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... Und die Spuren führen irgendwo ins Nichts ...

Allrussischer Wettbewerb von Forschungsarbeiten der höheren Klassenstufen
„Der Mensch in der Geschichte . Rußland – 20. Jahrhundert“

Autorin: Walerija Dejewa, Schülerin der 10. Klasse an der Mittelschule N° 2

Projektleitung: Natalja Wladimirowna Dejewa, Lehrerin an der allgemeinbildenden Mittelschule N° 2 in Wichorewka

Wichorewka 2004

Dieses Mal mache ich mich aus
Freiem Willen auf den Wegnach Sibirien.
...............................................................
...............................................................
Und der erfahrene Sibirjak hüllt sich in Schweigen darüber,
dass es hier zu Zeiten einmal ganz anders war.
L.W. Schereschewskij

Vorwort
„Ich würde so gern alle beim Namen nennen ...“

Wie oft vergessen wir, die Bewohner kleiner Städte, dass Menschen, die Aufmerksamkeit, Achtung und Respekt verdienen, nicht nur in großen Zentren leben, sondern auch mitten unter uns. Das sibirische Städtchen Wichorewka ist der Ort auf der Karte unseres Rußlands, der zuallererst als Teil des Oserlag (See-Lager; Anm. d. Übers.) in Erscheinung trat, in dem zahlreiche politische Gefangene ihre Strafe absaßen oder sich in Zwangsansiedlung befanden.

Wie viele von ihnen sind anonym gestorben! Wie viele von ihnen durften ihre Rehabilitation nicht mehr erleben! Wie viele von denen, die heute noch am Leben sind, erinnern sichmit schmerzendem Herzen jener Jahre, als die grausame Maschinerie des totalitären Staates und des stalinistischen Regimes den Versuch unternahm in ihnen alles Menschliche zu zertreten, ihnen jegliche Würde zu entziehen, ihnen die Zukunft zu rauben...

Im vergangenen Jahr schrieb ich über einen Mann, einen ehemaligen Charbiner, von denen es viele unter den Einwohnern von Wichorewka gibt, über Wasilij Sergejewitsch Pasetschnikow. Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte, setzte ich mir ein neues Ziel: ich wollte das Studium der Geschichte meiner Heimatregion mit Hilfe der Schicksale jener fortsetzen, die entgegen ihrem Willen und gänzlich ohne den eigenen Wunsch in Wichorewka zu leben und zu arbeiten, hierher gerieten und und ihren Beitrag zum Bau und zur Entwicklung dieses kleinen sibirischen Städtchens leisteten.

In diesem Jahr erfuhr ich von einer weiteren Familie dieser Art. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um eine ganz andere Geschcihte. Aber ich wage zu behaupten, dass in den Schicksalen verschiedener Menschen viel gemeinsam Tragisches, Bitteres und Trauriges liegt.

Ich wollte mir das Schicksal mehrere Generation anschauen, die für Rußland gelebt, aber auch gelitten haben. Was waren das für Leute? Wie kamen sie nach Sibirien? Wie hat der Stalinismus sich ins Leben dieser drei Generationen eingemischt?

Bei der Arbeit half mir Ljudmila Wiktorowna Tissen (Thyssen?), eine Nachfahren derer, die im 18. Jahrhundert russischen Boden betraten, ein Abkömmling derer, die repressiert wurden. Ohne ihre Hilfe wäre dieses Referat nie zustande gekommen; deswegen möchte ich ihr an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen.

Kapitel 1
„Die Stunde der Erinnerung naht“

Ljudmila Wiktorowna Tissen. Eine äußerst interessante Frau, die in der Stadt Bratsk, Gebiet Irkutsk, lebt. Ihre Name kam mir erst im Herbst 2003 zu Gehör. Und bei meiner ersten Bekanntschaft mit ihr stieß ich sogleich auf die großartige Herzlichkeit und Güte sowie den Edelmut dieser Frau. Jene Wirrungen des Schicksals, die auf das Los ihrer Verwandtenund ihrer selbst entfielen, hätten über alles Geschehene Verbitterung und Wut in ihrem Herzen entstehen lassen müssen. Aber Ljudmila Wiktorowna erzählt mit bewundernswertem Verständnis, unter Erklärung ganz objektiver Begründungen, die Geschichte ihres Geschlechts und ihrer Familie.

Ihre Biographie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem der „großartigen“ Bauprojekte des 20. Jahrhunderts – der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka. Die Bekanntschaft mit der Geschichte dieses Bauprojekts läßt erneut die Frage nach dem Schicksal des Menschen in einem totalitären Staat aufkommen, über seine selbstlose Arbeit zum Wohl der Heimat und darüber, wie die Heimat ihre rastlos arbeitenden Bürger für ihre grenzenlose Treue und Ergebenheit „bezahlt“.

2003 beschloß Ljudmila Wiktorowna Tissen eine Reise in ihre Heimat zu unternehmen. Sie fauhr nach Igarka. 48 Jahre waren vergangen, seit die Eltern sie im Alter von zwei Jahren hierher gebracht hatten. Was erwartete sie dort, in diesem kleinen Städtchen? Genauer mit dieser Frage im Kopf begab sich Ljudmila Wiktorowna dorthin. Nachdem sie die wunderschönen, malerischen Ufer des Jenisej angesehen hatte, versuchte sie in ihrer Erinnerung die weit zurückliegenden Bilder ihrer Kindheit wiederherzustellen. An ihren Geburtstort konnte sie sich absolut nicht erinnern. Sie wußte nur, dass sie in der Siedlung Jermakowo geboren wurde, wo damals „der Jahrhundertbau in vollem Gange war“.

Nachdem sie in Igarka angekommen war, machte Ljudmila Wiktorowna dort in einer Wohnung halt. Bis nach Jermakowo konnte sie nicht vordringen, weil man dort nur mit dem Hubschrauber oder einem Kutter hingelangen kann. In Igarka bot sich ihr ein Bild der Vernachlässigung: das Sägewerk war außer Betrieb, viele Ziegelhäuser hatten Risse bekommen und waren eingestürzt, und die hölzernen Bauwerke waren Bränden zum Opfer gefallen. Ab und zu liefen Schiffe in den Hafen ein, aber es waren nur wenige. Dennoch verstanden es die Einwohner von Igarka selbst in derart schwierigen Jahren das weltweit einzige „Museum des ewigen Frostes“ sowie das „Museum des Bauprojekts 503“ zu erhalten.

