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Die Deportation im Schicksal der in der Siedlung Berjosowyj lebenden Deutschen

Wlada Djubakowa
Kommunale fiskalische allgemeinbildende Schule
9. Klasse
Arbeitskreis „Erinnern wir uns an unsere Wurzeln“
Atschinsker Bezirk,
Siedlung Berjosowyj

Leitung
Albina Anatoljewna Ruben
Deutschlehrerin

Wir leben in der Siedlung Berjosowkyj im Atschinsker Bezirk, Region Krasnojarsk. Um uns herum wohnen Menschen deutscher Nationalität. Tag für Tag begegnen wir auf der Straße diesen Großmütterchen und Großväterchen und vergessen dabei zeitweise sogar, dass sie Deutsche sind. Heute ist nur noch bei wenigen Vertretern der älteren Generation der deutsche Akzent erhalten geblieben. So hat die älteste Bewohnerin des Dorfes, Amalia Karlowna Kinstler, mit der man sich im Anhang bekannt machen kann, nie richtig Russisch sprechen gelernt. Viele von ihnen sind als Kinder nach Sibirien gekommen und haben die russische Sprache ganz leicht erlernt. Umso mehr, wenn sie hier bereits geboren sind. Inzwischen kennt die junge Generation ihre Muttersprache nicht mehr. Die deutschen Bewohner unseres Dorfes stammen aus der Ortschaft Krasnyj Jar im Gebiet Saratow.

Es sind Menschen, die schwere Zeiten durchgemacht und am eigenen Leib das ganze Joch der stalinistischen Repressionen erfahren haben. Wir sollten diese Ereignisse kennen und jener Schicksalsherausforderungen gedenken, die auf das Los der Deutschen entfielen, denn es sind Menschen, die uns nahestehenden – Großmütter und Großväter vieler Schüler unserer Schule. Die Geschichte unserer Vorfahren zu kennen, ist unsere – Pflicht.

Ziel der Arbeit: die Geschichte der Umsiedlung und das weitere Schicksal der Wolga-Deutschen in Sibirien zu erfahren.

Aufgabenstellungen dieser Arbeit:
1) Literatur über die Deportation der Deutschen studieren.
2) Sie mit den Erinnerungen noch lebender Zeugen jener Jahre bekanntmachen.
3) Archivmaterial über die Siedlung zu studieren.

Forschungsobjekt:
Die stalinistischen Repressionen in der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Forschungsgegenstand:
Die Repressionen im Schicksal der Dorfbewohner.

Forschungsmethoden:
Arbeit mit Archivmaterial, Literatur, Interviews mit Dorfbewohnern.

In diesem Jahr liegt das Ereignis 70 Jahre zurück, das bedeutende Spuren im Schicksal der ethnischen Deutschen Russlands hinterließ. Gemeint ist die Deportation, die zusammen mit der nachfolgenden Mobilisierung in die „Arbeitsarmee“ und die Einführung eines Regimes der Sondersiedlung das Leben der gesamten deutschen Bevölkerung bis zur Unkenntlichkeit veränderte und den Beginn für ihre langjährige Diskriminierung bildete. Viele Völker waren „schuldig geworden“, doch die Deutschen – die zahlenmäßig größte Ethnie – war der Gegner der UdSSR im Krieg, daher entfiel auf sie der Hauptschlag der Repressionsmaschinerie des stalinistischen Regimes.

Gründe für die Deportation

Die Deutschen, die in ihren Traditionen zahlreiche Werte der westeuropäischen Kultur bewahrt haben, befanden sich in der Zahl der Völker unseres Landes, die sich am längsten, mit viel Mühe und großen Schwierigkeiten in den von den Bolschewiken geschaffenen Gesellschaftsaufbau eingewöhnten. Die Besonderheit ihrer Mentalität rief in der Regel eine noch negativere Reaktion auf die bolschewistischen Experimente und Handlungen, einen noch hartnäckigeren Widerstand gegen Versuche ihre traditionelle Lebensweise zu brechen, hervor. Und das führte natürlich zu noch grausameren Strafmaßnahmen seitens des Regimes.
Daraus resultieren die harten Verfolgungskampanien gegen „die Faschisten und ihre Helfershelfer“, die ihren Höhepunkt nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland (1934-1938) erfuhren.

Der Widerstand der Wolgadeutschen gegenüber dem Regime festigte bei der sowjetischen Regierung das unerschütterliche Image eines Volkes, das sich gegenüber dem Sozialismus und der Staatsmacht nicht loyal verhält. Das spielte noch nicht die allerletzte Rolle, als im Jahre 1941 die Entscheidung über die Deportation der Deutschen fiel.

Am 22. Juni 1941 fiel das faschistische Deutschland in der UdSSR ein. Die Tage und Wochen gingen dahin, im Verlauf der Monate Juli und August setzte die deutsche Armee ihren mächtigen Vormarsch fort und eroberte dabei immer mehr sowjetisches Territorium. Nach und nach näherte sich die Front der Wolga.

In den Meldungen der Partei- und Sonderorgane, die aus der ASSR der Wolgadeutschen persönlich an Stalin und Berija gelangten, schlüpften nicht selten Informationen über „antisowjetische“, „defätistische“, „faschistische“ Äußerungen einzelner Bürger hervor. Das löste höchste Verärgerung bei den sowjetischen Machthabern aus. Schnell rief man sich die allgemeine Illoyalität der ethnischen Deutschen gegenüber der bolschewistischen Macht ins Gedächtnis zurück.

