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Die Unseren – die Fremden (die Rußland-Deutschen)

Alljährlicher gesamtrussischer Wettbewerb von Forschungsarbeiten der Schüler höherer Klassenstufen „Der Mensch in der Geschichte Rußlands - 20. Jahrhundert“

Autorin: Tatjana Eranzewa. Städtische Bildungseinrichtung Waginskaja, Allgemeinbildende Oberschule, 11. Klasse

Projektleiterin: L.A. Pesterewa – Geschichtslehrerin höherer Qualifizierung, „Verdiente Pädagogin“ der Region Krasnojarsk aufgrund hervorragender Volksaufklärung.

Ortschaft Wagino
2008

Inhalt

Einführung

1. Die planmäßige Ansiedlung von Deutschen unter Katharina II, Pawel I. und Aleksander I.

§1. An den Urquellen deutscher Kultur in Rußland.
§2. Gründe für die Auswanderung.
§3. Regionen der Besiedlung in Rußland.
§4. Wesentliche Funktionen der Kolonisten im Wolgagebiet.
§5. Hofwirtschaft und Dorf.
§6. Kirchenleben und Schule.
§7. Einschränkungen und Abschaffung von Privilegien.

II. Die Deutschen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

III. 2. Weltkrieg. Deportation und Arbeitsarmee.

IV. Das Leben der Sowjet-Deutschen in der Nachkriegszeit (1945-1972).

§1. Die Amnestie von 1955.
§2. Die Teilamnestie von 1964.
§3. Die 1970er und 1980er Jahre.

V. Die heutige Situation der Rußland-Deutschen.

Schlußfolgerung
Literaturangaben
Anhang

Einführung

Die Jahre vergehen, und auf die Frage des Jahrhunderts
antworten die Kinder –
unsere Kinder.
Wer waren wir? Wer auf dieser Welt
hat Rußland mehr geliebt
und ist damit gestorben...
Und die Enkel ... na, was denn. Die Enkel erinnern sich, vielleicht...
Viktor Feser, Kassel, Deutschland.

Die von der regionalen „Memorial“-Gesellschaft 2006 durchgeführte Aktion „Die Region Krasnojarsk in den Jahren der politischen Repressionen“, die dem Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen gewidmet war, zwang mich, über die Schicksale unserer Landsleute nachzudenken, die vollkommen unrechtmäßigen Bestrafungen ausgesetzt waren. Die gegenwärtige Vorlesungsreihe „Die Geschichte Rußlands - 20. Jahrhundert“ gibt noch keine vollständige Auskunft über diese tragische Seite unserer Geschichte. Traurige Berühmtheit erlangte die Region Krasnojarsk durch die „sibirische Zwangsarbeit“; das Gebiet wurde zu einem Ort, an dem Menschen unverdient eine schwere Strafe verbüßten. In unserer nächsten Umgebung, in den Dörfern und Städten, leben diejenigen, die Repressionen durchmachen mußten. Ihre Enkel sitzen mit uns zusammen auf derselben Schulbank und haben dabei mitunter nicht einmal die geringste Ahnung vom tragischen Schicksal ihrer unmittelbaren Verwandten.

Ziel meiner Arbeit war das Studium der Geschichte der Wolga-Deutschen sowie die Erforschung der Schicksale der in den Waginsker Dorfsowjet, Bogotolsker Bezirk, deportierten Deutschen aus der Ortschaft Krasnyj Jar, Bezirk Engels, Gebiet Saratow.

Zunächst stellte wurde die Aufgabe gestellt, Material zu sammeln und die Informationen zu diesem Forschungsthema zusammenzufassen. Bei der Bekanntschaft mit konkreten Schicksalen sollte das Alltagsleben der Menschen analysiert werden: man sollte erkennen, wie es sich gestaltete, versuchen zu verstehen, wie die Leute sich an die neuen Gegebenheiten des Lebens anpassten, die persönliche Existenz eines Menschen mit dem Lauf der historischen Ereignisse in eine Wechselbeziehung zu bringen und sich eine Vorstellung vom Alltagsleben in den verschiedenen Epochen (XVIII-XXI) zu machen.

In den letzten Jahren erschienen Publikationen, die den Problemen in der Geschichte der Rußland-Deutschen gewidmet sind, vor allem den Deportationen. Aber diese Materialien enthüllen noch nicht in vollem Umfang die Geschichte des deutschen Volkes in der UdSSR, sein trauriges und äußerst tragisches Schicksal.. Denn gerade gegen die Deutschen richtete sich der Hauptschlag der Repressionsmaschinerie des Stalinschen Regimes, deren ganze Schuld darin lag, daß sie aufgrund ihrer historischen Wurzeln mit dem Staat verbunden waren, der den Krieg gegen die UdSSR angezettelt hatte.

Historische Arbeitsquellen: mündliche Aussagen jener, die repressiert wurden; die häuslichen Archive (Fotografien, Dokumente, Ehrenurkunden, alte Zeitungsbündel) der Familien Ekkardt, Pin, Damer; Materialien des Museums der Stadt Engels, Region Saratow sowie des Zentrums für deutsche Kultur der Stadt Engels.

1. Planmäßige Ansiedlung der Deutschen unter Katharina II, Pawel I und Aleksander I

§1. An den Urquellen deutscher Kultur in Rußland.

Deutsche lebten in Rußland schon lange vor der geplanten Umsiedlung deutscher Bauern. Bereits im Mittelalter siedelten sich Kaufleute der deutschen Hanse im Norden Rußlands, in Nowgorod, an. Während der Herrschaft Iwans des Schrecklichen waren dazu verstärkt Handwerker, Ärzte, Offiziere, Angestellte, usw. aufgerufen. In Moskau entstand auf diese Weise eine komplette deutsche Vorstadt (Sloboda). Peter der Große zog viele Deutsche in seine Umgebung. Seine Anhänger vertrauten den Deutschen auch verantwortungsvolle Posten in diplomatischen Kreisen, bei Behörden und in der Armee an.

In den riesigen Weiten Rußlands gab es eine große Menge ungenutzter, aber fruchtbarer Böden und noch jede Menge unbesiedeltes Land. Um diese Böden urbar zu machen, gab Katharina II am 22. Juli 1763 ein Manifest heraus, in dem ausländische Bürger dazu aufgerufen wurden nach Rußland zu kommen. In ihrer Schrift versprach die Imperatorin freie Glaubensausübung. Wer sich in unbewohnten Gegenden niederließ, wurde für die Dauer von 30 Jahren von der Steuer befreit; wer andere Regionen bevorzugte – zwischen 5 und 10 Jahren. Die Umsiedler waren vom Kriegs- und Zivildienst freigestellt. Alle für die Kolonisten zur Verfügung stehenden Ländereien wurden ihnen auf ewig als Gemeindeeigentum überlassen; man bewilligte ihnen das Recht auf Gemeinde-Selbstverwaltung. Sie waren unmittelbar dem Thron unterstellt. Die Behörden versicherten den Umsiedlern, daß sie das Zarenreich jederzeit wieder verlassen könnten. Die Kolonisten waren keine Leibeigenen, sondern Freie. Später wurden die Privilegien der Kolonisten durch Paul I und Alexander I sogar noch gefestigt und ausgeweitet.

§2. Gründe für die Emigration.

Was waren die Gründe für die Auswanderung der Deutschen? Die Umsiedler kamen vorrangig aus dem Landstrich Hessen und dem südwestlichen Teil Deutschlands. Wirtschaftliche Not, Mißernten, Hungerjahre, Einschränkungen bei der Glaubensausübung, die ihnen von Fürsten und fremden Mächten auferlegt worden waren, ausländische Besatzung – all das zwang tausende Deutsche ihre Heimat zu verlassen und nach Rußland umzusiedeln.

§3. Regionen der Besiedlung in Rußland.

Die planmäßige Ansiedlung Rußlands durch deutsche Bauern begann ab 1763 und zog sich bis ins Jahr 1842 hin. Einige Kolonien bildeten sich noch bis 1862 heraus. Nach dem Manifest Katharinas II setzte eine Massenumsiedlung von Deutschen aus Hessen, aber auch aus Württemberg und den am Rhein gelegenen Gebieten nach Rußland ein. Damals gab es keine Eisenbahn und keine Dampfer, und der lange Weg führte die Umsiedler zunächst zufuß bis nach Lübeck und anschließend über das Meer nach Petersburg. Die weitere Reise verlief von dort auf dem Landweg über Moskau oder mit dem Schiff auf der Wolga bis nach Saratow, wo in unwegsamem Gelände der Grundstein für 104 Siedlungen gelegt wurde.