Kapitel 2
„Von den Wassern des Jenisej steigen Nebelschwaden auf. Der Polarstern leuchtet.

Was hat es mit diesem Bauprojekt 503 auf sich? Wodurch ist es so „berühmt“ geworden?

Das Bauprojekt N° 503 war bestandteil des GULAG-Systems; es wurde aus dem gleichen Grund berühmt, wie die anderen Lager.

Parallel zum Polarkreis
Oder vielleicht ein wenig schräg dazu
Verlegte ich den Schienenweg von Igarka,
Dass es mir das Herz zerbrach.
S.W. Lominadse. Parallel zum Polarkreis...//Das Bauprojekt N° 503: Dokumente.
Materialien. Forschungsberichte. – Krasnojarsk, 2000. – Auflage 1. – S. 93.

Am 29. Januar 1949 wurde eine Anordnung des Ministerrates der UdSSR verabschiedet, in der von der absoluten Notwendigkeit des Baus der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka, mit einer Gesamtlänge von 1200 km, die Rede war. Die Idee von einer transkontinentalen Eisenbahnmagistrale, in ihrer Art ein Double des Nordmeer-Seeweges durch ganz Sibirien, mit einer Fährverbindung durch die Beringstraße, kam bereits während des Großen Vaterländischen Krieges auf. Später wurden die Pläne geändert. Die Strecke Salechard – Igarka sollte die erste große Etappe des ersonnen Projektes darstellen. Die Inbetriebnahme der Linie sollte durch den ganzjährigen Transport von Produkten der Industriestadt Norilsk sichergestellt werden. Später sollte der Schienenweg auch über Kolyma und Tschuchotka führen, durch das Tal der Flüsse Nischnaja Tunguska, Wiljui, Aldan und Indigirka. Die Entscheidung über den Beginn des Baus wurde ohne Mitwirkung von Spezialisten getroffen. Stalin, der auf irgendeiner Sitzung die Standpunkte verschiedener Leute vernommen hatte, sagte nur eines: !Wir werden die Strecke bauen“. Dabei kam es ausschließlich darauf an, dass es keine Probleme mit den Arbeitskräften gab. Zwangsarbeiter – politische, die nach § 58 verurteilt worden waren, und Kriminelle – die alle Haftstrafen von nicht weniger als 10-15 Jahren zu verbüßen hatten, wurden in unbegrenzter Anzahl hierher geschafft. Zu dieser Zeit waren GULAG-Lager im ganzen Land bereits zeimlich weit verstreut und beherbergten bereits eine große Anzahl Häftlinge.

Die Bauarbeiten begannen planlos. Man begann damit, an der neuen Magistrale 28 Bahnstationen und 106 Ausweichstellen zu bauen. Zu Beginn gab es an der zukünftigen Magistrale nichts weiter als 5-6 kleine Ortschaften mit jeweils nur wenigen Häusern. Bereits nach kurzer Zeit waren es erheblich mehr: es waren jeweils 5-10 km von einander entfernte Nebenlager für die Gefangenen. Außer der Lagerbezeichnung erhielten sie die Nummer des Streckenkilometers, an dem sie sich befanden.

1949 wurden Häftlinge nach Igarka etappiert, es entstanden Lagerzonen mit Stacheldraht und Wachtürmen. Genau hierhin geriet auch Wiktor Dawidowitsch Tissen (Ljudmila Wiktorownas Vater). Außer den Gefangenen gab es auf dem Bau auch freie Arbeiter, aber sie gehörten zu den Zivilbauten und Projektarbeiten. Sie bekamen die Häftlinge in der Zone nicht zu sehen, hatten jedoch mit jenen Kontakt, die nur eine geringe Haftstrafe absaßen. Wiktor Dawidowitsch gehörte zu denen, die hinter Stacheldraht leben mußten.

Kapitel 3
„Ob er, der Liebling zweier Jahrhunderte, wohl wußte, wie schrecklich ihn das dritte begrüßen würde“

Das Geschlecht der Tissens gelangte das erste Mal im 18. Jahrhundert auf russischen Boden. Damals begannen auf Einladung Katharinas der Großen deutsche Meister russische Gebiete zu erschließen. EinTeil der Großfamilie Tissen blieb in Deutschland, der andere wanderte nach Rußland aus. Dawid Dawidowitsch Tissen (Wiktor Dawidowitschs Großvater) ging als 11-Jähriger als Schiffsjunge an Bord, diente dort, bis er es zum Kapitän auf großer Fahrt gebracht hatte und kaufte 400 Hektar Grund und Boden in der Nähe von Charkow; er besaß einen Dampfer, Pferde, Gärten und Mühlen. Die Kenntnisse und Erfahrungen, die Dawid Dawidowitsch sowohl von den Alten, als auch durch eigene Anstrengungen gesammelt hatte, förderten die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands und die nnäherung der beiden großen Staatsmächte. In den schweren Zeiten des Krieges wurden die russifizierten Deutschen zum Schutze der russischen Grenzen eingesetzt. Dawid Dawidowitsch (Wiktor Dawidowitschs Vater) diente im Ersten Weltkrieg als Sanitäter. Bei Sewastopol begegnete er seiner zukünftigen Ehefrau, der Feldscherin Jewdokia Osipowna Pawlowa.

Zu Beginn der 1920er Jahre wurde die Familie Tissen entkulakisiert. Zu einem Spottpreis verkauften sie ihr Haus neben der Schule und lebten von da an in einem Anbau. Die meisten verwandten reisten nach Kanada aus. Dawid Dawidowitsch blieb in Rußland, das nicht nur ihm, sondern auch seinen Kindern, zur Heimat geworden war. Auch während der poitischen verfolgungen änderte sich seine Einstellung zum Land der Sowjets nicht. Er liebte es wie zuvor, obwohl auch er vom Militättribunal des Charkower Wehrkreises zu Unrecht wegen versuchten Vaterlandsverrats verurteilt wurde. Die Strafe von 10 Jahren Freiheitsentzug verbüßte er in der Republik Komi ASSR. Das Lagerregime und die rauhen klimatischen bedingungen wirkten sich auf seine Gesundheit aus. Er starb 1942 und wurde in der Nähe von Uchta beerdigt. Jewdokia Osipowna mußte die vier Kinder allein großziehen. Als Ehefrau eines Repressierten mußte sie ebenfalls leiden: zwei Jahre verbrachte sie im Gefängnis.