Mit Beginn des Krieges und vor allem nach der ersten ernsthaften Niederlage, welche den Verlust riesiger Territorien nach sich zog, nahm im Bewusstsein der sowjetischen Leitung und I.W. Stalins persönlich die Vorstellung einer deutschen „fünften Kolonne“ in der UdSSR eine immer realere und bedrohlichere Gestalt an. Doch liegen keine Angaben darüber vor, die den Beweis erbringen könnten, dass die ortsansässigen Deutschen im Hinterland Überfälle auf die russische Armee unternommen oder sich heimlich mit der Vorbereitung ähnlicher Anschläge befasst hätten. Unter den veröffentlichten deutschen Archiv-Dokumenten gibt es bislang kein einziges, welches den Schluss zulässt, dass es zwischen dem dritten Reich und den in der Sowjetunion lebenden Deutschen irgendeine Art von verschwörerischen Verbindungen gab. Heute kann man bereits mit Sicherheit sagen, dass nicht einmal die sowjetische Spionage-Abwehr über Angaben bezüglich einer Zusammenarbeit der Sowjet-Deutschen mit dem faschistischen Deutschland verfügte.

Alle oben angeführten Fakten führten in ihrer Gesamtheit Ende August 1941 I.W. Stalin und die ganze sowjetische Führung zu dem Entschluss über die Notwendigkeit der Deportation der Deutschen zunächst aus dem Wolgagebiet, später jedoch auch aus den anderen europäischen Teilen der UdSSR. Das war eine für das stalinistische Regime charakteristische, rückversichernde Maßnahme, welche eine Rechtfertigung aus der Sicht der strategischen Interessen des Staates und der Macht darstellte. Dabei wurden die unausweichlichen negativen Folgen für die Schicksale tausender konkreter Menschen – der Opfer dieser Aktion – nicht berücksichtigt. So hatte die bolschewistische Macht auch früher schon agiert, doch dieses Mal erwies sich das Ausmaß der durchgeführten Aktion als beispiellos.

Es kam der Ulas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der in den Wolgabezirken lebenden Deutschen“ heraus.

Man beschloss, alle Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen sowie den Gebieten Saratow und Stalingrad in folgende Regionen und Gebiete umzusiedeln:

Region Krasnojarsk – 70.000 Personen
Altai-Gebiet – 91.000 Personen
Gebiet Omsk – 80.000 Personen
Gebiet Nowosibirsk – 92.000 Personen
Kasachische SSR – 100.000 Personen

Bereits im September 1941 trafen die ersten beiden Züge mit 2.000 Soner-Umsiedlern in der Regionshauptstadt ein.

Aus Dokumenten erhielten wir Kenntnis darüber, dass die Vorbereitungen für due Umsiedlung sorgfältig organisiert waren. Für die Durchführung der ganzen Operation erhielt der NKWD der UdSSR einen Vorschuss in Höhe von 20 Millionen Rubel aus dem Reserve-Fond des Rates der Volkskommissare der UdSSR. Punkt 17 der Verordnung lautete: Mit der Umsiedlung ist ab dem 3. September 1941 zu beginnen, die Aktion ist am 20. September 1941 zu beenden. Das NKWD der UdSSR hat dem Rat der Volkskommissare der UdSSR sowie dem Zentralkomitee der Allrussischen Kommunistischen Partei zum 1. September einen Plan für die Umsiedlung sowie Vorschläge über die material-technische Sicherstellung für den Bau von Wohnungen und Wirtschaftsgebäuden für die umzusiedelnden Kolchosen vorzulegen.

Der letzte Punkt der Verordnung legte fest: „Der Transport der aus der Republik der Wolgadeutschen umzusiedelnden Deutschen hat per Eisenbahn oder auf dem Flusswege zu erfolgen. Die Beförderung aller Umzusiedelnden hat im Zeitraum zwischen dem 1. September und dem 16. Oktober zu erfolgen, wobei, entsprechend dem gemeinsam mit dem NKWD aufgestellten Plan, die Bereitstellung von Waggons und Schiffen zu organisieren ist“.

Die Leiter der operativen Gruppen der Bezirke übertragen drei Tage vor der Verschickung der Umzusiedelnden an die Vertreter der örtlichen Machtorgane Listen mit den Namen der Personen, die der Umsiedlung unterliegen, damit die Betreffenden gegen Quittung von ihrer Verschickung unterrichtet werden können. Die Benachrichtigung hat an jede der umzusiedelnden Familien gesondert zu erfolgen.

Die Leiter der Gebiets-NKWD-Behörden ernennen aus den Reihen der operativen NKWD-Mitarbeiter einen Zugleiter und Vertreter – einen mittleren Kommandeur der NKWD-Begleittruppen; als operative Reserve werden für jeden Zug jeweils 22 Soldaten der Begleittruppen ernannt; an den Verladeorten, auf den Bahnstationen sowie Schiffsanlegestellen soll die Unterbringung und Versorgung der Umzusiedelnden bis zum Eintreffen der entsprechenden Transportmittel organisiert werden.

Es war vorgeschrieben, dass die Umsiedler in 198 Zügen transportiert werden sollten, wobei jeder Zug aus 65 Waggons bestehen und jeder Waggon mit 40 Personen befüllt werden sollten. Insgesamt waren für den Transport 12875 Waggons vorgesehenen. Man muss dazu bemerken, dass an jenem Tag, dem 26. August, in die Deutsche Republik und die ihr benachbarten Gebiete Truppenteile des NKWD entsendet wurden. Zur Teilnahme an der Umsiedlungsaktion der Deutschen aus dem Wolgagebiet wurden 12350 Personen aus dem persönlichen bestand unterschiedlicher NKWD-Truppen und –Unterabteilungen hinzugezogen.

Man darf behaupten, dass der Ukas vom 28. August 1941 aufgrund seines Inhalts eine Verletzung der Konstitution der UdSSR, der RSFSR und der ASSR der Wolgadeutschen darstellte. Für alle war der wahnsinnige Charakter der Erklärung, dass es unter den 400.000 Wolgadeutschen „tausende und abertausende Diversanten und Spione gäbe, die auf ein aus Deutschland gegebenes Signal in den von Wolga-Deutschen besiedelten Bezirken Sprengungen verüben sollen“, vollkommen klar.