Zwischen 1763 und 1768 besiedelten ungefähr achttausend Familien mit einer Gesamtzahl von 27000 Seelen das Wolgagebiet. Am rechten Ufer der Wolga wurden 45, am linken 57 Kolonien gegründet.

Deutsche aus anderen Teilen Deutschlands gründeten Kolonien in der Ukraine, in Bessarabien, auf der Krim und im Süd-Kaukasus. Später tauchten auch deutsche Siedlungsgebiete südlich des Ural und in West-Sibirien auf, und gegen Ende des 19.Jahrhunderts auch in Zentral-Asien. Die allerletzte Siedlung entstand in den 1920er Jahren am Amur.

Der Kinderreichtum in den deutschen Familien war einer der Gründe für die breite Ansiedlung der Rußland-Deutschen. Die Anzahl der deutschen Nationalgruppe wuchs innerhalb von 150 Jahren von anfangs 100.000 Umsiedlern auf 1,7 Millionen an (Angaben von 1914), d.h. ihre Anzahl stieg auf das Siebzehnfache. (Die Deutschen in Rußland und in der GUS (1763-1997), Deutschland, Stuttgart, 1998).

Bei allen Deutschen in Rußland entwickelte sich im Laufe er Zeit ein klar ausgeprägtes Bewußtsein für die Kleine Heimat. Im Unterschied zu den Umsiedlern in den USA und in Kanada waren die Rußland-Deutschen stets bemüht Deutsche zu bleiben. Von Anfang an achteten sie strikt auf die Beibehaltung ihrer religiösen Riten, sie bewahrten ihre Sprache, ihre nationalen Traditionen (Volkslieder und Volkskunst, Musik, Volkstrachten, Sitten und Gebräuche) und gaben diese sorgsam an die nachfolgenden Generationen weiter. Dies half ihnen dabei, in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten, ihre nationalen Eigenarten zu wahren und der Assimilation erfolgreich Widerstand zu leisten.

§4. Wesentliche Funktionen der Kolonisten im Wolgagebiet.

Landwirtschaft

Die Kultur der Rußland-Deutschen in den ländlichen Gebieten wurde im wesentlichen von den Bauern bestimmt. Handwerker und Kaufleute ließen sich erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Kolonien nieder. Mit großer Beharrlichkeit nahmen die Kolonisten die Urbarmachung des Neulandes in Angriff. Sie hatten ihre Pflüge, Haken-Mäher, gebogene Hacken, ungewöhnlich geformte Sicheln, Sensen, Kornschwingen, Mühlsteine und sogar Dreschsteine mitgebracht. Rohlinge für Steinwalzen für die verschiedenen Stadien der Bearbeitung, aber auch fertig hergestellte Produkte finden sich heute noch im Wolgagebiet.

Alle paßten sich an die neuen Bedingungen an und bewältigten die scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten. Der Boden erwies sich als karg und nicht sehr fruchtbar. In erster Linie säten sie Weizen, Gerste, Hafer und Mais. Die Deutschen züchteten auch eine bekannte Art von Kühen (dassogenannte deutsche rote Steppenvieh), die sehr beliebt waren und sich einer großen Nachfrage erfreuten.

In wirtschaftlicher Hinsicht sahen sich die Kolonisten mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Aber ihr Fleiß, die kinderreichen Familien, Sparsamkeit, bäuerliche Routine und besondere Fertigkeiten führten zu einem ziemlich schnellen Aufschwung ihres Lebensniveaus; es wurden Grundsteine für neue Siedlungen gelegt, und durch den Kauf neuer Ländereien nahmen die Kolonien einen immer größer werdenden Teil des Territoriums ein.

Handwerk und Produktion

In den Wolga-Kolonien entwickelten sich verschiedene Arten von Handwerk. Als bedeutendster Neben-Produktionszweig galt das Weben feiner Baumwollstoffe. Fast bis 1890 war dieser Produktionszweig ausschließlich in deutscher Hand. In den Häusern der Kolonisten fanden sich bis zu vier Webstühle gleichzeitig. Alle Familienmitglieder waren, so lange das Tageslicht dies ermöglichte, mit dem Spinnen, Aufspulen des Garns und dem eigentlichen Weben beschäftigt. Die Einnahmen eines Webers betrugen im Jahr 54 Rubel (laut Angaben des Heimatkundemuseums Saratow). Den Vorrang vor allen anderen Produktionszweigen und Handwerksarten hatte das Schmiedehandwerk. In jedem deutschen Dorf gab es 2-3 Schmiede, die in vollem Umfang den gesamten Bedarf der bäuerlichen Wirtschaften deckten – von Pflugausrüstungen und Ersatzteilen für Kornschwingungen, bis hin zu Türgriffen, Nägeln und Verzierungen für Pferdegeschirre.

Aber der ungewöhnlichste Industriezweig war die Herstellung von Tabakspfeifen. Er entstand im Gouvernement Samara gegen Ende des XVIII. / Anfang des XIX. Jahrhunderts; später wurde er ins Gouvernement Saratow verlegt. Als Rohstoff dienten Wurzeln und Stämme von Birken und Ahornbäumen. Es gab insgesamt 19 verschiedene Arten von Pfeifen.. Von einfachen (für 4 Kopeken pro Stück) bis hin zu kompliziert gefertigten Fassungen aus Messing und Silber. Eine Vielzahl derartiger Pfeifen kann man in den Museen der Städte Engels, Saratow, Samara, Pensa und Sankt-Petersburg besichtigen.

Ab Mitte des XIX. Jahrhunderts bis 1941 nahmen in den Häusern der Wolga-Deutschen neben Möbeln lokaler Produktion, aus den großen Werkstätten und Fabriken der Städte Engels, Saratow und Balzer auch solche Möbel einen Großteil des Platzes ein, die von ortsansässigen Meistern gefertigt worden waren. Einer dieser berühmten Meister war Andreas Jeronibus aus Alt-Warenburg. Seine Enkel hinterließen im September 1941 eine Aufschrift an der Türinnenseite eines kleinen Schränkchens. Die Inschrift war an den neuen Bewohner gerichtet und enthielt die Bitte, ihr Haus zu erhalten.

Aus dem Grün ungeschälter Gerten flochten sie Tische , Kinderwagen, Vasen, Schatullen und Büchergestelle. Anfang des XX. Jahrhunderts befaßten sich allein in den deutschen Dörfern etwa 4000 Personen mit Flechten in Heimarbeit (das Datenmaterial stammt aus dem Heimatkundemuseum in Saratow).

Eine weitreichende Entwicklung nahm auch das Müllerhandwerk, und zahlreiche Ziegelfabriken lieferten das erforderliche Baumaterial.

§5. Hofwirtschaft und Dorf

Im Wolgagebiet bauten sie große Dörfer, die häufig eher an eine Stadt erinnerten. Die Häuserreihen standen entlang der langen Straßenzüge. Die Länge einer Straße betrug zwischen einem und drei Kilometern; sie waren zwischen 30 und 80 Meter breit. Zu beiden Seiten des Fahrweges verliefen Fußwege, die mit Akazienbäumen eingefaßt waren. Bereits bei der Erstvermessung der Landanteile wurde in der Dorfmitte ein großes Revier für die Kirche und die Schule zugeteilt. Alle Höfe hatten die gleiche Größe: 40 m breit und 120 m lang. Die Häuser waren alle nur eingeschossig; deswegen erhob sich der Glockenturm der Kirche als höcstes Bauwerk über das Dorf.. Geräumig und in strenger Anordnung standen die Gebäude auf dem Territorium des Gehöfts. Auf der einen Seite stand das langgestreckte Haus, abgetrennt vom Straßenzaun durch einen kleinen Blumengarten. Zwei Wohnungen mit vier Zimmern gewährten der Familie des Vaters und dem ältesten, schon verheirateten Sohn Obdach. Das Wohnhaus führte auf einer Seite zur Straße hinaus. Gegenüber, auf der anderen Seite des Hofes, der ebenfalls mit einer Seite zur Straße zeigte, befand sich die Sommerküche oder das Haus für die jüngere Generation. Die Viehställe trennten den Vorderteil des Hauses vom hinteren Bereich. Durch eine Öffnung in der Wand konnte man den Pferdemist direkt in den Wirtschaftshof werfen, aber niemals in den vorderen Teil des Hauses! Die Kolonistenhäuser zeichneten sich durch ihre außerordentliche Sauberkeit aus. Beim Bau eines einzigen derartigen Gehöfts wurden rund 570 Tausend Rubel aus Staatsgeldern verbraucht! Ein Pferd kostete Mitte des XVIII. Jahrhunderts ungefähr 9 Rubel (Angbane aus dem Heimatkundemuseum in Engels, Gebiet Saratow). Im Wolgagebiet wurden die Häuser aus Stein oder Holz gebaut. Die Gebäude waren gut eingerichtet und sauber geweißt. Die Dächer waren mit Blech oder Schilf gedeckt. Häufig konnte man auf dem Dach auch einen Hinweis darauf sehen, wann das Haus erbaut worden war.

