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Wir – die Deutschen von der Wolga

Anastasia Nikolajewna Duka, Städtische Bildungseinrichtung – Bolschekosulsker allgemein- bildende Oberschule, 10. Klasse

Leitung: Geschichtslehrerin Tatjana Wiktorowna Chalinina

Meine Großmutter, Anna Kasparowna Duka, arbeitete über vierzig Jahre als Lehrerin für russische Sprache und Literatur an der Bolschekosulsker Schule. Uns, ihren Enkelkindern, erzählt sie oft vom Schicksal ihrer Eltern, unserer Urgroßeltern: Sofia Genrichowna und Kaspar Kasparowitsch Wilhelm, die zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges Opfer von Repressionen wurden. Und so ist es gewesen.

Am 28. August 1941 wurde die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik der Wolga-Deutschen liquidiert. Die gesamte Bevölkerung unterlag der Zwangsumsiedlung. So endete die kurze Geschichte dieses Territoriums, das 1924 innerhalb der RSFSR geschaffen worden war.

Es war genau vor 65 Jahren. Mein Urgroßvater, Kaspar Kasparowitsch, fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit an der Maschinen- und Traktorenstation. Er war dort als Traktorist tätig. Aber kurz darauf kehrte er nach Hause zurück, weiß wie eine Leinwand, und sagte zu seiner Frau: „ Sonja, mach die Kinder fertig, sie wollen uns aussiedeln. Sie geben uns nur 24 Stunden Zeit“. Man kann sich nur vorstellen, was da in den Seelen der Eltern vor sich ging. Sie hatten vier Kinder – eines kleiner als das andere. Das hartnäckige Erinnerungsvermögen meiner Großmutter behielt so manche Episode im Gedächtnis. Am Abend dieses schrecklichen Tages holte der Vater sie aus dem Kindergarten und sagte, daß sie nun von hier fortgehen würden – wohin, das wüßte man nicht. Ihre Mutter war die ganze Zeit am Weinen und sprach davon, sie alle in der Wolga zu ertränken. Meine Urgroßväter waren sehr fleißige Leute. Gerade erst hatten sie ein neues Haus gebaut; es war noch nicht einmal verputzt. Das grüne Moos schaute noch aus den Fugen hervor. Sie hatten eine Menge Vieh: eine Kuh, ein Kalb, Schafe, Schweine, Hausenten mit ihrer ganzen zusammengewürfelten Kükenbrut. Alles mußten sie im Stich und zurücklassen. Sie nahmen nur ein wenig Kleidung und Lebensmittel für unterwegs mit.

Man verlud die Familie auf einen Güterwaggon. Sie fuhren sehr lange und standen unendlich lange Zeit auf allen Bahnhöfen. An einer Bahnstation hatte der Zug besonders lange Aufenthalt, und Urgroßvater stieg aus, um für die Kinder eine Wassermelone zu holen. Aber der Zug setzte sich unerwartet wieder in Bewegung, Urgroßvater mußte sich beeilen. Er bückte sich nach der Melone, und dabei fielen alle mitgenommen Ausweispapiere und Dokumente aus seiner Jackentasche. Es war keine Zeit mehr, sie zusammenzusuchen. Und so blieben sie auf dem Melonenfeld zurück.

Die Familie wurde in den Bogotolsker Bezirk, in das Dorf B-Zawod transportiert und im Kolchos-Kontor in einem kleinen Zimmerchen untergebracht. Die Menschen, die in B-Zawod lebten, benahmen sich menschlich gegenüber den Umsiedlern und ließen ihnen alle erdenkliche Hilfe zukommen. Die Umsiedlerkinder und ihre Altersgenossen lernten Sprachen: die deutschen Kinder Russisch, die Russenkinder – Deutsch. Sie zeigten mit dem Finger auf einen Gegenstand und benannten ihn dann jeweils in beiden Sprachen. So entstand der Reim: stol – Tisch, ryba – Fisch, pukomojnik – Bastwisch. Dieses Kinder-Vergnügen half irgendwie bei der Anpassung an das schreckliche Unbekannte.

Kaspar Kasparowitsch arbeitete in einer Organisation, die sich „Sagotskot“ („Viehbeschaffung“; Anm. d. Übers.) nannte.