Mit vollkommener Überzeugung kann man sagen, dass die ersten Absätze sich hauptsächlich gegen die sowjetischen Kleinbürger richten und für die Entfachung eines Massenhasses auf die Wolga-Deutschen gedacht sind. Es bestätigt in anschaulicher Weise, dass gegenüber den Wolga-Deutschen die unmittelbare Anschuldigung des Verrats geäußert wird. „Die überwiegende Mehrheit der werktätigen Russen und anderen Nationalitäten nahm den Ukas mit großem Zuspruch auf und sie ihn als eine ernstzunehmende Maßnahme zur Beseitigung des Hinterlandes an….“

Die Operation zur Aussiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet begann am Tage der Veröffentlichung des Ukas‘ vom 28. August in den örtlichen Zeitungen und wurde äußerst rigoros und mit viel Energie durchgeführt. Das kann man aus den Meldungen an den Volkskommissar für innere Angelegenheiten, K. Berija, schließen, die täglich von der operativen Gruppe des NKWD nach Moskau gesandt wurden, welche für die Realisierung der Aussiedlung Sorge trug.

Die Menschen, die mit den ersten Zügen fuhren, waren besonders schwierigen Bedingungen ausgesetzt. Sie mussten in aller Eile ihren Besitz abgeben und sich buchstäblich innerhalb eines Tages für due Abfahrt am 31. August bereit machen.

Es war den Umzusiedelnden gestattet persönlichen Besitz mitzunehmen, kleinere Gegenstände des landwirtschaftlichen Inventars und des alltäglichen Gebrauchs sowie ein paar Lebensmittel. Die ihnen gehörenden Gebäude, größere landwirtschaftliche Geräte, Vieh und Futtergetreide sollten vor Ort zurückbleiben und gemäß einem Schätzprotokoll an Sonder-Kommissionen abgegeben werden. Die zurückgelassenen Immobilien, Nahrungsmittel und Tiere (mit Ausnahme von Pferden) unterlagen der späteren „Rückgabe“ am neuen Wohnort, die dort nach speziellen Umtausch-Quittungen erfolgen sollte.

Die Bürger deutscher Nationalität fügten sich, ungeachtet aller Kränkungen, Entrüstungen und dem „antisowjetischen“, “defätistischen“, „aufständischen“ Gerede, m Großen und Ganzen in ihr Schicksal. Nach Angaben der NKWD-Organe gab es in der gesamten Wolga-Republik nicht eine einzige Familie, welche die Umsiedlung verweigert hätte.

Die Verladung auf Eisenbahnwaggons erfolgte am 1. September.

Insgesamt wurden für die Aussiedlung der Deutschen 31 Bahnstationen und 188 Züge genutzt. Die Operation zur Aussiedlung der Deutschen endete am 20. September. An diesem Tag wurden die letzten drei Züge beladen und abgeschickt. Insgesamt wurden aus dem Wolgagebiet 451.986 Personen nach Sibirien und Kasachstan deportiert, 440.238 von ihnen kam an ihrem Bestimmungsort an.

Man kann die Gefühle der Menschen verstehen, die nicht aus freiem Willen ihre Heimat verlassen mussten. Einer der Umsiedler erinnert sich, dass der „Zug N° 842 von der Bahnstation Saratow am 11. September 1941, etwa um 3 Uhr nachts, abfuhr. Als der Zug sich in Bewegung setzte, gab es keine Tränen. Aber als sie an Uwek vorbeikamen und über die Brücke fuhren, das war der gesamte Waggon am Schluchzen: Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen. Die Wolga! Unsere elfjährige Tochter, die das Schuljahr mit einer Ehrenurkunde abgeschlossen hatte, schrieb in ihr Tagebuch:

„Wolga, Wolga, liebe Mutter!
Du meine liebe….
Ich fahre fort ganz unfreiwillig,
Nehme dich in meinem Herzen mit!“

Die Lebensbedingungen der Sonderumsiedler während der langen Fahrt waren sehr schwierig. Die Menschen wurden in überdachten Güterwaggons transportiert. In jeden Waggon hatte man 40 und mehr Personen samt ihren Habseligkeiten hineingestopft. Sie schliefen auf Pritschen oder einfach auf dem Boden, der mit Stroh ausgelegt war. Die Verpflegung der Umzusiedelnden erfolgte unterwegs an speziell eingerichteten Versorgungspunkten, an Eisenbahn- und Schiffsimbissstellen. Warmes Essen wird einmal, heißes Wasser zweimal am Tag ausgegeben – kostenlos. Aufgrund von Fehlern und Störungen in der Verkehrslage erfolgte die Verpflegung an den Bahnstationen unregelmäßig. Ständige Probleme gab es mit der Wasserversorgung. Nach den Erinnerungen zahlreicher Umsiedler war wohl die in körperlicher und seelischer Hinsicht schlimmste Erfahrung unterwegs das Verrichten der Notdurft; diese menschliche Notwendigkeit war überhaupt nicht durchdacht und arte deswegen für die Menschen zu einer ständigen Massentortur aus, besonders dann, wenn der Zug viele Stunden ohne unter Brechung weiterfuhr, ohne auch nur ein einziges Mal anzuhalten. Aufgrund der schlechten Wasserqualität und der miserablen sanitären Verhältnisse brachen in vielen Zügen Magen- und Darmerkrankungen aus, deren Opfer zumeist Kinder waren. Nach uns vorliegenden Angaben starben allein in 44 Zügen, in denen Bürger der ehemaligen Wolga-Republik nach Osten transportiert wurden, 159 Personen.

Nach den Erinnerungen unserer Dorfbewohner starb aus den Reihen ihrer Verwandten auf der Fahrt nach Sibirien niemand.

Hier nun Angaben über den letzten Umsiedler-Uug im September-Oktober 1941.

