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Die Geschichte der deutschen Familien in der Ortschaft Sachapta

Autorin: Viktoria Igorewna Dschebko

Projektleiterin: Galina Pawlowna Dschebko, Geschichtslehrerin
Region Krasnojarsk, Bezirk Nasarowo, Ortschaft Sachapta
Vereinigung „Die Suchenden“
Städtische Bildungseinrichtung „Sachaptinsker allgemeinebildende Oberschule“

In meinem Heimatort Sachapta leben Menschen unterschiedlicher Nationalitäten Seite an Seite: Russen, Ukrainer, Weißrussen, Tschuwaschen, Armenier, Deutsche. Mit jedem dieser Völker ist eine ganz bestimmte Seite in der Geschichte unseres Landes verbunden. Die Russen sind im Laufe der Jahrhunderte in Sibiren heimisch geworden. Ukrainer und Weißrussen kamen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hierher, um sich vor der Landarmut in Sicherheit zu bringen. Die Tschuwaschen zwang der schreckliche Hunger in der Wolga-Region in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Umsiedlung nach Sibirien. Die Armenier tauchten in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in unserer Ortschaft auf, als mit dem Zerfall der UdSSR in ihren Heimatgebieten zwischennationale Konflike ausbrachen.

Aber die wohl schrecklichste, man kann sagen – schwärzeste Seite unserer Geschichte hängt mit den Deutschen zusammen. Nicht mit den Faschisten, und auch nicht mit den Eindringlingen und Verbrechern, sondern vielmehr mit den Rußland-Deutschen, die bereits seit mehreren Jahrhunderten in Rußland lebten, das Land als ihre Heimat bezeichnen, ehrlich und fleißig ihrer Arbeit nachgegangen sind und Kinder großgezogen haben. Am Beispiel des Schicksals dieses Volkes läßt sich sehr gut der wahre Sinn des Wortes „Repressionen“ erkennen. Wenn ich dieses Wort höre, dann stelle ich mir sofort die Millionen mit Schimpf und Schande bedeckten Schicksale einfacher Menschen und die unerträglichen Leiden der kleinen Kinder vor, die ihrer Kindheit, und oft sogar ihres Lebens, beraubt wurden.

Mich interessierte die Geschichte der deutschen Familien, die in Sachapta leben. Das Ergebnis ist die hier vorliegende, nicht sehr umfangreiche Arbeit.

Das Ziel, das ich mir selber gesteckt habe, war das Studium der Geschichte zweier deutscher Familien – Gafner (Hafner?) und Airich, die in unserer Ortschaft leben. Des weiteren wollte ich untersuchen, inwieweit die Repressionen auf ihr weiteres Schicksal Einfluß nahmen.

Im Verlauf meiner Arbeit zeichnete ich die Erinnerungen von Aleksander Bogdanowitsch Gafner auf, einem unmittelbaren Augenzeugen jener schrecklichen Ereignisse, und verwendete auch die Kenntnisse über die deutsche Familie Airich, die von Mitgliedern des Heimatkunde-Kreises gesammelt wurden und im Schul-Museum verwahrt werden. Sie bildeten die Grundlage für meine Arbeit. Natürlich mußte ich mich auch mit Literatur vertraut machen, die mir ebenfalls half, eine Vorstellung von den umfangreichen Repressions-maßnahmen gegen das deutsche Volk zu gewinnen, den historischen Weg dieser Repressalien zu verfolgen und ihre Formen kennenzulernen. Am wertvollsten aber war für mich der persönliche Kontakt mit den Lebenden, denn er gab die wahren Erlebnisse des Menschen wieder, half mir nicht nur den Geist jener Zeit nachzuempfinden, sondern selbst das Leid in den Schicksalen dieser Menschen zu fühlen. Wenn ich mir die Fotografien der Familien Gafner (Hafner) und Airich anschaue, dann bedrücken mich vor allen Dingen die Augen der Erwachsenen. In ihnen stehen nicht nur Qual, Leid und Trauer, sondern auch große Besorgnis geschrieben. Die Sorge um ihre Kinder, ihre Zukunft. Selbst heute erzählen die inzwischen betagten „Kinder“ jener Jahre nicht gern von ihrer Vergangenheit – die Folgen einer totalitären Gesellschaft machen sich immer noch bemerkbar.

Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg, und bereits am 28. August 1941 erging der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der Deutschen aus den Wolga-Gebieten“. Diese Aktion wurde mit den eindeutig ausgedachten Angaben darüber begründet, „daß es unter der in den Wolga-Gebieten lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione gibt, die auf ein Signal aus Deutschland hin Sprengungen in den von Deutschen bewohnten Wolga-Bezirken vornehmen sollen“.