Bevor sie mit dem Bau ihrer Häuser begannen, mußten die Deutschen zuerst Bäume pflanzen. Im Frühjahr versank das Dorf immer in einer wahren Blütenpracht und dem Wohlgeruch von Honig. Oft waren hinter den dicht wachsenden Akazien die Häuser nicht zu sehen.

Für die Verwaltung des Dorfes wurde ein Dorfältester gewählt, welcher gegenüber der Dorfversammlung oder der Bezorksstadt rechenschaftspflichtig war. Die Gouvernementsverwaltung der Kolonisten war dem Saratower Fürsorgekontor unterstellt, welches wiederum unmittelbar unter der Oberhoheit der Petersburger Regierung stand.

§6. Kirchenleben und Schule

Kirche und Schule bildeten das Fundament, das nötig war, um die Eigenarten der Deutschen in Rusßland zu bewahren.

Viele Deutsche waren aufgrund religiöser Verfolgung nach Rußland ausgewandert. Die russische Regierung garantierte ihnen die Freiheit der Glaubensausübung, und so bauten die Kolonisten in aktiver Weise Kirchen. In jedem mitteleren und großen Dorf gab es eine Kirche mit einem hohen Glockenturm. Der Garten und die Einfriedung um die Kirche herum wurden in mustergültiger Ordnung gehalten. In allen Kirchen gab es Orgeln, die aus Deutschland herbeigeschafft worden waren. Mit ihrem architektonischen Stil erinnerten sie an die weit entfernte Heimat. Alle Kolonisten besuchten eifrig die Kirchen; an den Sonntagen waren sie immer überfüllt.

Jedes deutsche Dorf besaß auch eine Schule; bis 1891 fand der Unterricht in deutscher Sprache statt, danach begann die Russifizierung der Volksbildung, und immer mehr Schulen gingen dazu über in Russisch zu unterrichten.

Unter den Kolonisten gab es niemanden, der nicht lesen und schreiben konnte.

Außer den Dorfschulen entstanden auch Zentralschulen, in denen Lehrkräfte, Dorfschreiber und Kaufleute ausgebildet wurden. Eine große Rolle fiel der deutschen Sprache und Literatur zu.

Nach 1905 kamen Seminare für Lehrerfortbildung und Rechtsprechung, Gymnasien, Handels- und landwirtschaftliche Schulen auf.

§7. Einschränkungen und Abschaffung von Privilegien

In der zweiten Häfte des XIX. Jahrhunderts nahm innerhalb des russischen Adels, der Politiker und Intelligenz, parallel zum Panslawismus, die Feindseligkeit gegenüber den in Rußland lebenden Deutschen und überhaupt gegenüber allem, was deutsch war, zu. Der französisch-preußische Krieg und die Bildung des Deutschen Reiches dienten 1871 als letzter Impuls für die Abschaffung der bei der Ansiedlung „auf ewig“ zugesicherten Rechte und Privilegien. 1874 wurde auf die Deutschen auch die allgemeine Wehrpflicht ausgeweitet.

Es begann die Emigration von Deutschen nach Amerika. Bis 1912 wanderten ungefähr dreihunderttausend aus. Eine neue Welle der Emigration rollte ab 1918. In den zwanziger Jahren verließen etwa 150-200000 Deutsche das Land (Deutsche in Rußland und der GUS (1763-1997), Deutschland, Stuttgart, 1998).

II. Die Deutschen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

In den Jahren des ersten Weltkrieges verschärfte sich der Haß gegen die Deutschen plötzlich. An öffentlichen Plätzen war es ihnen verboten Deutsch zu sprechen, Predigten in deutscher Sprache wurden nicht geduldet und auch gesellschaftliche Versammlungen wurden den Deutschen strengstens untersagt. In Moskau wurde am 27. Mai 1915 ein Pogrom gegen Deutsche organisiert.

Am 2. Februar und 13. Dezember 1915 wurde von der Regierung das Gesetz über die Liquidierung von Grundbesitz und Bodennutzung verabschiedet. Zum Jahr 1917 hin betraf dieses Gesetz nur Wolhynien-Deutsche. Ungefähr 200000 völlig zugrunde gerichtete Wolhynien-Deutsche wurfden nach Sibirien verschleppt.

Zur Zeit der Sowjets nahmen die Verfolgungen in Zusammenhang mit der deutschen Bevölkerung drastisch zu. In den Jahren 1921 bis 1924 sowie 1932/1933 brach zum ersten Mal in der Geschichte der Rußland-Deutschen eine Hungersnot aus. Aufgrund des ersten Weltkrieges, des Bürgerkrieges und der Hungerperiode ging die Zahl der Deutschen auf 400000 zurück. (Angaben des Heimatkundemuseums in der Stadt Engels).

1929/1930, im Verlauf der Kollektivierung und Entkulakisierung, wurden die Kolonisten-Männer in den Hohen Norden und nach Sibirien verschleppt. Ein besonders grausamer Schlag wurde den Deutschen durch die Massen-Repressionen der Jahre 1937/38 versetzt; die Anzahl der Verhaftungen in jeder Siedlung war von oben festgelegt. Opfer waren vorwiegend Bürger deutschen Ursprungs. Viele von ihnen besaßen Verwandte in Deutschland, den USA und Kanada. „Verbindungen zum Ausland“ und „Spionage“ lauteten die Begründungen für die Verhaftungen. Die letzte Verhaftungs- und Erschießungswelle fand in den ersten Monaten nach dem Einfall der deutschen Truppen (22.06.1941) in die UdSSR statt, als die anfänglichen Verluste der Roten Armee die Suche nach den „Schuldigen“ provozierte.

Mit Einführung der Kolchosen und der einhergehenden Entkulakisierung und Verstaatlichung von Grund und Boden in den Dörfern mit ursprünglich homogener (deutscher) Bevölkerung begann ein Prozeß der Verschmelzung von Nationen. Dadurch veränderte sich auch das Äußere der Dörfer. Die Viehställe wurden abgerissen, die Häuser verkürzt. Stattdessen kamen immer mehr langgezogene Kuh- und Pferdeställe auf, die zur Kolchose gehörten. Anstelle der schönen Gebäude aus Stein begann man nun, vor allem am Dorfrand, „Lehmhütten“ zu bauen. Von der ehemaligen Pracht der Kolonisten-Siedlungen in den kaum wiederzuerkennenden Dörfern blieb keine einzge Spur übrig.