Verteilung der Züge und Umsiedler in der Region Krasnojarsk
34 Züge, 79.500 Deutsche, 18 Abladestationen

¹ 1 7 9 10
Ankunftsdatum des Zuges  12.09. 15.09. 17.09.  18.09.
Zug-Nummer 820 825 827 828
Anzahl derer Personen im Zug 2482 2375 2318 2350
Unterwegs verstorben        
Unterwegs geboren        
Unterwegs zurückgeblieben        
Unterwegs zurückgelassen        

Abladebahnhof Jenisej Atschinsk-2 Atschinsk-2
Aussiedlungsbezirke Minusinsk Atschinsk, Atschinsk, Biriljussy, Nasarowo

Gesamtumfang der Deportationen:
09.09. – 05.10.1941
188 Züge
440.238 Personen
107 Bahnstationen
2 Republiken, 2 Regionen, 8 Gebiete, 224 Bezirke
Heute: 2 Staaten, 2 Regionen, 12 Gebiete

Anmerkungen:
1. Ein Strich in der Grafik bedeutet das Fehlen von Angaben./ A. German/

In den Monaten September und Oktober 1941 trafen 33 Züge in der Region ein, welche 77.259 Aussiedler ablieferten. 1942 kamen noch 791 Personen hinzu. Sie wurden auf 42 Bezirke unserer Region zur Ansiedlung verteilt.

In den Familien werden Dokumente aufbewahrt, welche die Deportation und Rehabilitation unserer Dorfbewohner bezeugen.

Die Unterbringung der deportierten Deutschen geschah familienweise. In jeden Bezirk wurde eine bestimmte Anzahl von Familien geschickt, die dann nach und nach auf Dörfer und Kolchosen verteilt wurden. Auf diese Weise erfolgte eine Zerstreuung der deutschen Bevölkerung aus dem Wolga-Gebiet.

In unsere Siedlung kamen beispielsweise anfangs die Familien Karla und Sofia Kinstler, Emilia Friedrichowna Diehl, Jekaterina (Katharina) Beller, Jakob Gunter und Andrej Genrichowitsch (Vater von Heinrich) Schefer (Schäfer). Andere wurden in benachbarte Bezirke geschickt: nach Bolscheuluj, Biriljussy, Bogotol. Später kam es zu einer Wiedervereinigung mit den Familien oder ehemaligen Nachbar; sie kamen nach Biriljussy, den hier gab es eine Menge Arbeit in der Kolchose, riesige Felder, auf denen Gemüse für die Arbeiter der Krasnojarsker Mähdrescher-Fabrik angebaut wurde.

Einzel-Behausungen wurden den deutschen Familien äußerst selten zur Verfügung gestellt. Man „verdichtete“ vielmehr ortsansässige Familien, indem man unter ihrem Dach deutsche Familien einquartierte. Ein derartiges Zusammenleben wirkte sich negativ auf die gegenseitigen Beziehungen zwischen den neu Angekommen und den Hauswirtin aus. Gelegentlich kam es zu unmittelbaren Beleidigungen und Tätlichkeiten gegenüber den Deutschen. Die Kinder bezeichneten die deutschen Kinder als Faschisten und Fritze, verprügelten sie oder bewarfen sie mit Steinen. So erinnert sich Friedrich Friedrichowitsch Diehl, wie er weinend nach Hause kam: die Altersgenossen hatten ihn verhauen und als Faschisten gehänselt.

In unserer Siedlung wurden viele deutsche Familien in Baracken untergebracht, die zuvor von Häftlingen geräumt worden waren. Früher hatte es in der Siedlung eine Gefangenen-Kolonie gegeben. Andere hoben sich Erdhütten aus, um darin zu überwintern, später bauten sie sich Häuser.

Der größte Mangel bei der Einrichtung der Sonderumsiedler in ihre neues Leben herrschte bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Als sich der Winter des Jahres 1941-1942 näherte, wurde die Lage der Umsiedler in Sibirien immer schlimmer. Alle waren vom Hunger beherrscht. Von einer wahren Katastrophe wurden die Familien heimgesucht, in denen es keine erwachsenen Männer gab, deren Familienoberhäupter sich in der Roten Armee befanden oder die in die Arbeitsarmee eingezogen worden waren. Alle Männer im Alter zwischen 15 und 55 Jahren sowie Frauen von 16 bis 45 Jahren (sofern sie keine Kinder bis zu drei Jahren hatten) unterlagen der Mobilisierung in die „Trud-Armee“.
Unter Trud-Armee versteht man militarisierte Arbeitsformierungen, die in sich Elemente militärischer Organisation (Mobilisierung durch Kriegskommissariate), Elemente der Nahrungsmittelversorgung und Elemente des GULAG / NKWD vereinen.

Aus unserem Dorf wurden so gut wie alle eingetroffenen Männer in die Trud-Armee geholt: Andrej Andrejewitsch Griesmann, seine Schwestern Amalie und Emilie, Amalie Karlowna Kinstler, ihr Vater sowie ihre Brüder Andrej, Viktor, Fjodor )Amalie Karlownas Vater starb kurz nach seiner Rückkehr an den zahlreichen dort erworbenen Krankheiten), Karl Karlowitsch Pabst, Friedrich Friedrichowitsch Diehl, der nach den Erinnerungen seines Sohnes Friedrich Friedrichowitsch dort auch ums Leben kam, und viele andere.

Heute ist in der Siedlung nur noch eine einzige ehemalige Trudarmistin am Leben – Amalie Karlowna Kinstler. Wir hörten von ihr alles, was sie berichten konnte. Sie hatte gewissermaßen Glück: im Schacht im Gebiet Kemerowo brauchte sie nicht zu arbeiten, sondern war lediglich einige Tage beim Bau der Anlage beschäftigt. Dann holte der Ober-Markscheider (ein im Bergbau tätiger Vermessungsingenieur mit Konzession und zusätzlicher staatlicher Ausbildung; Anm. de. Übers.) sie als Kindermädchen für sein dreijähriges Töchterchen zu sich nach Hause. Nun ist Amalia Karlowna 87 Jahre alt. Jenes Töchterchen Tanja, das seinem Kindermädchen so nahe stand, dass es nicht einmal den von der Front heimkehrenden Vater anerkannt, lebt schon nicht mehr. Im Verlauf ihres gesamten Erwachsenen-Lebens schrieb Tatjana viele Briefe an Amalie Karlowna, gratulierte ihr zu allen Fest- und Feiertagen.