Wiktor Dawidowitsch Tissen wurde 1920 auf dem Einzelgehöft Klinowyj im Gebiet Charkow geboren; er war das erste Kind in der Familie. Vor dem Krieg studierte Wiktor am pädagogischen Institut, konnte es jedoch icht rechteitig beenden. Er unterrichtete an einer der ukrainischen Dorfschulen mehrere Fächer gleichzeitig: Geschichte, Geographie und Zeichnen.

Als der Große Vaterländische Krieg ausbrach, befand sich die Familie Tissen mit anderen Flüchtlingen im Altai-Gebiet.

Kapitel 4
„Und da fiel ein versteinertes Wort auf meine noch vom Leben erfüllte Brust“

1941 wurde Wiktor Davidowitsch zur trudarmee in die ASSR Komi einberufen und von dort aus mit einer Etappe nach Jernakowo geschickt, zum Bau der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka. Den Grund für seine Verurteilung konnte Wiktor Dawidowitsch bis zu seinem Lebensende nicht begreifen. Er konnte es höchstens mit zwei möglichen Gründen erklären: erstens – sein deutscher Nachname, zweitens – ein unvorsichtig ausgesprochener Satz, den er einmal während des Mittagessens geäußert hatte: „Jusja (gemeint war Josef Stalin; Anm. de. Übers.) gibt einem nicht genug zu essen, aber sterben läßt er einen auch nicht“.

Auf Beschluß des Militärtribunals des NKWD der UdSSR der Bauverwaltung der Nord-Petschora-Eisenbhanlinie vom 13. Dezember 1943 wurde Wiktor Dawidowitsch Tissen nach dempolitischen Paragraphen zu 8 Jahren verurteilt und in die Region Krasnokarsk abtransportiert. Bis zu seinem Lebensende war er zutiefst überzeugt, dass sie ihn „grundlos“ verurteilt hatten.

„Einem zivilisiertenMenschen fällt es schwer zu verstehen, was ein Durchgangslager bedeutet. Das ist wie ein riesiger kochender Kessel, in dem das Meer an Menschen von einem Ende zum anderen schwappt. Die Leute feilschen, stehlen, prügeln sich, trinken Schnaps, spielen mit selbstgemachten Karten, wofür sie dann in den Karzer oder die Baracke mit verschärftem Regime kommen. Wir, die Politischen, wurden hier einfach nur „Freier“ genannt (nicht kriminelle, nach Meinung der Verbrecher unfähige und verachtungswürdige Mitgefangene; Anm. d. Übers.); wir saßen auf unseren Bündeln, zitterten, hatten Angst und blickten verzweifelt um uns. Die kriminelle Meute entwendete mit bereits in den ersten drei Stunden nach meiner Ankunft buchstäblich alles: meine Ersatzstiefel, den Kleidersack mit Wäsche, ein wenig medizinische Literatur „zum Rauchen“ (für die Herstellung von Zigarettenpapier; Anm. d. Übers.), meinen gesamten Vorrat an Zweiback und ein kleines Kissen. Ein großangelegter Kleiderraub geschah im Badehaus. Die gesamte Kleidung mußte zum „Durchbraten“ abgegeben werden, und als du aus dem Dampfbad herauskamst stellte sich heraus, dass deine Sachen verschwunden waren und du un splitternackt dastandest. Als Ersatz gaben sie einem irgendwelche Lumpen (aus dritter Hand) und zählten dich von da an zu den „Verschwendern“ von Staatseigentum. Ich bekam so eine Wattejacke über den nackten Körper, wattierte Hosen und Schnürschuhe, die mir einer der Kleindiebe unter uns heimlich zusteckte“. (W. Ruge. Den Jenisej abwärts – ans Ende der Welt. // Das Bauprojekt N° 503: Dokumente. Materialien. Forschungsberichte, - Krasnojarsk, 2000. – 1. Auflage. – S. 96).

Ins Lager transportierte man sie in den traurig-berühmten „Stolypin“-Waggons, jeweils 23 Mann pro Abteil; zu essen und zu trinken gab es nichts.Ihr „Bestimmungsort“ besaß noch nicht einmal einen Lagernamen: es war eine unbewohnte Stelle, an dem zunächst ein paar Zelte aufgestellt wurden.

An dem völlig kahlen Ort, an dem es noch kein einziges Gebäude oder eine feste Landstraße zum Heranschaffen von Baumaterial gab, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1949 eine große Anzahl von Nebenlagern errichtet. Sie basierten auf Sommerzelten, etwas später baute man dort Behelfsbauten, provisorische Bauten zur zivilen Nutzung.

Am schwierigsten war die Lage in Jermakowo (dort befand sich Wiktor Dawidowitsch Tissen), wo der Lagerbau durch das extrem enge Zusammenleben des Kontingents und das Fehlen von Straßen an dem abschüssigen, steilen Ufer, an dem sich sämtliche Baumaterialien befanden, erschwert wurde. Die Gefangenen wurden größtenteils auf durchgehenden Pritschen untergebracht und besaßen keinen eigenen Schlafplatz.

Nach der Ankunft im Lager sah Wiktor Dawidowitsch sich sogleich mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert: die gerade erst neu Eingetroffenen mußten sich ihre Zelte selber aufstellen, die Gestelle mit Zeltplanen bespannen und mit Moos abdichten. Aber nichts half gegen die grimmigensibirischen Fröste: Hände und Füße froren einem steif, die Haare froren an den Zeltplanen fest. Selbst im Oktober sank die Lufttemperatur bereits auf – 45 bis –48 Grad. An den Enden des Zelts stand jeweils ein Ofen, in der Mitte ein Tisch. 200 Häftlinge auf Pritschen – unter Einhaltung einer strikten Norm: 40 cm2 (!) pro Person.

Im ersten Winter hausten alle in Zelten, aber nach und nach fingen sie an Baracken zu errichten. Die Lebensbedingungen wurden etwas besser: jeder besaß eine mit Stroh ausgestopfte Matratze, eine graue Decke, ein wattiertes Kissen mit Kissenbezug. Aber im großen und ganzen spielte sich das Lagerleben ab wie zuvor. In der ersten Zeit bekamen sie kleine Portionen Brei und sonst nichts. Später verbesserte sich die Situation ein wenig. Das Essen wurde in der Küche in Thermosbehälter für Brigaden von je 20-30 Mann verteilt; da es an Kantinen fehlte, aßen die Häftlinge in den Räumen, in denen sie lebten. Die Verpflegung erfolgte dreimal am Tag nach einem festgelegten Speiseplan und festgelegten Verpflegungsnormen.Das Sortiment an Graupen war relativ vielfältig, während Fleisch, hauptsächlich Pökelfleisch meist von schlechter Qualität war.