In der Periode zwischen den beiden Weltkriegen erlebte die deutsche nationale Minderheit noch einmal einen kurzen, stürmischen Aufschwung. 1918 wurde die „Arbeitskommune der Wolga-Deutschen“ gegründet, die 1924 in den Rang der „Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolga-Deutschen“ (ASSR NP) erhoben wurde. 1924 verabschiedete der Räte-Parteitag die Verfassung der autonomen Republik. Offiziell wurde sie häufig auch „Stalins blühender Garten“ genannt, denn nach Einführung moderner Produktionsmethoden nahm sie den führenden Platz in der UdSSR ein. In einem nie dagewesenen Ausmaß entwickelten sich Industrie, Landwirtschaft und Kultur. In der Republik gab es ein weites Schulnetz, 11 technische Fachschulen, 5 Hochschulen, 3 Arbeiterfakultäten, 20 Kulturpaläste sowie das Deutsche National- und Kindertheater. Es erschienen 20 lokale und 5 regionale Zeitungen. Die Republik verfügte über alle Merkmale nationaler Bildung (2/3 der Bevölkerung waren Deutsche); sie stellte gewissermaßen ein Zentrum dar, wo Spezialisten für andere nationale Gruppen in anderen Gegenden der UdSSR ausgebildet wurden. Allen Bewohnern der vereinigten deutschen Siedlungen wurde das Recht der kulturellen und administrativen Autonomie zuerkannt (Schulunterricht in Deutsch, Verwendung der deutschen Sprache in den Selbstverwaltungsorganen und bei Gerichtsverhandlungen). Aber bereits im Schuljahr 1938/39 wurden alle Schulen auf dem Territorium der Wolga-Deutschen verpflichtet, den Unterricht nur noch in Russisch oder Ukrainisch abzuhalten, und 1939 wurden die deutschen Bezirke annuliiert. 1929/31 wurden alle Kirchen geschlossen und das Abhalten von Gottesdiensten verboten. Noch vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges entzog man den Deutschen alle Rechte der nationalen Minderheiten.

III. 2. Weltkrieg. Deportation und Arbeitsarmee.

Die Deutschen stellten die erste ethnische Gruppe dar, die nach der deutschen Invasion kollektiv ausgewiesen wurde. Laut Angaben der Volkszählung von 1939 lebten in der UdSSR 1.427.000 Deutsche. Es waren zum größten Teil Nachfahren der Deutschen, die von Katharina ins Land gerufen worden waren, die ebenfalls in Deutschland, in Hessen, geboren war. Sie sollten ihren Wohnsitz nach Rußland verlegen, um die weiten Gebiete im Süden des Landes zu bevölkern. 1924 schuf die Sowjetregierung an der Wolga eine autonome deutsche Republik. Die Wolga-Deutschen zählten 370.000 Personen – das entsprach einem Viertel aller in Rußland lebenden Deutschen. Sie lebten in den Bezirken Saratow, Stalingrad, Woronesch, Moskau und Leningrad; 390.000 lebten in der Ukraine. Deutsche siedelten auch auf der Krim in Georgien, im Nordkaukasus (Krasnodar, Ordschonikidse, Stawropol).

Vor mir liegt ein einzigartiges Dokument. Es ist die Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 über die Massendeportation der Deutschen.


Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der in den Wolgagebieten lebenden Deutschen“ vom 28. August 1941.

Nach glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Bezirken Sprengstoffanschläge verüben sollen.

Über die Anwesenheit einer so großen Zahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen hat bislang keiner der in den Wolga-Rayons ansässigen Deutschen den Sowjetbehörden Meldung gemacht; folglich hält die deutsche Bevölkerung der Wolga-Rayons in ihrer Mitte Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht versteckt. Im Falle von Diversionsakten, die auf Weisung aus Deutschland durch deutsche Diversanten und Spione in der Republik der Wolgadeutschen odr in den angrenzenden Rayons ausgeführt werden sollen, und für den Fall, daß es zu Blutvergießen kommt, wird die Sowjetregierung entsprechend den zu Kriegszeiten geltenden Gesetzen gezwungen sein, Strafmaßnahmen zu ergreifen.

Um jedoch unerwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und ernsthaftes Blutvergießen zu verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden, die gesamte deutsche Bevölkerung, die in den Wolga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons umzusiedeln, und zwar derart, daß den Umzusiedelnden Land zugeteilt und bei der Einrichtung in den neuen Rayons staatliche Unterstützung gewährt werden soll.

Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR – M. Kalinin
Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR – A. Gorkin
(Nachrichten des Obersten Sowjets der UdSSR, 1941, N° 38)


In Übereinstimmung mit diesem Gesetz sollte die gesamte deutsche Bevölkerung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, der Bezirke Saratow und Stalingrad, nach Sibirien und Kasachstan ausgewiesen werden. Angeblich wurde ihnen dieser Beschluß aus rein humanitären Überlegungen aufgezwungen, aber auch aus der Notwendigkeit heraus, keine terroristischen Akte von Seiten der deutschen Bevölkerung zuzulassen. Zur Durchführung dieser Operation stellte L. Berija 14.000 Mann aus den Truppen des NKWD bereit. Sie handelten unter der Leitung des stellvertretenden Vokskommissars für innere Angelegenheiten – General Iwan Serow, der mit „Säuberungen“ bereits in den baltischen Republiken gesammelt hatte.

In dieser Zeit drang die Rote Armee ins Landesuinnere vor, trug schwere Verluste an Toten und Verwundeten davon, und tausende Soldaten und Offiziere wurden zur Durchführung gleichartiger Operationen herangezogen. Die Aussiedlung der Deutschen vollzog sich in aller Eile und in äußerst organisierter Form. Vom 3. bis 20. September 1941 wurden 446.840 Deutsche mit insgesamt 230 Transportzügen zu jeweils 50 Waggons deportiert. Mit jedem Transport wurden etwa 2.000 Personen verschickt! Die Züge waren bis zum Bestimmungsort zwischen vier und acht Wochen unterwegs – in die Bezirke Omsk und Barnaul, ins Gebiet Nowosibirsk, in die Region Krasnojarsk und den Süden Sibiriens.

Laut Anweisungen gab man den „umzusiedelnden Personen“ eine „bestimmte Frist, um Lebensmittelvorräte für mindestens einen Monat einzupacken“. Diese Angaben sind im „Schwarzbuch des Kommunismus“, Ausgabe 2001, Moskau (Übersetzung aus dem Französischen) enthalten.

Als sich diese Haupt-Operation der Aussiedlung der Deutschen voll entfaltet hatte, schlugen Molotow, Malenkow und Schdanow Stalin vor „ Leningrad und das Gebiet Leningrad von 96.000 Personen deutschen und finnischen Ursprungs zu „säubern“. Bis zum Heranrücken der faschistischen Truppen gelang es lediglich 11.000 sowjetische Bürger deutscher Nationalität zu verhaften und auszuweisen. In den Folgewochen wurden verschleppt: am 14. September aus Gorkij – 3.162, am 15. September aus Moskau – 9.640, am 21. September aus Tula – 2.700, vom 10. bis 20. September aus Rostow – 38.288, vom 25. September bis 10. Oktober aus Saporoschje 31.320 Personen, usw. Bis zum 25. Dezember 1941 wurden insgesamt 894.600 Menschen in Regionen Kasachstans und Sibiriens verschleppt. Diese Angaben nennt Nicola Werth im „Schwarzbuch des Kommunismus“, Moskau, 2001.

1943-44 setzte die zweite Welle der Deportationen ein. Sechs Völker (Tschetschenen, Inguschen, Krim-Tataren, Karatschewo-Tscherkessen, Balkiren und Kalmücken) wurden nach Sibirien, Kasachstan, Usbekistan und Kirgisien ausgesiedelt. Diese Aktion betraf etwa 900.000 Menschen. Von Juli bis Dezember 1944 wurden die Halbinsel Krim und der Kaukasus von Griechen, Bulgaren, Krim-Armeniern, Kurden und Hemschinen „gesäubert“. Die Aussiedlung vollzog sich unter dem Vorwand ihrer „kollektiven Zusammenarbeit mit den Deutschen Besatzern“.

Ein Teil der Verbannten-Züge, die in unserer Region abgeladen wurden, waren zuerst in Richtung Kasachstan gefahren; dort hatte man sie offensichtlich nicht aufgenommen, so daß sie nach Sibirien zurückkehrten.

In unsere Region kamen deportierte Wolgadeutsche sowohl vom linken Ufer der Wolga, dem sogenannten Steppenufer, als auch aus den am rechten, dem Bergufer gelegenen Bezirken der Deutschen Republik.

In unsere Region gerieten Bewohner aus dem Verwaltungszentrum Engels, aus dem Vorstadt-Kanton Ternowka, aus dem zweitgrößten, am linken Ufer gelegenen Ort Marxstadt, aus dem Kanton Unterwalden, aus den südlichen, linksgelegenen Kantonen Kukkus und Seelmann,und aus dem östlichen Steppenkanton Krasnyj Kut.