Die Vertreter der älteren Generation erinnern sich nur ungern an jene traurigen Jahre. Amalie Karlowna sagt: „ Es gab wenig Gutes, und das Schlechte möchte man sich nicht ins Gedächtnis zurückrufen“. Es ist sehr schwierig die Leute zum Reden zu bewegen, aber es ist uns wichtig, das Schicksal dieser Menschen kennenzulernen. In ihren Schicksalen liegt die Geschichte unseres Landes. Es muss heute getan werden, denn morgen kann es bereits zu spät sein.

Deswegen baten wir einige von ihnen ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Es handelt sich um Nina Wasiljewna Pabst und Maria Jakowlewna Siebert. Hier haben sie ihr Herz unter vier Augen mit einem Blatt Papier ausgeschüttet. Jene Fakten schrecklicher Erniedrigungen, von denen wir weiter oben sprachen, sind für alle Umsiedler charakteristisch. Maria Jakowlewna sagt: „Dutzende Blatt Papier reichen nicht aus, um alles zu beschreiben. Das Schlimmste habe ich überhaupt nicht aufgeschrieben“. Aber mündlich berichtete sie uns, wie ihre Mutter die Kinder zusammenrief und zu ihnen sagte: „Lasst uns die Hütte weißen, und dann werden wir sterben, Nach uns soll nichts schmutzig zurückbleiben. Aber dann überlebten wir mit Gottes Hilfe bis zum nächsten Sommer“. Man muss dazu bemerken, dass die deutsche Reinlichkeit auch in der Gegenwart ein charakteristisches Merkmal der Deutsche ist.

Unsere Dorfbewohnerin Lidie Iwanowna Gorn (Horn?) erinnert sich, wie sie, damals noch ein Kind, zu den Nachbarn ging und darum bat, ob sie im Haushalt ein wenig helfen dürfte, um dafür ein Stückchen Brot und einen Becher Milch zu erhalten. Außerdem erinnert sie sich, wie sie vom Feld Ähren aufsammelten, und wenn sie dabei dem Mann begegneten, der alle Orte regelmäßig abfuhr und nach dem Rechten sah, dann mussten sie die Ähren wieder hergeben, er warf sie fort und schlug die Kinder auch noch; schwierig war der erste Winter, es gab keine Kartoffeln, sie gingen los und suchten auf dem Kolchosfeld gefrorene oder sammelten Kartoffelschalen. Als der Frühling kam, fingen die Deutschen an Gemüsegärten anzulegen, auszusäen, um sich selber mit Gemüse versorgen zu können. Ihr Vieh bekamen sie hier nicht zurück, sie lebten von und mit dem, was sie sich nach und nach anschafften.

Von der Agentur wurden einige Äußerungen der Deutschen über ihre Lage festgehalten: „Sie haben uns nicht zum Leben nach Sibirien verjagt, sondern um hier zu sterben. Die Sowjetmacht hat uns betrogen. Wir hatten in unserer Republik unser gutes Auskommen, und als wir dann hierher kamen, versprach man uns vor Ort, dass wir an unserem neuen Wohnort Getreide und Vieh geben würde und wir hier genau so ein Leben hätten wie in der alten Heimat, aber hier bekamen wir nichts, und wie es weitergehen soll – das weiß kein Mensch“. Sie haben uns hierher getrieben, um uns verhungern zu lassen. Wozu hierher fahren, wir hätten uns besser in der Wolga ertränken können“. „Auch wenn ich Parteimitglied bin – ich bin bereit, heute mein Parteibuch wegen all der Beleidigungen, welche die Sowjetmacht über uns verhängt hat, fortzuwerfen“. Viele Umsiedler hielten ihren Aufenthalt in Sibirien nur für vorübergehend, wollten keiner Kolchose beitreten, hofften auf eine baldige Rückkehr – nach Hause, in ihre Republik.

Doch gab es auch eine ganze Menge menschlicher, ordentlicher und mitfühlender Beziehungen gegenüber den Umsiedlern – sowohl seitens der örtlichen Leiter als auch der Dorfbewohner. Nach und nach änderte sich das Benehmen der Ortsansässigen gegenüber den Deutschen unter dem Einfluss des Verhaltens der Deutschen selbst. Am schnellsten passten sich die Bauern an die neuen Bedingungen an, die alsbald den Kolchosen beitraten und zusammen mit den örtlichen Bewohnern arbeiteten. Die sahen, das die Umsiedler ebenso fleißige Menschen waren wie sie selber.

Die Umsiedlung der Deutschen aus den traditionsgebundenen Wohnorten nach Sibirien und Kasachstan, die Konfiszierung des über Jahre angeschafften Besitzes, die Missachtung ihrer elementarsten Bedürfnisse, der Umgang mit ihnen als ob sie Feinde wären lösten eine völlig adäquate Reaktion aus: die deutsche Bevölkerung fing an, eine feindselige Haltung gegenüber dem Regime einzunehmen und zeigte sich in einer Reihe von Fällen sogar ganz offenkundig feindselig.

Folgen der Deportation

Die Deportation, die unter Kriegsbedingungeneine zu einer groben, inadäquaten Rückversicherung des stalinistischen Regimes wurde, führte zu einer tiefreichenden Veränderung der Lage der deutschen Bevölkerung in der UdSSR. Wenn vor dem Krieg die überwiegende Mehrheit der Deutschen dicht zusammen im europäischen Teil des Landes (Wolgagebiet, Südliche Ukraine, Krim) lebte, so gerieten sie nach der Deportation vor allem nach West-Sibirien und Kasachstan. Wie Staub wurden die Deutschen auf dem riesigen Territorium auseinander geblasen. Im Verlauf der Deportation verloren die Deutschen ihren Besitz, ihre Existenzmittel. Viele von ihnen kamen ums Leben, weil sie die schwierigen Bedingungen des Umzugs und des Lebens an ihren neuen Wohnorten nicht ertrugen. Und später erwarteten sie noch rauere Schicksalsherausforderungen – die „Arbeitsarmee“ und die Sonderansiedlung. Jede Woche mussten die Umsiedler sich einmal zur Kommandantur begeben und sich dort melden. Sie hatten kein Recht, sich ohne Erlaubnis an einen anderen Ort zu fahren, nicht einmal in die Stadt.