In einer dunklen Nacht wurde laut an die Tür des kleinen Zimemrs geklopft. Urgroßvater öffnete sie. Drei Männer kamen herein. Sie trugen kurze Ledermäntel und seitlich Schulterriemen; sie sagten er solle sich fertigmachen und mitkommen. Meine Großmutter erinnert sich noch an die Worte des Vaters. Er sagte: „Na, Kinder, ich werde euch nicht wiedersehen“. Er hatte einen ganz trüben Blick. Sie sahen ihn nicht wieder.

Nachdem sie Kaspar Kasparytsch mitgenommen hatten, siedelte Sofia Genrichowna mit den Kindern nach B-Kosul über. Dort lebten irgendwelche Verwandten. In einer einzigen Kate lebten vier Familien. Sie hatten nichts zum Anziehen und auch nichts zu essen. Sofia Genrichowna fand keine Arbeit, denn sie konnte sich nicht ausweisen.

Im weiteren Verlauf der Ereignisse kam es so, daß es für diese Familie keinen Platz in dem Haus gab. Aber hinter dem Haus befand sich ein Pferdestall und daneben ein Speicher. Dort zog Urgroßmama mit ihren Kindern ein.

Allerlei Menschen gab es zu jener Zeit, auch solche, die die Umsiedler mit Steinen bewarfen und ihnen hinterherriefen: „ Verfluchtes Faschistenpack! Macht, daß ihr in euer Deutschland kommt!“. Denn sie wußten ja nicht, daß diese Deutschen überhaupt keine Beziehung zu Deutschland hatten, daß es sich vielmehr um echte Russen handelte, die an dem ganz und gar russischen Fluß Wolga, im Gebiet Saratow, in dem Dorf Krasnij Jar, geboren waren.

Als Großmutter 1952 ihr 16. Lebensjahr vollendete, wurde sie zu der beim Dorfsowjet befindlichen Kommandantur bestellt, damit sie dort ihre Fingerabdrücke nehmen und sie als „Volksfeindin“ registrieren konnten. Sie weigerte sich das zu tun, fühlte mit ganzem Herzen, daß da etwas Schreckliches vor sich ging und leistete beharrlich Widerstand. Dreimal rief man sie in die Kommandantur, aber sie ging nicht hin. Schließlich kam der Kommandant selbst zu ihrer Hütte, mit einer Pistole in der Hand. Er sagte, wenn sie jetzt nicht hingehe und ihrer Fingerabdrücke abnehmen lasse, dann würde er sie an die Wand stellen. Und Großmutter ging und ließ sich die Fingerabdrücke nehmen. Fünf Jahre, von 1952-1957, war Oma Anna Kasparowna bei der Kommandantur als „Volksfeindin“ registriert. Jede Woche mußte sie sich an einem bestimmten Tag bei der Kommandantur melden, als Beweis dafür, daß sie nicht irgendwohin weggelaufen war. Ohne entsprechende Bescheinigung der Kommandantur durfte sie noch nicht einmal zufuß nach Bogotol gehen, um Brot zu holen. In B-Kosul wurde Brot im Geschäft verkauft, aber den Kolchosarbeitern gab man keins. Die Umsiedler gingen in den Wald, sammelten Beeren und schleppten sie dann in aller Heimlichkeit, damit sie nur nicht gesehen wurden, über die Eisenbahnschwellen bis nach Bogotol, wo sie sie verkauften. Dann kauften sie Brot und brachten es auf demselben Weg ins Dorf zurück – barfuß. Als sie zuhause ankamen, brannten die Fußsohlen vom Laufen über die Schwellen. Sie steckten die Füße in eine Waschschüssel mit kaltem Wasser und ließen sie so lange darin, bis das Brennen nachgelassen hatte.

Urgroßmama starb 1984, so daß sie über das Schicksal ihres Mannes nichts mehr erfahren konnte. Erst nachdem das Sowjetsystem zusammengebrochen war, bekam Großmutter Informationen über den Verbleib und das Schicksal des Vaters (Dokumente liegen in Kopie vor).

So ist auch meine Großmutter alt und grau geworden. Sie hatte ihre ganze Kindheit und Jugendzeit hindurch für ihre Menschenwürde gekämpft.. Ihr Leben lang hat sie ehrlich zum Wohle ihres Heimatlandes gearbeitet, ohne etwas Böses zu denken, und ihre Schüler Gutes gelehrt.


Das ist meine Großmutter, die Dorfschullehrerin Anna Kasparowna Duka


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