Vom Bergufer der ASSR der Wolgadeutschen kamen in unsere Region Deprtierte aus den Kantonen Balzer und Kamenka. In den Süden der Region gerieten Berschleppte aus den Dörfern Dönhof und Kutter.

Diese Angaben stammen aus dem Buch „Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk“, Krasnojarsk, 2005.

Die Mehrheit der in die Verbannung geschickten Wolgadeutschen wurden praktisch sofort auf die umliegenden Kolchosen verteilt, also bereits im Herbst 1941.

Ab Januar 1942 begann die behörden damit, alle Männer, außer Alte und Invaliden, in die „Trudarmee“ zu jagen – hauptsächlich zum Bäumefällen in die Zonen der Krasnojarsker, Wjatsker und Usolsker Lager sowie die Kohleschächte des Kusnezker Beckens.

Und im Sommer 1942 trieben sie zahllose Frauen, mit Ausnahme derer, die viele Kindern hatten, gegen ihren Willen „zum Fischfang“ in den Norden: nach Igarka, Ewenkien, in den Turuchansker Bezirk und auf die Halbinsel Tajmyr.

1943 holten sie auch Halbwüchsige in die „Trudarmee“.

Die „Trudarmeen“ waren in der Tat nichts anderes als Zwangsarbeitslager, umgeben von Stacheldraht und von bewaffneten Wachmannschaften umstellt. Auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen wurden sie von einem Soldatenkonvoi begleitet, der den Befehl hatte, beim geringsten Verdacht zu schießen. In dem ganzen Elend, dem Druck der Demütigungen und der Enge des Lagers starb eine riesige Anzahl Arbeitsarmisten an Hunger und Kälte, aus Verzweiflung und aufgrund der alle Kräfte übersteigenden Arbeit (Anhang 1).

Frauen beim Bäumefällen in der Taiga des Nordens, Arbeiterinnen in den Schächten des Ural und beim Kohle-Tagebau hinter dem Polarkreis, die kümmerlichen Brotrationen, die vor lauter Hunger sterbenden Kinder, der unbarmherzige Frost, Hunger, Elend, das völlige Fehlen von Hoffnung auf Erlösung und der Tod als lang ersehnter Retter aus aller Not – so sah das Schicksal der Rußland-Deutschen nach dem 2. Weltkrieg aus. Unter solchen Bedingungen kamen ungefähr 300.000 Menschen ums Leben.

Diejenigen Wolgadeutschen, die am Leben blieben, wurden aus der Lagerhaft freigelassen; man schickte sie 1946 in die Verbannung – an genau die gleichen Orte.

Damals, in den Jahren 1946.1947, wurde vom NKWD über alle Erwachsene eine persönliche Akte angelegt und geführt. Die aus der ASSR der Wolgadeutschen Deportierten, aber auch alle anderen Deutschen, wurden im Februar und März 1956 aus der Verbannung entlassen, jedoch ohne das Recht in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen.

Erst 1972 erhielten Vertreter der deportierten Völker die Erlaubnis, ihren Wohnort frei zu wählen. (Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk – Herausgeberprojekte: Krasnojarsk, 2004).

IV. Das Leben der Sowjet-Deutschen in der Nachkriegszeit (1945-1972).

§1. Die Amnestie des Jahres 1955.

Ab 1945 wurde die Existenz von Deutschen in der Sowjetunion totgeschwiegen. Man schrieb über sie weder in Zeitungen, noch in Zeitschriften und Büchern; sie wurden auch in der Öffentlichkeit und in Radiosendungen nicht erwähnt. Es gab keinen Briefwechsel mit den Verwandten im Westen.

Am 13. Dezember 1955 kam der Ukas des Obersten Sowkets der UdSSR „Über den Wegfall der Einschränkungen in der Rechtslage der Deutschen und ihrer in Sonderansiedlung befindlichen Familienmitglieder“ heraus. Die Kommandantur wurde abgeschafft, aber das Verbot der Rückkehr in die Heimat blieb auch weiterhin bestehen. Auch die nationalen Rechte der Deutschen in der UdSSR wurden nicht wiederhergestellt. Sie sollten durch ihre Unterschrift bestätigen, daß sie weder in die Heimat zurückkehren, noch Schadensersatzansprüche aufgrund des seinerzeit konfiszierten Besitzes erheben würden. Mehrere tausend Familien zogen in die südlichen Bezirke der UdSSR um, es begann ein Prozeß der Wiedervereinigung von Familien, Zeitungen kamen wieder in deutscher Sprache heraus, Lutheraner und Katholiken fingen an Kontakte zu Glaubensbrüdern im Westen herzustellen. Laut Volkszählung des Jahres 1959 lebten in der UdSSR 1,6 Millionen Deutsche (Deutsche und Russen in der GUS (1763-1997), Deutschland, Stuttgart, 1998).

§2. Die Teilamnestie des Jahres 1964

Am 29. August 1964 (nach 23 Jahren!) verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR den Beschluß „Über die Aufhebung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941“ – „Über die Umsiedlung der Wolgadeutschen“. Dieser Entscheid entfernte von den Deutschen endlich den Schandfleck des Verrats und der Untreue gegenüber dem Vaterland. Allerdings wurde das, was im Ukas des Jahres 1964 versprochen wurde, an den jeweiligen Orten nicht eingehalten. Die Forderung der Deutschen über die Wiederherstellung einer autonomen Republik wurde als nationalismus interpretiert. Deutsche Schulen wurden nicht wieder eingerichtet. Die Kinder der Rußland-Deutschen sprachen in Dialekten, wie sie ihnen von den Eltern mit in die Wiege gelegt worden waren, und einige konnten bereits überhaupt kein Deutsch mehr sprechen. Lediglich 3% aller Deutschen konnten einen Platz in höheren Bildungseinrichtungen bekommen. (Deutsche in Rußland und der GUS (1763-1997), Deutschland, Stuttgart, 1998).

§3. Die 1970er und 1980er Jahre.

Trotz der teilweisen Rehabilitation im Jahre 1964 sollten die Deutschen an ihren Verbannungsorten bleiben. Für seine Rechte zu kämpfen gestaltete sich als äußerst schwierig. In den sowjetischen Publikationsmitteln wurde das Thema der Deutschen höchstens ganz am Rande gestreift. Die wenigen in Deutsch erscheinenden Zeitungen sowie Radio- und Fernsehsendungen in deutscher Sprache konnten sich nicht zur Kritik an Staat und Partei entschließen. Es gab Probleme bei der Registrierung deutscher Kirchengemeinden. Das Unterrichten in deutscher Sprache befand sich in einer Phase des Stillstandes. Viele Deutsche sahen einen Ausweg aus der Situation in der Ausreise indie historische Heimat ihrer Vorfahren, nach Deutschland. Für die Rußland- Deutschen war Deutschland ein „himmelblauer Traum“. Wegen dieses Traums riskierten sie alles: ihren Beruf, ihre Zukunft, Gesundheit, materielle Sicherheit, sogar jene wenigen Freiheiten, die unter den bedingungen eines totalitären Staatsregimes auf ihr Los entfallen waren. Die Ausreise wurde durch zahlreiche Hindernisse seitens der Behörden erschwert. Veränderungen traten erst mit dem 1. Januar 1987 ein, mit der Verabschiedung des Gesetzes über Ein- und Ausreisen.

V. Die heutige Situation der Rußland-Deutschen.

Dörfer mit ausschließlich deutscher Bevölkerung, wie es vor dem krieg der Fall gewesen war, existieren heute nicht mehr. Laut Volkszählung des Jahres 1989 lebten in der UdSSR ungefähr 2 Millionen Deutsche. (Deutsche in Rußland und der GUS (1763-1997), Deutschland, Stuttgart, 1998). Tatsächlich kann die Zahl größer gewesen sein, denn zu jener Zeit war es riskant sich als Deutscher zu bezeichnen.