Erst im Dezember 1955 brachen für die Deutschen bessere Zeiten an: das Regime der Sonderansiedlung wurde abgeschafft. Unsere Dorfbewohner sagen: „Sie schafften die Kommandantur für uns ab, da hatten wir es dann etwas leichter, mussten uns nicht andauernd melden“. Allerdings hieß es in dem Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets ausdrücklich, dass „die Abschaffung der Einschränkungen für die Deutsch im Hinblick auf die Sonderansiedlung keine Rückgabe des Besitzes nach sich zog, den man bei ihrer Aussiedlung konfisziert hatte, und dass sie auch nicht das Recht besäßen, an die Orte zurück zu kehren, von denen sie ausgesiedelt worden waren“.

Und so blieben die meisten von ihnen in Berjosowka. Hier heirateten sie und fassten Fuß.

Als wir uns im Bezirksarchiv aufhielten, fanden wir keinerlei Informationen über irgendwelche Dorfbewohner, noch über unser Dorf, denn es war ursprünglich als Kolonie für Häftlinge gegründet worden. Wir wandten uns ans Gebietsarchiv; von dort kam die Antwort, dass auch dort keinerlei Angaben vorlägen. Alle Informationen sind geheim. Man kann sie nur in den Archiven des NKWD finden.

Als wir die Familien der deutschen Bewohner aus unserem Dorf besuchten, unterhielten wir uns mit allen; ihre Berichte über ihr Schicksal kann man in einem Album in unserem Museumseckchen lesen. Ebenfalls gibt es in unserem Museum selten Exponate – Familienreliquien einiger Dorfbewohner: das Nudelholz von Nina Wasiljewna Pabst, das bereits über 100 Jahre alt ist; eine Tasche (Beutegut) von Andrej Andrejewitsch Lorenz, die sein Vater aus dem Ersten Weltkrieg mit nach Hause brachte; ein Hemd von Friedrich Genrichowitsch Ritter, das seine Ehefrau aus einem abgetrennten Stück Satin nähte, welches er für gute Arbeit erhalten hatte, und andere Dinge.

Die Deutschen sind ein sehr akkurates, praktisches und geschäftiges Volk. Interessant sind Informationen aus dem „Ethno-Atlas der Region Krasnojarsk“: 1972 waren 15% derjenigen, die in der Region mit Orden und Medaillen ausgezeichnet worden waren ethnische Deutsche. Sie standen an der Spitze von 11 Sowchosen bzw. jeder 16. Im Jahre 1989 war jeder 13. Direktor einer Sowchose ein Deutscher. Bis heute werden dort, wo noch landwirtschaftliche Betriebe erhalten geblieben sind, viele on ihnen von Deutschen geleitet. Und sie sind deswegen erhalten geblieben, weil ihr Chef zu den Menschen gehört, die geschäftig, zuverlässig und geschickt eine Wirtschaft lenken können. Im Sommer 2009 nahmen wir gemeinsam mit unserer Projektleiterin Albina Anatoljewna an einer sozialen Befragung teil, die von der Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur durchgeführt wurde und in der es um die Lage der deutschen Bevölkerung in Russland ging. Wir interviewten Deutsche unterschiedlicher Altersgruppen. An der Befragung nahmen 20 Personen unterschiedlichen Geschlechts im Alter zwischen 25 und 85 Jahren teil. Insgesamt sollten sie auf 75 Fragen antworten. In der Anlage führen wir einen Teil von ihnen an.

Es war interessant, die Antworten der Dorfmitbewohner zu analysieren. Sie hegen keine besonderen Gefühle aufgrund ihrer Nationalität. Einige der Befragten erinnerten sich, dass sie in ihrer Kindheit wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit zu leiden hatten. Fast alle Deutschen halten das Dorf, in dem sie einen Großteil ihres Lebens verbracht haben, für ihre Heimat – Berjosowka. Von einer Rückkehr in die Heimat der Vorfahren, an die Wolga oder gar nach Deutschland, kann überhaupt keine Rede sein. Und doch halten sie Deutsch für ihre Muttersprache. Gleichzeitig benutzen sie die deutsche Sprache nur sehr selten, weil sie immer auf Russisch denken. Aber sie würden es gern sehen, wenn ihre Kinder und Enkelin der Schule Deutsch als Fremdsprache erlernen würden. Ehemalige Umsiedler sind der Meinung, dass Deutschland sie materiell unterstützen sollte. Aber dorthin ausreisen, um für immer dort zu leben – das wollen sie nicht. Und diejenigen, die nach Deutschland umgezogen sind, halten sie für Verräter. So antwortete Sofia Andriasowna Schefer auf die Frage, warum sie nicht mit nach Deutschland ging, als ihre Schwestern ausreisten: „Ich will mich nicht an sie erinnern! Wozu sind sie dorthin gefahren?! Hier ist doch jetzt unsere Heimat“.

Viele Jahre benötigte die sowjetische Regierung, um die ausgedachte Beschuldigung des Vaterlandsverratswieder von den Deutschen zu nehmen. Nach 23 Jahren, am 29. August 1964, erging ein neuer Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets „Über die Aufnahme von Änderungen in den Ukas vom 28. August 1941“. Dieser Ukas ersetzte den vorherigen.

Wir zitieren ein Fragment daraus: „Das Leben hat gezeigt, dass diese umfassenden Anschuldigungen unbegründet und eine Erscheinung der Willkür unter den Bedingungen von Stalins Personenkult waren“.