Die Menge an eingetroffener Kleidung (außer Filzstiefel und Handschuhe, die im Norden lebensnotwendig waren) war ausreichend. Die Hälfte der vorhandenen Filzstoefel hatte die Größen 24-27; deswegen wurden besondere Stellen eingerichtet, an denen die Stiefel auf die erforderliche Größe gedehnt wurden. Die manchmal um zwei Größen erweiterten Filzstiefel verloren ihre Form im Sockenteil und waren sehr schnell durchgescheuert. Die Reparatur der Filzstiefel wurde überwiegend in den Kolonnen vorgenommen, aber es herrschte erheblicher Mangel an starkem Nähgarn und Filz zum Aufnähen. Trotz all dieser Schwierigkeiten mußten die Menschen den ganzen Tag arbeiten und immer neue Schienenabschnitte verlegen.

Kapitel 5
„Auf den von der Tundra gierig verschlungenen Knochen vollzieht sich ein Bauwunder“

Die nördliche Eisenbahnlinie (Bauprojekt N° 503) unterschied sich von vielen Komsomol-Baugiganten dadurch, dass sie hauptsächlich von Gefangenen gebaut wurde. Gerade auf ihr Los entfiel die schlimmste Arbeit: in Taiga-Stürmen und bei ewigem Frost. Jede beliebige Tätigkeit war begleitet von der Erniedrigung jeglicher Menschenwürde. Unter diesen Menschen befanden sich nicht wenige, die völlig unschuldig leiden mußten: Wiktor Dawidowitsch Tissen, Wladimir Wasiljewitsch Kusmarzew, Lasar Wenjaminowitsch Schereschewskij und viele, viele andere.

Es ist, als gäbe es uns nicht, - und doch liegen wir hier – überall:
in den Bahndämmen, Gleisen und Brücken.
Ein Bauwunder vollzieht sich auf den
von der Tundra gierig verschlungenen Knochen.
L.W. Schereschewskij Dichter Schneefall am Polarkreis...// Das Bauprojekt N° 503: Dokumente. Materialien. Forschungsberichte. – Krasnojarsk, 2000. – 1. Auflage. – S. 74.

Alle wesentlichen Erschwernisse im Zusammenhang nit dem Bau der neuen Strecke sollten auf den Schultern der politischen Gefangenen lasten. Man hatte vor, die neue Strecke einspurig zu bauen. Zur Überfahrt über die Flüsse Ob und Jenisej waren im Ausland zwei Fähren bestellt worden. Für den Beginn der Arbeiten hatte man die allgemeine Trassenrichtung gewählt. Die Bestätigung der technischen Pläne erfolgte erst 1952, nachdem ein erhebliche Teil des Schienenwegs bereits verlegt war.Die Hauptaufgaben, die 1949 vor dem Baubeginn, festgesetzt worden waren, lauteten: 79 000 Kubikmeter Bahnkörper aufschütten und die ersten 30 Kilometer der Hauptstrecke von der Station Jermakowo in westlicher Richtung verlegen; im Winter 1949/1950 eine Winterstraße für Kraftfahrzeuge für die entstehende Fabrik anzulegen – von der Station Jermakowo bis Janow Stan, und dann weiter bis an den Fluß Tas. 100 km der Magistrale in Richtung Salechard fertigstellen und eine Funk- und Telegraphenverbindung für die Verwaltung und deren Unterabteilungen installieren; die Bauverwaltung aus der Siedlung Abes nach Igarka verlegen, eine Verwaltungsstelle des Jenisejsker Erziehungs- und Arbeitslagers in der Siedlung Jermakowo organisieren, Unterabteilungen des Baubezirks in Igarka einrichten, ein Versorgungskontor in der Stadt Krasnojarsk organisieren, das für den Erhalt, die Lagerung und Versorgung entlang der Trasse mit technischem Material und Lebensmitteln zuständig sein wird (M.O. Mischetschkina. Worüber die Archive berichten// Das Bauprojekt N° 503: Dokumente. Materialien. Forschungsberichte. – Krasnojarsk, 2000. – 1. Auflage. – S. 23.). Die Schienenstrecke selbst wurde in rasantem Tempo gebaut. Es war für die Menschen nur von Vorteil, dass ihr Kommandierender einen guten Rechenschaftsbericht ablieferte, denn davon hing ihr Lohn ab.

Im August 1952 waren die Arbeiten im Vormarsch von Salechard nach Nadym, gegen 1953 von Jermakowo nach Janow Stan und von Igarka nach Jermakowo (65 km). Und das alles wurde von Menschen, zumeist Häftlingen, innerhalb von vier Jahren gebaut. Laut Plan benötigte man für die Arbeiten 36235 Mann, von denen 1949 noch 33493 übrig waren. 29234 von ihnen waren Gefangene, 2487 frei angestellte Arbeiter und 1772 gehörten zu den Wachmannschaften.

Die geologischen Bedingungen an der Trasse waren äußerst ungünstig. Die Strecke verlief durch sandig-krümeligen Lehmboden und Torfschichten, die stark durchnäßt, gefroren oder voller Eisklumpen waren. Das Vorhandensein von blasenartigen Wellen, durch den auftauenden Dauerfrostboden entstandene Senkungen und Einsturzstellen, sumpfige Stellen, in denen der torfhaltige Untergrund noch nicht einmal nach einem Monat andauernden Frostes von unter – 40 Grad gefroren ist, - das waren die Hauptmerkmale dieser Gegend. Auch das Fehlen von hiesigen Baumaterialien wurde vermerkt. Die Durchführung der Bauarbeiten wurde auch durch den ungünstigen Zugang zu Transportverbindungen erschwert. Es war äußerst schwierig, irgendwelche Lasten hierher zu schaffen. Das Problem der Materialbeschaffung, des Vordringungs von Baumaterial bis an den Ort, an dem es benötigt wurde, wurde als eine der kompliziertesten Aufgaben von den Erbauern der Eisenbahnlinie genannt, denn für die Fertigstelling jedes einzelnen Kilometers mußten drei- bis viertausen Tonnen verschiedener Baugüter herangeschafft werden, ohne dabei die interne Beförderung aus den Basislagern einzurechnen. Schwer war es auch mit den Arbeitskräften.