In den vergangenen 20 Jahren reisten etwa 120-150.000 Deutsche aus Sibirien und dem Ural in den europäischen Teil aus. (Deutsche in Rußland und der GUS (1763-1997), Deutschland, Stuttgart, 1998. Die anderen leben nach wie vor an den ehemaligen Orten ihrer Vertreibung. Diejenigen, die nicht nach Deutschland ausreisen wollen, siedeln in Gebiete mit größerer deutscher Bevölkerungsdichte um – in das Omsker Gebiet und die Altai-Region.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre lebten erneut die Diskussionen über eine Autonomie der Wolgadeutschen auf. Allerdings wurde keine Entscheidung über eine Wiederherstellung des deutschen nationalen Gebietes in den Regionen Saratow und Wolgograd getroffen.

In den Nachkriegsjahren verläuft die Assimilation der Deutschen mit wachsendem Tempo. Laut Volkszählung des Jahres 1989 hielt lediglich die Hälfte der Rußland-Deutschen Deutsch für ihre Muttersprache. An den Schulen findet praktisch kein Unterricht in der Muttersprache statt: es gibt keine Lehrkräfte und geeignete Lehrmittel. Als Fremdsprache wird Englisch gelehrt. Und eben deswegen sind die Deutschen um das Wiederaufleben und die Wahrung ihrer nationalen Traditionen besorgt. Diese Zielsetzung verfolgt in sehr aktiver Weise das Zentrum für nationale Kultur im Wolgagebiet.

Ein derartiges Zentrum ist in der Stadt Engels anzutreffen. Die Rußland-Deutschen haben ihre eigenen Vorstellungen von den kulturellen Werten, die sie erhalten möchten.In den Jahren der Verfolgung und Deportation gab ihnen der Glaube an eine Höhere Gerechtigkeit den notwendigen Halt und flößte ihnen Hoffnung ein. Die ältere Generation ist auch heute religiös. Das starke Gefühl der Familienzusammengehörigkeit, Treue gegenüber den alten Sitten und Gebräuchen, die Bereitschaft dem anderen zu helfen, Anspruchslosigkeit, unermesslicher Fleiß und Strebsamkeit sind die grundlegenden ethnischen Merkmale, die tief in der deutschen Kultur verwurzelt sind. Der Erhalt dieser Besonderheiten über Jahrhunderte bereichert noch die Vielfalt der deutschen Kultur: bereits längst vergessene kulturelle Werte – Sitten und Gebräuche, Lieder, Dialekte – leben in der Volkserinnerung wieder auf.

In den vergangenen Jahren hat sich die Emigration aus Rußland nicht vermindert. Und das hat seine guten Gründe. Bis heute gibt es keine Garantien für die Wiederherstellung eines eigenen Staatsgefüges. Sie wollen wie Deutsche unter Deutschen leben, ihren Kindern die Möglichkeit geben deutsche Schulen zu besuchen, für sich und ihre Familien eine neue Lebensart schaffen. Der älteren Generation fällt es schwerer, aber Kinder werden schnell vertraut mit der deutschen Umgangssprache und eignen sich eine neue Lebensweise schneller an. Aber auch in ihrer historischen heimat werden die Rußland-Deutschen mit Problemen konfrontiert. Man wirft ihnen oft vor, daß sie Fremde sind, und „keine Deutschen, denn sie sprechen ja nicht einmal Deutsch“. In Deutschland geht das Gerücht, daß die Rußland-Deutschen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ dorthin gekommen sind und „auf unsere Kosten Rente kassieren“.

Man macht sie dafür verantwortlich, daß es nicht genügend Wohnungen und Arbeitsplätze gibt, denn sie geben sich mit relativ kleinen Wohnungen zufrieden und sind schon glücklich über irgendeine Arbeitsstelle, selbst wenn diese nicht der beruflichen Qualifikation entspricht. Dieses Unverständnis wird hervorgerufen durch die Unwissenheit der Massen über die Geschichte und das Schicksal der Rußland-Deutschen. Für ihre Integration in Deutschland setzen sich die Landsmannschaft der Deutschen in Rußland sowie der Kulturrat der Deutschen aus Rußland ein.

Ob sie dort zu „ihresgleichen“ werden?

Schlußfolgerung

Während ich mich mit den für die hier vorliegende Arbeit gesammelten Materialien befaßte, konnte ich die Geschichte und das Schicksal der Wolgadeutschen immer noch nicht vollständig verstehen; daher beschloß eine Schülergruppe, unter Leitung der Pädagogin Ljubow Aleksejewna Pesterewa, eine Fahrt in die Ortschaft Krasnyj Jar, Bezirk Engels, Gebiet Saratow, zu unternehmen. Wir wollten mit eigenen Augen jene Orte sehen, in denen deutsche Kolonisten gelebt und wo sich die Republik der Wolgadeutschen befunden hatte. Unter uns befanden sich Nachfahren der beiden deutschen Familien Ekkardt und Pin, die 1941 in Dörfer des Waginsker Dorfrates, Bezirk Bogotol, Region Krasnojarsk, deportiert worden waren. Karoline Ekkardt und Jekena Smoljaninowa gelang es, die Geschichte ihrer Familien über fünf Generation zu rekonstuieren! Wir stellten Kontakt mit Schülern der Ortschaft Krasnij Jar her und bekam eine Einladung dorthin zu kommen. Aus ihren Briefen erfuhren wir, daß diejenigen, die heute in der Ortschaft leben, fast nichts über die Geschichte der Wolgadeutschen und ihre Deportation nach Sibirien wissen. Die Schüler nahmen die Präsentation unsers Materials mit großem Interesse auf; besonders interessierte sie dabei das Schicksal jener, die immer noch in der Region Krasnojarsk leben. Für uns war es interessant sie überhaupt kennengelernt zu haben! Und sie wunderten sich über uns, weil wir aus dem fernen, fernen Sibirien ganze 4000 km zu ihnen gereist waren. Sie waren neugierig zu erfahren, welche Hobbies wir haben, wie es bei uns in der Schule zugeht und wie wir unsere Freizeit verbringen. Wir zeigten ihnen Dia-Filme über die sibirische Natur,unsere Ortschaft, die Schule, den Kulturpalast.

Die Forschungsreise nach Krasnij Jar, das einst ein rein deutsches Dorf war, liegt nun hinter uns. Wir haben alles besichtigt, was uns Auskunft über seine Geschichte geben konnte – die gewissenhaft aus Ziegelsteinen und Holz errichteten Häuser mit den großen Kelleräumen, das ehemalige, vor mehr als hundert Jahren erbaute Haus des Müllers, das frühere Krankenhaus. Darin wohnen heute Umsiedler aus Sibirien und Kasachstan. Wir haben uns den Dorfmittelpunkt angeschaut, wo einst die Lutheraner-Kirche stand, die dann zum Dorfclub umfunktioniert wurde. Aber heute steht auf ihrem alten Fundament ein halb verfallenes Kesselhaus.

Über die Stufen der Uferböschung, die noch vor Kriegsbeginn angelegt wurden, stiegen wir zum Fluß Beresowka hinab, einem Zufluß der Wolga.

Wir wohnten in den Familien derer, die die Deportation, den Nachkriegshunger, K#lte und Erniedrigungen durchgemacht hatten, derer, die alles in ihrer Erinnerung mit sich trugen und nichts vergessen hatten. Sie waren gern bereit, mit uns zusammenzusitzen, um uns von ihrem schweren Schicksal zu erzählen.

Für uns wurde eine Fahrt nach Engels organisiert. Wir besuchten dort das Heimatkunde-Museum, in dem sich eine Auswahl hervorragender Exponate über das Leben der deutschen Kolonisten befindet. Wir waren auch im Deutschen Kulturzentrum. Leute aus dem Studio des „Zentrums“ zeigten uns einen Ausschnitt aus dem Theaterstück „Zungenbrecher“ in deutscher Sprache. Sie hörten unseren Erzählungen über das Leben der deportierten Wolgadeutschenbei uns in Sibirien aufmerksam zu. Wir tuaschten unsere Telefonnummern aus und versprachen einander zu schreiben. Sie wunderten sich über unseren Mut, tausende Kilometer weit zu fahren, um ihnen von der Geschichte ihres Volkes zu erzählen. Und sie wunderten sich auch über unsere Passion zum Thema der Geschichte der Wolgadeutschen.

1. Vom 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1941 besaßen die Wolgadeutschen ihre ganz besondere Lebensordnung, weil sie die Traditionen ihrer historischen Heimat bewahrt hatten. Sie unterhielten sich in ihrer Muttersprache, hüteten ihren Glauben, ihre Sitten und Gebräuche. Sie gehörten alle zusammen, waren ihresgleichen.