Die Aussiedlung der Deutschen vollzog sich nicht nur aus der Autonomen Wolga-Republik, die bald darauf gänzlich liquidiert wurde, sondern auch aus den Stalingrader, Saratower und anderen Gebieten im europäischen Teil der UdSSR. Zu Beginn des Jahres 1942 waren alles in allem 1.100.000 Deutsche von der Zwangsdeportation betroffen. 1942 begann die Mobilisierung aller Deutschen ab dem 17. Lebensjahr in die Arbeitsarmee. Die Trudarmisten wurden zum Bau von Schachtanlagen und Fabriken, zum Holzeinschlag und zum Abbau von Erzgruben herangezogen. Nach dem Krieg besserte sich die Situation der Rußland-Deutschen nicht. Viele wurden in „Arbeitskolonnen“ zurückgelassen. 1947 hieß es, daß die Aussiedlung der Deutschen „für immer“ erfolgt sei, und daß eigenmächtiges Sichentfernen (Flucht) vom Wohnort nach dem Strafrecht mit 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft würde. Das strenge Regime der Sonderansiedlung wurde erst 1955 abgeschafft. Was verbirgt sich hinter diesen trostlosen Zeilen?

Hier die Erinnerungen des Bewohners der Ortschaft Sachapta – Aleksander Bogdanowitsch Gafner.

„Ich wurde am 14. Januar 1932 im Dorf Morengentaun (Morgentau!), Klemantowsker Bezirk, Gebiet Saratow, geboren. Mein Vater, Bogdan Bogdanowitsch Gafner, stammte aus einer armen Bauernfamilie. Während des ersten Weltkrieges wurde er in die Zarenarmee mobilisiert und nahm an Kampfhandlungen teil. 1917 trat er der bolschewistischen Partei bei, nahm aktiv am Aufbau der Sowjetmacht teil. In den Jahren des Bürgerkrieges stand er auf Seiten der „Roten“. Nach dessen Ende kehrte er nach Hause zurück, heiratete und arbeitete in der Kolchose“.

Das Leben eines ganz gewöhnlichen Menschen. Eines Russen, eines Ukrainers oder eines Tschuwaschen. Als ich mich mit dem Leben der einfachen Leute vertraut machte, da sagten sie mir, in der Regel, alle dasselbe: ich hab gelebt, gewissenhaft meine Arbeit getan und mich bemüht, die Kinder großzuziehen. Ich glaube, daß kaum jemand von ihnen sich ernsthaft über Politik Gedanken gemacht hat. Aber dafür hat die „Politik“ angesichts des totalitären Staates die Menschen nicht vergessen. Bald darauf begann die Suche nach den Volksfeinden unter uns. Die Sowjetmacht erkannte die Verdienste Bogdan Bogdanowitschs nicht an. Bereits 1937 geriet er unter den Hammer der Repressionen.

„Seitdem hat sich das Leben unserer Familie stark verändert. Mama mußte ganz allein die fünf Kinder durchbringen. Die Familie litt großen Hunger. Die älteren Kinder waren gezwungen, gemeinsam mit der Mutter auf den Kolchosfeldern zu arbeiten, aber trotzdem reichten die Mittel für die bloße Existenz nicht“.

Die Familie Gafner hatte noch keine Ahnung davon, was sie noch alles erwarten würde. Die Tragödie des gesamten sowjetischen Volkes nahm für die Rußland-Deutschen noch eine zweite tragische Wendung – die Deportation.

„Ich war damals 9 Jahre alt. Eines Tages wurde verkündet: die Deutschen sollen sich binnen 12 Stunden zur Evakuierung bereit halten. Was konnte man in 12 Stunden schon vorbereiten? Wir fuhren so, wie wir gerade gekleidet waren. Ein paar warme Sachen nahmen wir mit. Geld hatten wir nicht ... (weint). Sie transportierten uns in Viehwaggons – zwei Wochen lang. Niemand konnte uns sagen, wohin sie uns brachten. Mama verbarg die ganze Zeit ihr Gesicht vor uns, denn ihre Augen waren voller Tränen: sie wußte doch nicht, wovon sie ihre Kinder ernähren sollte, denn die wenigen Lebensmittel, die sie von zuhause mitgenommen hatten, waren schnell verbraucht. Erst am fünften Tag bekamen die Menschen etwas Brei zu essen...“

Ich denke, daß eine solche Haltung seitens der Macht gegenüber den Menschen nicht zufällig war. Offenbar kam es ihr ganz gelegen, daß möglichst viele Menschen nicht bis an ihren Bestimmungsort gelangten, sondern vielmehr eines „natürlichen“ Todes starben.

„Uns brachte man nach Nasarowo, registrierte uns bei der Kommandantur, und schickte uns dann weiter in das Dorf Skorobogatowo. Im Oktober 1941 holten sie meinen ältesten Bruder Jakob zur Arbeitsarmee in die Stadt Kirow. Ein Jahr später brachten sie meine ältere Schwester Erna zusammen mit anderen Mädchen in die Arbeitsarmee nach Burjatien. Die Mutter blieb mit drei Kindern – 12, 9 und 6 Jahre alt – zurück. Die Familie bekam eine Arbeiter-Ration Brot (500 Gramm). Mama arbeitete. Und dann gab es noch 200 Gramm Brot für jedes Kind. Um der Familie wenigstens ein wenig zu helfen, ging ich Vieh hüten.

