal auf, wenn wir einen rat brauchen), sie wurde auch von ihrer ganzen Umgebung respektiert und verehrt. Und wie vielen Kindern hat sie geholfen, sich im Leben einen Platz als erstklassiger Leiter zu verschaffen!!! Als unsere Schule 2004 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, sprachen ehemalige Schüler, auch schon keine jungen Leute mehr, nicht nur der Schule ihre Dankesworte aus, sondern auch ihr, Jekaterina Genrichowna, und überreichten ihr dazu Blumen und Geschenke. Sie ist immer ruhig und besonnen, duldet keine Lügen, keine Ungerechtigkeiten, stets bereit, ihren Standpunkt zu verteidigen und einen zu Unrecht beleidigten Menschen in Schutz zu nehmen. Sie arbeitet sehr viel und ist in allem sehr reinlich, und bei ihr zuhause und auf dem Hof herrscht bis heute die beste Ordnung im ganzen Dorf. Zu ihr kommt man, wenn man einen Rat oder Hilfe braucht – oder auch nur um ein wenig menschlichen Umgang zu haben. Ich finde ihr Schicksal heldenhaft, denn alle Schicksalsschläge, die das Los ihr beschieden hat, ertrug sie mit größter Würde. Ihr Ehemann starb, aber stets sind ihre Kinder und Enkel um sie herum, ebenso wie Kollegen, ihre ehemaligen Schüler und deren Kinder und Enkelkinder. Man hat sie nicht vergessen; immer sind eine Menge Leute um sie herum, bereit ihr behilflich zu sein. Wahrscheinlich liegt wohl gerade darin das einfache menschliche Glück.

Literaturangaben:

1. Erinnerungen der J.G. Filatowa
2. Archiv der Stadt Minusinsk: Fonf 275, verz. 1 und N° 483
3. Buch für Lehrer „Die Geschichte der politischen Repressionen und des Widerstandes gegen die Unfreiheit in der UdSSR“, Verlag der Vereinigung „Mosgorachiv“ („Moskauer Staatsarchiv“; Anm. d. Übers.), Moskau, 2002.


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