Es ist unerlässlich, dass die Ministerräte der Unionsrepubliken, in welche die Deutschen aus dem Wolgagebiet deportiert wurden, auch in Zukunft der in den Territorien der Republiken lebenden deutschen Bevölkerung ihre Hilfe und Unterstützung erweisen. Hier wird nichts über das Recht einer Rückkehr der einst Deportierten an ihren früheren Wohnort gesagt, denn die Republik der Wolgadeutschen wurde am 7. September 1941 aufgelöst.

Die Abschaffung dieser schmachvollen und durch nichts begründeten Einschränkung erfolgte erst im November 1972.

70 Jahre – ein hinreichend langer Zeitabschnitt in der Geschichte. Dennoch konnte er die Deportationen aus der Erinnerung der Menschen nicht fortwischen, er konnte auch die Emotionen nicht betäuben, die mit diesem tragischen Ereignis zusammenhängen. Nach und nach brachte die innere Entfremdung der Deutschen sie zu der Überzeugung, dass sie Russland nicht brauchten. Es kam zu einer mächtigen Emigrationsbewegung in Richtung Deutschland. Die Auswanderungsstimmung verstärkte sich noch nach dem Zerfall der UdSSR. In den schwierigen 1990er Jahren wurde praktisch der gesamte Emigrationsschub aus der Region (80-85%) von Deutschen vertreten.

Von unseren Dorfmitbewohnern entschloss sich allerdings nur die Familie von Karl Friedrichowitsch Schefer zur Ausreise nach Deutschland. Nachdem er dort eine Zeit lang gelebt hatte, kehrte er 2008 zu Besuch nach Berjosowka zurück und wollte hier ein Haus kaufen, um ganz zurückzukommen. Es ist sehr schwierig für junge Menschen, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind und dort eine gewisse Zeit gelebt haben, ihre Lebensbedingungen zu ändern. Doch es war ihm weder beschieden, zu seiner Ehefrau nach Deutschland zurückzureisen, noch für immer nach Berjosowka zurückzukehren: er starb hier. So ein tragisches Schicksal! Nachdem er mehr als 10 Jahre in seiner historischen Heimat gelebt hatte, kehrte der Mann hierher zurück, um nirgends mehr hinzufahren. Nicht umsonst nennen unsere Dorfmitbewohner Berjosowka ihre zweite Heimat und wollen an keinem anderen Ort leben.

Nachem die Anschuldigungen gegen die Deutschen als unbegründet und illegal anerkannt worden waren, erhielten sie den Status von Rehabilitierten und bekamen kleinere Vergünstigungen zugesprochen.

Derzeit leben in unserem Dorf 22 rehabilitierte Deutsche aus dem Wolgagebiet. Leider wird ihre Zahl von Jahr zu Jahr weniger.
Wir möchten gern alle namentlich nennen: Lidia Iwanowna Bogunowa (Gorn), Andrej Andrejewitsch Griesmann, Anna Karlowna Griesmann, Friedrich Andrejewitsch Griesmann, Elvira Karlowna Diehl, Wladimir Fjodorowitsch Schadan, Amalia Karlowna Kinstler, Frieda Johannowna Kinstler, Anna Iwanowna Lorenz, Maria Iwanowna Malinowskaja (Schefer), Karl Karlowitsch Pabst, Lidia Friedrichowna Pabst, Irma Friedrichowna Roschtschenko, Maria Andrejewna Folmer, Emilia Friedrichowna Folmer, Lidia Johannowna Schefer, Edwin Friedrichowitsch Schmidt, Heinrich Genrichowitsch Spies, Katharina Friedrichowna Spies, Sofia Karlowna Spies, Maria Andrejewna Stirtz, Nina Wasiljewna Pabst.

Wir, die wir mitten unter diesen Leuten leben, erinnern uns an die Erschwernisse, die auf ihr Los entfielen, ehren das Andenken an die in jenen Jahren verstorbenen Menschen und bemühen uns, die um uns herum Lebenden mit Aufmerksamkeit, Wärme und Fürsorge zu umgeben.

Am 30. Oktober, dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen, führen wir Gedenkveranstaltungen durch, laden zum Konzert und zum Teetrinken in unsere Schule ein. Sprechen möchten die Menschen über jene Jahre nicht, aber trotzdem versuchen wir ihre bedrückenden Erinnerungen durch unsere Freundlichkeit ihnen gegenüber zu glätten und zu mildern. Einmal im Jahr feiern wir an der Schule Weihnachten, denn nach der Tradition der Deutschen ist dies deren wichtigster Festtag.

Wir haben uns diese Worte von M. Gorki zur Devise gemacht:
„Wenn man die Vergangenheit nicht kennt, ist es unmöglich den wahren Sinn der Gegenwart und die Ziele für die Zukunft zu begreifen“.

Wir wollen mit den Worten Jawaharlal Nehrus enden:
„Die Vergangenheit ist immer mit uns, und alles, was wir uns vorstellen, alles, was wir besitzen, entstammt aus der Vergangenheit. Wir sind ihr Werk, und wir leben - ganz in sie hineingetaucht. Dies nicht zu verstehen und die Vergangenheit nicht zu fühlen bedeutet die Gegenwart nicht zu begreifen“.

Literaturangaben:

1. A.A. German. „Die deutsche Autonomie an der Wolga“. Saratow. 1994
2. Enzyklopädie „Die Deutschen Russlands“. Band 1. Moskau, „ERN“-Verlag. 1999
3. A.A. German, A.N. Kurotschkin „Die Deutschen der UdSSR in der Arbeitsarmee
(1941-1945)“, Moskau, „Gotika“-Verkag, 2000
4. „Ethno-Atlas der Region Krasnojarsk“. Krasnojarsk, „Platina“, 2008
5. Zeitung „Neues Leben“, 1992
6. W.A. Djatlowa. „Die Deutschen in Russland. Menschen und Schicksale“. St. Petersburg. 1998
7. Erinnerungen der Dorfmitbewohner (mündliche und schriftliche)

Anhang 1

Soziale Umfrage der
Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur
Über die Lage der deutschen Bevölkerung in Russland
Den Befragten wurden 75 Fragen vorgelegt, hier einige von ihnen.