2. Innerhalb von zwei Jahrhunderten vollzog sich ein gegenseitiges Vordringen der Kulturen: die Sprache wurde bereichert, die Trachten änderten sich, Elemente russischer und ukrainischer Kultur kamen hinzu.

3. Die Deportation von 1941 führte zur Vernichtung der deutschen Kolonie an der Wolga. In den letzten 60 Jahren haben die Deutschen sich inmitten anderer Völker geöffnet, vor allem unter den Russen. Sie haben ihre Sprache eingebüßt, deren die junge Generation schon gar nicht mehr mächtig ist. Religion und Traditionen sind in Vergessenheit geraten. In den Kriegs- und Nachkriesjahren wurden die Deutschen zu „anderen“.

Seit den 1960er Jahren haben diejenigen, die in Sibirien geboren und aufgewachsen sind, angefangen sich als „Gleiche unter Gleichen“ zu fühlen. Sie besitzen heute nicht mehr ihre typischen Unterscheidungsmerkmale, außer enormen Fleiß und Genauigkeit.

4. Nachdem sie an ihre Geburtsorte zurückgekehrt waren, hofften viele Deutsche auf die Wiederkehr der deutschen Kolonien, aber nichts dergleichen geschah. Es gelang nicht, das frühere Leben wieder zurückzuholen, und so begannen die Deutschen Rußland zu verlassen, in der Hoffnung, daß sie in der historischen Heimat wieder zu sich selbst finden würden. Aber zurückgekehrt nach Deutschland, wurden dort viele zu „Fremden unter ihresgleichen“.

Wo also sind sie „ihresgleichen“, wo „Fremde“?

5. Nachdem ich das Schicksal der deportierten Wolgadeutschen ausführlich studiert hatte, kam ich zu dem Schluß, daß es viele Gemeinsamkeiten gibt. Aus der Ortschaft Krasnij Jar wurden die Deutsche am 3. September 1941 ausgesiedelt. Der Zug Nr. 725 fuhr in 16 Tagen von der Stadt Saratow bis zur Station Bogotol. Die Familien verloren ihre Häuser, ihren Besitz, ihre Hofwirtschaften. Man erlärte sie zu „Volksfeinden“. Die Menschen wurden unter der Begleitung von Wachmannschaften in Viehwaggons transportiert. Die meisten Familien wurden auf Kolchosen des Bezirks Bogotol verteilt. In den Kolchosen gab es kein überschüssiges getreide, und viele deutsche Familien wurden an den Rand des Aussterbens getrieben. Mitleid mit den Umsiedlern zeigten einfache russische Frauen und sogar Kinder. Natürliche Gefühle und Verhaltensweisen – Mitleid, gegenseitige Hilfe, Vertrauen – waren damals nicht ungefährlich. Es verlangte einem schon eine Menge Mut ab, um „Volksfeinden“ behilflich zu sein. Alle hatten es schwer und ertrugen es gemeinsam. Und sie überlebten. Allem zum Trotz. Die jungen Leute gründeten Familien, gingen Mischehen ein. Kinder wuchsen heran, es kamen Enkel und Urenkel. Sie zeigten keinerlei Erbitterung und Herzlosigkeit, empfanden keinen Haß gegen alles und jeden, sie lehrten die anderen zu vergeben und nicht zu verurteilen oder zu verfluchen.

Die 12-14jährigen, älteren Kinder gingen sofort arbeiten; die jüngeren kamen spät zur Schule und verließen die Grund- oder Mittelschule ohne vernünftigen Abschluß. Heute sagen sie, daß sie nichts bereut haben. Sie bedauern auch nicht, daß es ihnen nicht vergönnt war, ihr Leben an der Wolga weiterzuführen. Warum machen sie sich dann solche Sorgen in ihren Gesprächen über die Vergangenheit? Warum steigt immer dann ihr Blutdruck? Warum füllen sich ihre Augen mit Tränen? Warum erzittert bei den kräftigen Verbannten-Männern die Stimme? Und warum sind ihre Gesichter vor Aufregung mit lauter roten Flecken übersät?

Ich habe begriffen, daß man anhand ihrer Schicksale die geschichte unseres Landes studieren kann. Sie selbst sind die Geschcihte ....

Warum habe ich ausgerechnet dieses Thema für meine Arbeit ausgewählt?

Ich denke, daß wir, die jungen Leute, die Pflicht haben, uns der Millionen in der Maschinerie der Repressionen unschuldig verurteilter und umgekommener Menschen zu erinnern, um für ihre Verwandten, die ihnen Nahestehenden, ihre Nachfahren ihre ehrbaren Namen wiederherzustellen. Die vorliegende Arbeit hat mir geholfen, die Geschichte des Landes mit Hilfe des Schicksals einzelner Menschen zu verstehen.. Diejenigen, die in der Maschinerie der Verfolgungen umgekommen sind, haben ein Recht auf unsere Trauer und unser Gedenken.

In diesem Jahr werde ich die Schule beenden, ich muß dann ins Erwachsenenleben eintreten, und wir, die jungen Leute, müssen uns dann entscheiden, was aus uns werden soll und in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ich stimme mit Jewgenij Jewtuschenko überein, der gesagt hat: „Wir müssen wissen, wie das alles geschehen ist, damit uns niemand jemals wieder unserer Zukunft beraubt. Das Wissen um die Vergangenheit bedeutet die Rettung der Zukunft – es ist ihr Garant“.

Literaturangaben

1. A.A. German, A.N. Kuotschkin. Die Deutschen der UdSSR in der „Trudarmee“ (1941-1945), MOskau, (Drei Jahrhunderte Geschichte), 2001.
2. E.A. Gorobzowa. Hofwirtschaft und Alltag der Wolgadeutschen.
3. A.G. Koloskow. Lesebuch Rußlands . 20. Jahrhundert, Moskau, Drofa, 2000.
4. Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk, Krasnojarsk, Herausgeberprojekte, 2004.
5. Die Region Krasnojarsk in der Geschichte des Vaterlandes, Krasnojarsk, 2000.
6. R. Medwedew. Sie umgaben Stalin, Moskau, 1990.
7. Die Deutschen in Rußland und der GUS, Deutschland, Stuttgart, 1998.
8. O.W. Orlowa. Geschichte des Vaterlandes. 20. Jahrhundert, Sankt-Petersburg, 2003.
9. O.W. Chlewnuk. Das Jahr 1937: Stalin das NKWD und die sowjetische Gesellschaft, Moskau, 1992.
10. Das Schwarzbuch des kommunismus (Verbrechen, Terror, Repressionen), Moskau (Drei Jahrhunderte Geschichte), 2001.

Geschrieben mit den Worten von Dorothea Karlowna Sysojewa (Pin), geb. 1928, die in dem Dorf Dmitriewka, Bezirk Bogotol, Region Krasnojarsk lebt.

Dorothea Karlowna Sysojewa (geborene Pin) wurde am 28. Juni 1928 in dem Dorf Konstantinowka (heute Stadt Konstantinowka), Gebiet Odessa (heute Donezk), Ukraine, geboren. Sie war die Tochter von Karl Andrejewitsch Pin, geb. 1906, und Dorothea Genrichowna Pin, geborene Aul, geb. am 16. Juni 1904 im Dorf Krasnij Jar, Gebiet Saratow. Sie wurde in der Familie des Genrich (Heinrich) Genrichowitsch Aul und seiner Frau Dorothea Andrejewna Aul erzogen.

1937 zogen Karl Andrejewitsch Pin und seine Frau mit den beiden kleinen Kindern ins Dorf Krasnij Jar, Kanton Krasnyj Jar, ASSR der Wolgadeutschen (heute Bezirk Engels, Gebiet Saratow).

Der Vater nannte seine älteste Tochter zu Ehren von Ehefrau und Großmutter – Dorothea, und den Sohn Andrej (Andreas). Er wurde 1936 geboren. Die Verwandten der Ehefrau halfen bei der Anschaffung von Haus und Wirtschaft. Das Haus bestand aus zwei großen freundlichen Zimmern; es stand mit seiner Stirnseite zur Straße. Zuhause schufen Dorothea Genrichownas geschickten Hände eine mustergültige Sauberkeit und Ordnung.