Kapitel 6
„Und wieviele Unschuldige hauchen dort ihr Leben aus...“

Wie sich Ljudmila Wiktorownas Vater, Wiktor Dawidowitsch Tissen, erinnerte,hatten politische Gefangene es besonders schwer. Die meisten von ihnen kamen während der ersten Fröste um: mangelhafte Ernährung, das Fehlen guter Filzstiefel und Handschuhe, die alle Kräfte übersteigende Belastung, die Unmöglichkeit, sich wenigstens ein wenig auszuruhen und seine Kräöfte zurückzugewinnen...Und auch das Verhalten gegenüber den Politischen war unmenschlich und grausam. Das waren Menschen ohne Namen. Die Lagerleitung rief sie entweder mit Spitznamen und mit ihrer Lagernummer an. Jedes Lager für Politgefangene begann mit dem Bau der sogenannten Zone: Wachtürme, Stacheldraht usw. Danach bauten sie für sich Unterkünfte. Und wie schliefen sie bei Frost? Neben dem Lagerfeuer. Wer am nächsten Tag noch zum morgendlichen Appell erschien, der war also noch am Leben.

Die Sterblichkeitsrate war hoch. Im Januar betrugen die Arbeitsverluste, basierend auf einem registrierten Häftlingsbestand von 28395 Mann – 9,02%, was einer Sterblichkeitsrate von 0,08% entsprach; im Februar gab es noch 27817 Gefangene, Arbeitsverluste 20,12%, Todesrate 0,03%. Ein jähes Absinken der Häftlingszahlen fand im August statt – 18346 Mann, Todesrate 0,06%; im Dezember wurden es noch weniger – 14136 Gefangene, Todesrate 0,02%. (Ebenda. S. 30).

Jeden Tag starben Häftlinge. Aufgrund des Dauerfrostbodens und der Kälte konnten keine Grabstellen aus dem Boden gemeißelt werden; die Toten wurden in den nahegelegenen See geworfen. Im Frühjahr, wenn das Eis verschwunden war, schwammen die Leichen an der Wasseroberfläche. Und aus diesem See holten die Gefangenen sich ihr Trinkwasser.

Gruselige Gesetze herrschten in jenen Lagern. Fast jedes politische Lager hatte seinen „ehrenwerten Dieb“. Er arbeitete nicht, sondern hielt mit Kenntnis der Lagerleitung Gericht über die „schuldig Gewordenen“ und „Unzufriedenen“. Im Hinblick auf das Lagerregime und die Bewachung der Gefangenen wurden zahlreiche Übertretungen und Verletzungen vermerkt. Beobachtet wurden 8 Fälle von Lagerbanditismus, 563 Arbeitsverweigerungen, 156 flegelhafte Tätlichkeiten, 503 Fälle von Sachwert-Verschwendung, 329 Diebstähle, 477 Fälle von Kartenspielen, Tatbestände von Trunkenheit, verbotenem Zusammenleben usw. Die Wachmannschaften ließen häufig amoralische Verbrechen zu.

Mit dem Verprügeln von Häftlingen befaßten sich nicht nur die gewöhnlichen Aufseher, sondern auch die Leiter der militarisierten Wachmannschaften. Insgesamt waren 2238 Personen Bestrafungen ausgesetzt, 99 von ihnen wurden vor Gericht gestellt. 1949 versuchten 60 Häftlinge zu fliehen, 54 von ihnen wurden liquidiert oder zurückgebracht. (Ebenda, S. 25). Die Strafen waren grausam: in einem der politischen Lager stellte man diejenigen, die sich etwas hatten zu schulden kommen lassen unter einen der Wachtürme. Blutsaugende Mückenschwärme zerbissen ihm das Gesicht, und rühren durfte er sich nicht, denn dann hätten die Wachen vom Turm aus ohne Vorwarnung auf ihn geschossen.

Kapitel 7
„Man muß wieder leben lernen“

Die schweren Jahre der Gefangenschaft brachten für Wiktor Dawidowitsch die erhellende Begegnung mit seiner zukünftigen Ehefrau Agnija Titowna Plotnikowa. Agnija Titowna war kein Opfer politischer Repressionen, sie arbeitete als Sanitäterin im Krankenhaus. Gleich neben den Häftlingslagern befanden sich die Siedlungen, in denen die frei angestellten Arbeiter sowie Gefangene mit kurzen Haftstrafen lebten. Dort befand sich das ZPP – das Sanitätsstädtchen, mit mehreren Blocks für die Kranken; hier wurden sowohl Gefangene, als auc Freie behandelt. Und hier arbeitete Agnija Plotnikowa.

Was berichtete Agnija Titowna über sich? Sie wurde in der Region Krasnojarsk geboren, in dem Dorf Wjerchneimbatsk. Über ihre Familie weiß Agnija Titowna s ogu wie nichts. Sie hörte nur von einer dreimaligen Entkulakisierung, Repressionen und der Verbannung in den Norden, weil die Familienmitglieder zu den Altgläubigen gehörten. Zuerst arbeitete sie als Hausangestellte; später begab sie sich, zusammen mit ihrer Freundin, auf eine Baustelle, um etwas hinzuzuverdienen. Während der Fahrt dachte Agnija Titowna daran, dass sie nun für ein richtig wichtiges Bauprojekt arbeiten sollte, von denen es in der Sowjetunion so viele gab. Aber sie hatte keineswegs eine Vorstellung davon, was für Menschen dort hauptsächlich schufteten.

Nach ihrer Ankunft in Jermakowo suchte Agnija sich zunächst im Krankenhaus eine Arbeit als Sanitäterin. Zu dieser Zeit befand sich Wiktor Dawidowitsch dort gerade in Behandlung. Er hatte sich das Steißbein verletzt und war operiert worden. Und genau hier lernten Agnija Totowna und Wiktor Dawidowitsch sich kennen. Sie konnten nicht gleich zusammenleben, das Bauprojekt war noch in vollem Gange. Als Wiktor Dawidowitschs Haftstrafe zuende ging, wurde er nicht als freier Mann entlassen, sondern man behielt ihn dort beim Bauprojekt als Sondersiedler; allerdings stand er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr unter Wachbegleitung. Damals machte er die Bekanntschaft mit Wladimir Wasiljewitsch Kusmarzew, der bereits zum zweiten Mal aufgrund seiner Vorstrafe verhaftet worden war: Verdacht auf antisowjetische Agitation. (Später werden Wiktor Dawidowitsch und Wladimir Wasiljewitsch zusammen nach Sajarsk fahren). W.D. Tissen und Agnija Titowna lebten in einem kleinen, sehr kalten Wohncontainer. Später zogen sie in ein kleines, noch nicht fertiggebautes Häuschen um, in dem es noch nicht einmal einen Ofen gab, und danach in eine Baracke; die war zwar sehr eng, aber dafür warm. Wiktor Dawidowitsch arbeitete als Bademeister. Sein Lohn war bis dahin kümmerlich gewesen, so dass er an Feiertagen zusätzlich Plakate malte und Schaukästen dekorierte. Dafür bekam er entweder Geld oder etwas Eßbares, meist Brei. Nach einem Jahr wurde Tochter Ljudmila geboren. (Unveröffentlichte Erinnerungen von Agnija Titowna Plotnikowa, der Ehefrau von W.d. Tissen., die vom Autor während des Interviews aufgezeichnet wurden.).