1. Ihr Bildungsstand:
55% - allgemeine Grundausbildung (Alter 40-50 Jahre)
20% - Grundschule (65-85 Jahre)
15% - mittlere Spezialausbildung (25-55 Jahre)
10% - höhere (35-50 Jahre)

2. Berufe
5% - Agronom
10% - Traktorist
15% - Fahrer
20% - Lehrer
Übrige – Kolchosarbeiter ohne spezielle Ausbildung

3. Zu welcher Nationalität rechnen Sie sich zu?
100% - der deutschen

4. Was ist für Sie das Wichtigste bei der Bestimmung der Nationalität Ihrer Kinder?
Nationalität des Vaters - 60%
der Mutter – 20%
die Muttersprache – 20%

5. Spielt bei der Wahl des Ehepartners die Nationalität eine Rolle?
30% - nein (Mischehen)

6. Welche Nationalität haben Ihre Kinder, wenn Sie in einer Mischehe leben?
50% - die deutsche

7. Inwieweit ist für Sie die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität wichtig (nach der 10-Punkte-Skala): 5-6 Punkte

8. Wie soll man Ihrer Meinung nach Deutsche nennen, die in Russland leben:
(Russische Deutsche, Russland-Deutsche, Sowjet-Deutsche, Wolga-Deutsche, Sibirien-Deutsche Deutsche Russlands)?
15% - russische
20% -Russland-Deutsche
65% - Wolga-Deutsche

9. Was vermuten Sie – sind Russland-Deutsche in erster Linie
Russen, dann Deutsche – 50%
Deutsche, dann Russen – 45%
Tun sich mit einer Antwort schwer – 5%

10. Was vereint die Russland-Deutschen:
Sprache
Kultur
Historisches Schicksal (100% unterstrichen diesen Faktor)
Wohnort?

11. Sind die Russland-Deutschen ein selbständiges Volk?
100% antworteten mit „nein“

12. Merkmale, die Sie mit dem deutschen Volk verbinden:
- Historisches Schicksal und Tradition, Sprache.

13. In welchen Situationen fühlen Sie sich am meisten als Russland-Deutsche?
- in der Familie, beim Umgang mit Freunden

14. In welchem Alter empfanden Sie Ihre Zugehörigkeit zu den Russland-Deutschen?
5% - mit 8-13 Jahren
70% - mit 14-21 Jahren
Kein Empfinden – 25%

15. Auf welche Lebensbereiche hat Ihre Nationalität Einfluss? – Alle antworteten: auf den familiären

16. Was ruft die Zugehörigkeit zu den Russland-Deutschen in Ihnen hervor?
Gefühl des Stolzes –
Gefühl der Kränkung – 20%
Gefühl er Sicherheit –
Gefühl der Unsicherheit –
Keinerlei Gefühle – 80%

17. Welche Sprache halten Sie für Ihre Muttersprache?
Die Deutsche – 80%

18. Wie gut können Sie Deutsch?
Fließend – 50% (55-85 Jahre)
Ich verstehe es gut, spreche aber schlecht – 30% (40-50 Jahre)
Ich spreche und verstehe es schlecht – 20% (25-40 Jahre)

19. Wie häufig benutzen Sie Ihre Muttersprache?
Täglich –
Mehrmals die Woche – 5% (85 Jahre)
Mehrmals im Monat – 10% (65-75 Jahre)
Mehrmals im Jahr – 20% (50-65 Jahre)
Nie – 65% (25-50 Jahre)

20. In welcher Sprache lesen Sie Zeitungen, Zeitschriften, Belletristik, sehen Filme?
Russisch – 100%

21.Sollten die Kinder in der Schule Deutsch lernen?
Ja – 100%

22.Falls ja, dann vorzugsweise in welcher Form?
Als Muttersprache ab der 1. Klasse –
Als Fremdsprache -100%

Kann jemand, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, Russland-Deutscher sein?
Ja – 100%

24. Wie wichtig ist es die deutsche Sprache zu erhalten? (nach dem 10-Punkte-System) – 5 Punkte

25. Welche wichtigen Daten aus der Geschichte der Russland-Deutschen können Sie nennen?
28. August 1941 -100%

26. Bereiten Sie in der Küche deutsche Gerichte zu?
Ja – 100%

27. Haben Sie irgendwann feindliches Verhalten Ihnen gegenüber erfahren?
Oft –
Selten – 30%
Mitunter – 70%

28. Wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen Vertretern Ihrer und anderer Nationalitäten?
Wohlwollend – 80%
Neutral – 20%
Feindlich –

29. Würden Sie uns Wolgagebiet zurückgehen, wenn die Autonome Republik wieder hergestellt würde?
Ja - 5% (43 Jahre)
Eher nicht – 50% (25-50 Jahre)
Nein – 45% (50-85 Jahre)

30. Würden Sie gern nach Deutschland ausreisen?
Ja –
Vielleicht – 5%
Nein – 90%
Ich weiß nicht – 5%

31. Falls ja, aus welchem Grund?
Fehlende Stabilität in Russland – 10%
Wegen der Zukunft der Kinder – 5%

32. Was bedeutet für Sie die vollständige Rehabilitation der Russland-Deutschen?

Vergünstigungen, aber sie sind nur sehr gering – 20%
Es fällt mir schwer, darauf zu antworten –

Anhang 2


Karl Karlowitsch Pabst und Lidia Friedrichowna


Amalia Karlowna Kinstler, geboren 1924,
Arbeiterin in der Trud-Armee; wurde für ihr Lesen in
Der Bibel aus dem Wolgagebiet deportiert.


Nina Wasiljewna Pabst mit Familien-Reliquien:
Bibel und Nudelholz, das bereits über 100 Jahre alt ist


Maria Jakowlewna Siebert, geboren 1935


Lidia Iwanowna Bogunowa (Gorn),
geboren 1932


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