Nach einem Jahr schickte man die Familie ins Dorf Swerewsk (heute heißt es Staroschilowo, Bezirk Nasarowo). Wir wohnten in einer Erdhütte und bauten uns erst gegen Ende des Krieges eineLehmhütte. 1945 kam die von der schweren Arbeit völlig entkräftete Schwester nach Hause zurück, ein Jahr darauf auch der Bruder. Unser Vater arbeitete als „Volksfeind“ 10 Jahre beim Straßenbau in der Region Murmansk. Im Herbst 1947 kehrte er nach Hause zurück. Der Vater hat uns niemals erzählt, wie er in diesen 10 Jahren gelebt hat. Die Schwerstarbeit hatte seine Gesundheit erschüttert. Er begann zu kränkeln. 1957 starb er“.

Auch das Schicksal der anderen deutschen Familien war kein leichtes. Es verlief in vielem ganz ähnlich: Schmerz, Leid und das Bestreben um jeden Preis zu überleben.

„Die Familie Airich kam Anfang Oktober 1941 nach Sibirien. Von den Deportationen der Deutschen von der Wolga (Gebiet Saratow, Bezirk Engels, Dorf Schwed) hatten sie bereits im August erfahren, deswegen gingen die Kinder ab 1. September schon nicht mehr in der Schule. Auch die Kinder der Familie Airich nahmen nicht am Unterricht teil (Emma sollte in die 4. Klasse kommen, Lidia in die 2.).

Die Abfahrt fand am 11. September statt. Die Familie bestand aus fünf Personen: den Eltern Karl Karlowitsch und Sofia Andrejewna sowie den drei Kindern: den Töchtern Emma und Lidia und dem einjährigen Sohn Paul. Paul wurde unterwegs krank und starb fünf Tage nach ihrer Ankunft. Sie transportierten uns in Viehwaggons. Wir fuhren sehr lange, und niemand wußte wohin. Einige Tage stand der Zug in Alma-Ata.

Vater Karl Karlowitsch war im Frühjahr, noch zuhause, zum Holzholen in den Wald gefahren und im Eis der Wolga eingebrochen. Lange Zeit war er krank. In Sibirien kam er als Invalide an – man hatte ihm die Beine amputieren müssen. Sie ließen sich in dem Dorf Cholma, Bezirk Nasarowo nieder. Als den verbannten Deutschen bereits in den 1960er Jahren die Abreise gestattet wurde, blieb die Familie Airich (eine von vielen) in Sibirien: der kranke Karl Karlowitsch war nicht in der Lage, irgendwohin zu fahren. Während des Krieges arbeitete er zuhause als Sattler: er nähte das Sattelzeug für die Kolchospferde und besohlte Schuhe. Davon lebten sie auch.Im November 1973 verstarb Karl Karlowitsch.

Für Sofia Andrejewna, seine Ehefrau, waren dies ganz schreckliche, schwere Jahre. In Sibirien wurden weitere Kinder geboren. Insgesamt waren es elf. Aber die schlechten Bedingungen machten sich auch hier bemerkbar: nur fünf von ihnen blieben am Leben. Lange Zeit lebten sie zusammengepfercht in einem winzigen Häuschen, das nur aus einem einzigen Zimmerchen bestand. 1956 kauften sie sich ein etwas geräumigeres kleines Haus, aber auch da mußten die Kinder mit ihrem Bettzeug auf dem Fußboden schlafen“. Übrigens war es Emma dadurch auch nicht möglich zur Schule zu gehen – sie mußte arbeiten. Bis heute kann sie sich noch ganz genau und unter Tränen an die kleine, behagliche Schule in dem deutschen Dörfchen Schwed erinnern, in der sie nur insgesamt drei Jahre den Unterricht besuchte...

Wie beeinflußten nun die Repressionen das Leben dieser Menschen? Die Familie Gafner wurde zuerst vom Vater getrennt, dann von den Geschwistern. Die schwere, alle Kräfte übersteigende Arbeit erschütterte die Gesundheit der Menschen. Bei den Airichs starb auf dem Weg in die Verbannung ein Kind – der lang ersehnte Sohn. Sie mußten unter sehr schwierigen Bedingungen leben. Damals lebten viele Menschen in ganz schlechten Verhältnissen, aber die Tragödie der Sonderumsiedler liegt meiner Meinung nach darin, daß sie von ihren lieben Verwandten getrennt wurden. Und das Schlimmste ist, daß man sie als Verbrecher, als „Volksfeinden“, abgestempelt hat. Davon können die Menschen sich auch heute immer noch nicht befreien. Gerade deswegen erinnern sie sich auch heute noch ungern an jene Jahre.

Quellen – und Literaturangaben:

1. Aleksander Bogdanowitsch Gafner. Mündliche Überlieferung.
2. Emma Karlowna Schnapp. Mündliche Überlieferung.
3. Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk: Bd. 1, Krasnojarsk, 2004.
4. Die Region Krasnojarsk in der Geschichte des Vaterlandes: Lesebuch für Lernende, Krasnojarsk, 2000.
5. Buch für Lehrer. Die Geschichte der politischen Repressionen und des Widerstandes gegen die Unfreiheit in der UdSSR, Moskau, 2002.


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