Kapitel 8
„Und die Hoffnung liegt immer noch in weiter Ferne...“

Nach dem 5. März 1953, als Stalin starb, änderte sich das Schicksal des Bauprojektes ganz plötzlich. Stille trat ein; anfangs gab es noch die Hoffnung, dass die Bauarbeiten fortgesetzt würden. Ende März 1953 folgte die telegraphische Anweisung der Hauptverwaltung der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken über den Baustop der Eisenbahnlinie im Abschnitt Salechard - Igarka. In aller Eile wurden die Arbeiten auf allen Streckenabschnitten abgebrochen,mit Ausnahme derer, die bereits zum größten Teil fertiggestellt worden waren. Am 26. Mai 1953 kam dann der Regierungsbeschluß über die Einstellung der Bauarbeiten auf der gesamten Strecke Salechard – Igarka. Zum Oktober erging eine Direktive zur Übertragung an die Betriebe, die die Ausrüstungsgegenstände und Maschinen zur Baustelle gebracht hatten. Insgesamt hatte der Bau der Eisenbahnlinie, der Unterhalt von Lagern und Infrastruktur 42 Milliarden Rubel verschlungen. Zur Fertigstellung des Bauprojektes waren nach Berechnungen von Spezialisten noch weitere 700-800 Millionen Rubel erforderlich, für die Liquidierung und Konservierung – 600-700 Millionen.

Das Schicksal der Menschen änderte sich nach dem Baustop. Zwar waren sie jetzt keine Gefangenen mehr, aber in die Freiheit hatte man sie trotzdem noch nicht entlassen. Sie besaßen keinerlei Bürgerrechte, konnten an keinen anderen Ort fahren und mußten sich einmal im Monat bei der Kommandantur melden.

Die Familie Tissen war beinahe die letzte, die schließlich Jermakowo verließ. Es war Wiktor Dawidowitsch verboten, nach Zentral-Rußland zu fahren; deswegen kam er, zusammen mit Frau und Tochter, im Rahmen einer Etappe nach Sajarsk, zum Bau des Bratsker Wasserkraftwerks. Wiktor Dawidowitsch hatte keine Möglichkeit sich als freier Mann zu fühlen: auch hier mußte er sich wieder regelmäßig bei den Ordnungsbehörden melden.

In Sajarsk kamen die Tissens auf einem unbewohnten Gelände an. Anfangs mußten sie auf Stroh schlafen. Später halfen ihnen andere Leute: sie bauten das Skelett, das Grundgerüst für ein Haus. Die Tissens schütteten es mit Holbelspänen zu, und das ergab nachher ein kleines Häuschen. Da es kein Material gab, um das Haus vernünftig zu beheizen, war es innen ziemlich kalt: die Temperatur fiel bis zum Abend auf 0 Grad ab. Das Häuschen war sehr klein, insgesamt nur 6 x 3 Meter. Obwohl man Wiktor Dawidowitsch extra zum Bauprojekt des Bratsker Wasserkraftwerks geschickt hatte, nahm man ihn dort aus politischen Motiven nicht an. Außerdem hatte er lange Zeit keinen Ausweis besessen, die Bürgerrechte waren ihm entzogen worden, und so zahlte man ihm auch keine Polarzuschlag. Es war ein sehr schweres Leben. Auf Wiktor Dawidowitschs Ansuchen erhielt er am 3. Oktober 1955 durch die Staatsanwaltschaft der Region Irkutsk eine Bescheinigung über die Abschreibung des „Klägers“ aus der Sonderansiedlung. Aber trotz dieser Entscheidung bekam er ständig zu spüren, wie ungleich die Rechte der verschiedenen Bevölkerungskategorien sind, denn an der Beaufsichtigung änderte sich vorerst nichts. Sie wurde erst 1961 im Hinblick auf das Oberhaupt der Familie aufgehoben. Und die Familie bekam Zuwachs: hier in Sajarsk wurden bei den Tissens noch zwei Kinder geboren: 1955 Tochter Lidia, 1961 Sohn Wjatscheslaw.

Kapitel 9
„Letzte Worte des Trostes“

Sajarsk erwies sich als Überschwemmungsgebiet. Vor der Überflutung brachte Wiktor Dawidowitsch seine Familie nach Wichorewka. Wie kam das? War er denn zu der Zeit schon richtig frei!? Nun, so einfach an einen anderen Ort fahren konnte W.D. Tissen nicht. Die Vergangenheit hatte ihm den Stempel eines politischen Gefangenen und „Volksfeindes“ aufgedrückt.

Man hatte ihm gleich mehrere Möglichkeiten vorgeschlagen, aus denen er Wichorewka ausgewählt hatte, aber ins Zentrum Rußlands hätte er sich nicht begeben dürfen. In Wichorewka baute Wiktor Dawidowitsch ein großes, warmes Haus, und die Familie begann dort eine kleine Hofwirtschaft zu führen. Hier wurd Agnija Titowna und Wiktor Dawidowitsch noch Sohn Wadim geboren, das vierte Kind in der Familie. Um Frau undKinder ernähren zu können, übernahm der gute Ehemann und Vater jede beliebige Arbeit: er war als Heizer, Maler und Lastträger tätig. Später begann er als Arbeiter bei der Eisenbahn.

Auf den ersten Blick scheint es, dass dies das ganz gewöhnliche Schicksal eines ganz normalen Menschen ist, dessen Leben still und unbemerkt verläuft. Aber heute können wir mit voller Überzeugung bestätigen, dass Wiktor Dawidowitsch Tissen sehr deutliche Spuren in dem kleinen sibirischen Städtchen Wichorewka, Bezirk Bratsk, Gebiet Irkutsk hinterließ. Zu Beginn des Referats wurde daran erinenrt, dass Wiktor Dawidowitsch in der Schule Zeichenunterricht gab, aber er konnte nicht nur wunderschön zeichnen, er besaß noch ein anderes künstlerisches Talent: er war auch Designer, und sollte malte er stets zu Fest- und Feiertagen Plakate zur Verschönerung der Stadt, darunter auch Plakate politischen Inhalts, welche die Heimat des Sozialismus und der kommunistischen Partei in den Himmel lobten. Die Leiter der städtischen Betriebe wandten sich mit Bestellungen an ihn, wenn sie anschauliche Agitationsmaterialien benötigten. Bis heute hängen in manchen Geschäften noch alte Schilder, die von Wiktor Dawidowitschs Hand gemalt wurden.

Viele verschiedene Papiere und Dokumente haben Agnija Titowna und Ljudmila Wiktorowna Tissen aufbewahrt. Aber am wichtigsten war für ihre Familie natürlich die Bescheinigung des Obersten Gerichts der RSFSR vom 22. November 1974, N° BT73-29. „Aufgrund des Entscheids des Gerichtskollegiums für Strafangelegenheiten des Obersten gerichts der RSFSR vom 25. Oktober 1973 wird das Urteil gegen Wiktor Dawidowitsch Tissen, geboren 1920, für ungültig erklärt und das Verfahren aus Mangel an Tatbeständen eingestellt. Der Bürger W.D. Tissen gilt hiermit in diesem Verfahren als rehabilitiert“ (Bescheinigung des Obersten Gerichts der RSFSR vom 22. November 1973). Sehr gern hätte Wiktor Dawidowitsch sich mit dem Inhalt seiner Strafakte vertraut gemacht, aber all seine Versuche in dieser Richtung waren erfolglos. So schied er 1987 aus dem Leben ohne zu wissen, welche konkreten Beschuldigungen, welche Anklage das Gericht seinerzeit eigentlich gegen ihn erhoben hatte.

Kapitel 10
„Heute habe ich eine Menge zu tun ...“

Den guten Ruf ihres Vaters wiederherzustellen – dazu entschloß sich Ljudmila Wiktorowna Tissen. die am eigenen Leib erfahren mußte, was es bedeutet, die Tochter eines „Volksfeindes“ zu sein.

In Sajarsk, wohin Ljudmila Wiktorowna nach dem Bauprojekt N° 503 im Alter von drei Jahren mit ihren Eltern kam, fühlte sie sich nicht als Vertriebene, weil es dort überall Kindr von „Volksfeinden“ gab. Sie spielten zusammen und dachten nicht daran, dass ihre Eltern Feinde waren. In der Schule trug Ljudmila Wiktorowna den Nachnamen der Mutter – Plotnikowa,und erst in der achten Klasse änderte sie ihren Nachnamen, weil sie unbedingt, wie alle anderen Kinder auch, den Familiennamen des Vaters tragen wollte. Seitdem heißt sie Tissen. Anfangs fühlte sich Ljudmila Wiktorowna durch die Vergangenheit des Vaters nicht belastet. Das zeigte sich erst etwas später, als sie an der pädagogischen Fachschule in der Stadt Bratsk studieren wollte. Die Lehrer fragten, wie sich der Nachname genau aussprach, und die Schulkameradinnen wollten wissen, welcher Nationalität sie war. Und einmal, während des Unterrichts, als die Rede gerade von dem bekannten Industriemangan Tissen (Thyssen) während der Hitlerregierung war, da drehten sich alle neugierig nach ihr um: „Ein Verwandter?“ Darauf konnte Ljudmila nur antworten: „Das weiß ich nicht“.

Ljudmila Wiktorowna kann sich noch an vieles erinnern. Manche davon sind sehr traurige Erinnerungen, die Zeugnis davon geben, was für spießige, kleinkarierte Gedankengänge viele Leute haben, die in unserer unmittelbaren Umgebung leben.

„Bei einer Frau nahm ich mir eine Wohnung. Eines Tages kam ihre Freundin aus Wichorewka. Als sie mich sah, meinte sie: „Wie kannst du nur die Tochter eines „Volksfeindes“ in dein Haus lassen?“ Mir war es sehr schwer ums Herz, wenn mich ständig irgendwelche Freunde, Lehrer, Leute, mit denen ich bekannt war, fragten, ob mein Vater ein „Volksfeind“ wäre. Ich habe immer geantwortet: „Das weiß ich nicht“. Als ich zum ersten mal hörte, wie gut der Vater mit Touristen aus Deutschland Deutsch sprach, war ich sehr verwundert. Damals war ich bereits 20 Jahre alt. Auf die Frage: „Warum hast du uns kein Deutsch beigebracht?“ antwortete er: „Das war verboten, und ihr braucht die Sprache auch nicht zu können: die deutsche Sprache wird höchstens negativ auf euch zurückfallen“. Auf diese Sache kamen wir nie wieder zurück“.

Ljudmila Wiktorowna setzte sich ein edelmütiges Ziel: sie wollte die Geschichte ihres Geschlechts erfahren, die Geschichte ihrer Familie, ihrer Nachnamen. Sie war der Meinung, dass es im Leben ihrer Vorfahren irgendein Geheimnis gab. Jedenfalls gelang es ihr, eine Menge über ihre Vorfahren herauszufinden. Heute schreibt L.W. Tissen über ihre Familie in ihren Erinnerungen, deren Veröffentlichung sie eines Tages erhofft, und sie unterhält sich mit denen, die der Vergangenheit unseres Landes ,dem Schicksal des Volkes nicht gleichgültig gegenüber stehen.

Wenn man aus Ljudmila Wiktorownas Gedanken ein Resümee ziehen sollte, dann bringen sie einem zu folgendem Schluß: „Mein Urgroßvater mütterlicherseits hatte 18 Kinder und besaß ein großes Stück Gemeindeland; dreimal wurde er entkulakisiert und dann mit seiner ganzen zahlreichen Familie hinter den Polarkreis verbannt; viele starben und erlebten ihre Freilassung nicht mehr. Mein Großvater, Dawid Dawidowitsch Tissen, war ebenfalls Repressionen ausgesetzt, man beschuldigte ihn organisierter Aktivitäten gegen das sowjetische Rußland und brumten ihm 10 Jahre Freiheitsentzug auf. Er starb 1942 in der Nähe von Uchta; damals diente mein Vater unweit von Uchta in der Trudarmee, aber sie sind sich dort nie begegnet. Meine russische Großmama, Jewdokia Osipowna Pawlowa, war ebenfalls als Ehefrau eines „Volksfeindes“ verurteilt worden und verbrahcte zwei Jahre im Gefängnis. Laut Gesetz waren Kinder von „Volksfeinden“, die am Ort des Freiheitsentzugs geboren wurden, und gerade zu solchen Kindern gehörte ich ja selbst, automatisch Repressionen ausgesetzt. Von dieser „steinernen Last“ konnte ich mich erst 1998mit Hilfe desr Gerichts befreien, das meine Unschuld anerkannte und mich rehabilitierte.

Ich besuchte das weltweit einzige „Dauerfrost-Museum“ und das Museum „Bauprojekt N° 503“. Ich stieg 4,5 Meter in den Boden hinab, wo sich mir ein bemerkenswertes Bild eröffnete: Schichten ewigen Eises wechselten sich mit dunklem Erdboden ab. Es war mitten im Juli, aber dort unten glitzerte der Rauhreif bei –11 Grad.

Darüber lag das Museum „Bauprojekt N°. 503“. Ein kleines Haus, in dem sich aus Brettern zusammengenagelte Pritschen befanden, auf denen irgendwann einmal Gefangene schliefen; Nachttischchen, in denen sie wahrscheinlich ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrten; alteÜberschuhe, Aluminiumlöffel, Schüsseln, becher, alte, von Motten zerfressene Pelzjacken, Wattejacken, Fenstergitter, Spitzhacken, Spaten, Schienenstücke, Brechstangen und viele Gegenstände mehr, die man auf der ehemaligen Baustelle gefunden hatte.

Ich erfuhr, wie das Gesicht abmagert,
Wie die Angst unter den Augenlidern hervorschaut,
Wie die grauen Seiten einer Keilschrift,
Die das ganze Leid auf die Wangen schreibt,
Wie aschgraue und schwarze Locken
Plötzlich zu grauen Haaren werden.
Das Lächeln erstarrt auf den Lippen der Untertanen,
Und in dem trockenen Lachen erzittert die Furcht.....
A.A. Achmatowa, Requiem: Gedichte//Werke in 2 Bd., Bd. 1. – Moskau, 1990.- S. 202

Ich stellte mir vor, dass mein Vater lange Zeit gezwungen war, auf diesen nackten Brettern zu frieren, und der Frost fällt doch hier auf –50 Grad. Jeden Morgen mußte er die Spitzhacke ergreifen und zum Bau der Eisenbahnstrecke Salechard – Igarka ausmaschieren, die nie fertiggebaut wurde. Im Sommer die schrecjlichen Mückenschwärme, denn in der Umgebung sind nichts als Sümpfe, und im Winter herrscht strenger Fros, und es weht ein schneidender Wind – und das jeden Tag ...

Urgroßvater... Großvater... Vater. Das Rad der Geschichte und die schreckliche Hand des Tyrannen haben versucht, meine Verwandten zu vernichten, unser Geschlecht niederzudrücken, aber wir haben standgehalten, wir haben überlebt und werden weiterleben“. (Aus den nicht veröffentlichten Erinnerungen von Ljudmila Wiktorowna Tissen, der Tochter von W.D. Tissen, die vom Autor der Forschungsarbeit während des Interviews aufgezeichnet wurden.)

Nachwort
„Angesichts dieses Leids krümmen sich sogar die Berge“

Alle Mitglieder der Familie Tissen wurden rehabilitiert, aber es mag keine rechte Freude aufkommen. Warum? Wahrscheinlich, weil die tragischen Seiten in der Geschichte unserer Heimat all die Menschen für viele Jahre um eine menschenwürdige Existenz, Familienglück sowie eine interessante und dem Wunsch entsprechende Arbeit brachten, die gern zu den wahren Schöpfern der Zukunft ihres Landes geworden wären. Und trotzdem gibt es auch die Erkenntnis, dass die Anerkennung der bürgerlichen und politischen Rechte für jeden Menschen lebensnotwendig ist – Rechte, die man ihm für lange Jahre entzogen hatte.

Das totalitäre Regime gibt es nicht mehr, aber es gibt noch diejenigen, die unsmit ihrem Leben an die traurige Geschichte des GULAG erinenrn. Wir sind im Unrecht, wenn wir die Vergangenheit vergessen, selbst wenn sie schrecklich war. Es ist unsere Pflicht daran zu denken, was geschehen ist. Wir sind verpflichtet, all des menschlichen Kummers zu gedenken, vor dem „selbst die Berge sich krümmen“.

Nachdem ich von der Geschichte der Familie Tissen berichtet habe, denke ich, dass ich das mir gesteckte Ziel mit dieser Arbeit erreicht habe, denn ich habe über das Schicksal eines Menschen in einem totalitären Staat berichtet. Schon lange weiß man um die Wahrheit: die Familie ist eine der Zellen der Gesellschaft. Wenn jede Familie in Würde und glücklich leben kann, dann wird auch die Gesellschaft als ganzheit würdig und glücklich sein.

Quellen- und Literaturangaben:

1. Bauprojekt N° 503: Dokumente. Materialien. Forschungsberichte / Museumskomplex Igarka „Museum des ewifen Frostes“. – Krasnojarsk: Grotesk-Verlag, 2000. – 1. Auflage. – S. 208 ff.

2. Unveröffentlichte Erinnerungen der Ljudmila Wiktorowna Tissen, Tochter von W.D. Tissen, die von der Autorin während der Arbeit am Referat im Oktober-November 2003 aufgezeichnet wurden. Sie befinden sich im Familienarchiv der Familie Tissen.

3. Unveröffentlichte Erinnerungen der Agnija Titowna Plotnikowa, Ehefrau von W.D. Tissen,
die von der Autorin während der Arbeit am Referat im Oktober-November 2003 aufgezeichnet wurden. Sie befinden sich im Familienarchiv der Familie Tissen.

4. Unveröffentlichte Erinnerungen des Wladimir Wasiljewitsch Kusmarzew, Freund von W.D. Tissen, aufgezeichnet von L.W. Tissen im November 2003. Sie befinden sich im Familienarchiv der Familie Tissen.

5. A.A. Achmatowa. Gesammelte Werke in 2 Bd. – Bd. 1 – „Prawda“ 1990.


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