- Mama“, - erinnert sich Dorothea Karlowna, - war eine große Meisterin im Nähen und Stricken. Zuhause gab es eine Handnähmaschine,und Mama nähte für die ganze Familie, in der 1940 auch noch die kleine Anna das Licht der Welt erblickte. Eine von der Mutter gehäkelte Tischdecke schmückte den großen, runden Tisch, gemusterte Rüschen schauten unter den Decken hervor, die auf dem gediegenen, hölzernen Bett der Eltern und den Kinderbettchen lagen. Um den Tisch standen geflochtene Stühle. An der Wand hing ein kleiner, ovaler Spiegel. An den Fenstern – Tüllgardinen, auf dem Fußboden – drei Streifen handgewebter Läufer. Mama liebte schöne Dinge; sie besaß auch zwei wunderhübsche Tischservice. Es gelang sogar, zwei große flache Schüsseln nach Sibirien mitzunehmen. Sie erinnerten an die Wärme des heimischen Hauses, allerdings mußten sie sich später von ihnen trennen, weil sie sie gegen Lebensmittel umtauschten.

Aufgrund der äußerst geschickten Hände des Vaters, Karl Andrejewitsch Pin, wurde der Hof beispielhaft geführt. Es gab eine Kuh, einen Ochsen, vier Ziegen, zehn Hühner. Mutter und Vater arbeiteten in der Kolchose. Dorothea als älteste Tochter paßte auch zusammen mit ihrem Bruder auf die kleine Annet auf. Im Winter ging sie zur Schule.

- Unser Dorf war ziemlich groß, - erinnert Dorothea Karlowna sich, - es steht direkt am Ufer der Wolga. Das Schmuckstück des Dorfes war das zweigeschossige Schulgebäude. Ich konnte gut lernen; am liebsten mochte ich Arithmetik. In der ersten Klasse blieb ich bloß ein halbes Jahr, dann hat man mich sofort in die zweite Klasse versetzt. Der Unterricht fand auf Deutsch statt. Das fiel mir sehr schwer, denn in der Ukraine hatte ich nur Ukrainisch gesprochen; nun mußte ich mich anpassen; häufig verwechselte ich ukrainische, russische und deutsche Wörter. In der Klasse befanden sich Kinder verschiedener Nationalitäten: aus Rußland, der Republik Mari und Mordwinien; es gab auch viele jüdische Kinder. In der vierten Klasse führten sie einen Kurs für Krankenschwestern durch. Ich ging auch hin. Beim ersten Anblick von Blut verlor ich das Bewußtsein und nahm danach nicht wieder am Unterricht teil.

- Zum Spielen war überhaupt keine Zeit, - seufzt Dorothea Karlowna, - Schule, Hausaufgaben, Hausarbeit, mama helfen, Handarbeiten. Die Eltern sorgten sich stets um alles; nur selten gingen sie zum Essen in ein kleines Restaurant oder Café, ich weiß das jetzt schon nicht mehr so genau. Ich kann mich aber noch erinnern, - fährt sie fort, - daß eine steile Böschung zur Wolga hinabführte und – es waren Stufen eingelassen. Im Winter waren sie ganz mit Eis bedeckt; man konnte kaum darauf gehen. Jeden Tag lief ich zur Wolga, um Wasser zu holen. In der Familie war es üblich, den Tee ausschließlich mit Wasser aus der Wolga aufzubrühen, aber zum Kochen verwendete man das Wasser aus dem Brunnen. Mama legte den Boden der Teekanne mit irgendwelchen Kräutern und Wurzeln aus, die sie am Ufer gepflückt hatte und überrühte sie dann mit kochendem Wasser. Der Tee war äußerst schmackhaft! Tee aus dem Laden verwendeten sie nicht, der war viel zu teuer.

Das friedliche Leben im Lande wurde am 22. Juni 1941 jäh unterbrochen. Der Beginn des krieges wurde im Radio bekanntgegeben. Am Abend mußten sich die Dorfbewohner im Klub einfinden (in der ehemaligen Kirche), um sich eine wichtige Regierungsmitteilung anzuhören. Viele Menschen versammelten sich dort. Nach W. Molotows öffentlicher Rede brachen viele Frauen in Tränen aus, Kinder schluchzten. Fast alle weinten.

Dann begannen die Einberufungen zur Armee. Mäner und junge Burschen mußten fort. Die Eltern arbeiteten auch weiterhin in der Kolchose. Am 1. September 1941 kamen die Kinder in die Schule, aber es fand kein Unterricht statt; die Lehrer schickten alle wieder nach Hause – sie sollten ihre Sachen zusammenpacken und sich zur Abreise nach Sibirien vorbereiten; und die Lehrer versicherten ihnen, daß sie es dort gut haben würden. Am 3. September, morgens, verkündete der lokale Rundfunksender die geplante Verschickung nach Sibirien. Jede Familie bekam ein oder zwei Fuhrwerke zugeteilt; das richtete sich nach der Anzahl der Familienmitglieder. Jeder durfte 25-30 kg Gepäck mitnehmen. Davon, daß es in Sibirien sehr kalt war, sagte man ihnen nichts, aber der Herbst stand vor der Tür, und es war schon klar, daß man warme Sachen einpacken mußte. Mama nahm eine Matratze, zwei warme Decken, Bettlaken, Handtücher, ein Service, einen Kochtopf und eine Teekanne mit. Für die Kinder und sich selbst warme Kleidung, Unterwäsche zum Wechseln und Lebensmittel.

Einige Stunden später näherte sich ein Fuhrwerk dem Haus, man übergab dem Vater die Zügel. Der Wagen wurde beladen. Der Vater tat alles schweigend, Mama weinte. Auch Andrej und die kleine Annuschka weinten. Alles, was sie mit ihrer Hände arbeit erworben hatten, mußten sie zurücklassen: das neue Haus, die ganze Hofwirtschaft.

Wer spricht heute davon, was damals in ihnen vorging?

In jedem Haus, in jeder Familie hatte man in aller Eile seine Siebensachen zusammengepackt. Dann ertönte das Kommando zur Abfahrt. Das Weinen und Wehklagen der Frauen wurde lauter. Der Treck setzte sich in Bewegung.

- Die Ziegen folgten unserem Leiterwagen, sie wollten uns nicht von den Fersen weichen, - erinnert Dorothea Karlowna sich. – Die Kuh hatte Mama am Morgen aufs Feld geschickt, die Ziegen ließ sie zuhause. Wir jagten sie fort, aber sie kamen immer wieder hinterher. Es war schwer sie endlich ganz zu verscheuchen.

Der Wagenzug bewegte sich auf den Bahnhof der Stadt Engels zu, der etwas 25 km von Krasnyj Jar entfernt lag. Bei Ankunft an der Bahnstation wurden die Wagen entladen. Die Menschen übernachteten unter freiem Himmel. Der Vater deckte Dorothea und Andrej mit einer Decke zu, er selbst legte sich zu einem unruhigen Schlummer daneben. Seine Ehefrau und die kleine Tochter verbrachten die Nacht in irgendeinem Gebäude. Am Abend und am nächsten Morgen aßen sie von dem, was sie von zuhause mitgenommen hatten: Brot, Butter, Eier. Zum Mittagessen erhielten alle Suppe und Brei. Gegen Abend näherten sich Güterzüge mit jeweils 15-16 Waggons. in ihnen waren zweigeschossige Pritschen aufgestellt. Auf die oberen legten sie ihre Sachen, Dort schliefen die Männer. In der unteren Reihe legten sich die Frauen mit ihren Kindern sowie alte Leute zum Schlafen nieder. 16 Tage waren sie unterwegs. Oft und lange standen sie auf irgendwelchen Abstellgleisen, um Militärzüge passieren zu lassen. Einmal pro Tag erhielten sie warmes Essen: Tee, Suppe und Brei in Eimern, Brot aus Säcken.

An der Station Bogotol traf der Zug am 19. September ein. Nach ungefähr zwei Stunden stellte man ihnen Fuhrwerke zur Verfügung. 11 Familien kamen in das Dorf Dmitriewka: die beiden Familien Pin, die Familie von Vaters Schwester (Staigerwaldt), die Familie von Mutters Schwester (Felbusch), die Fellers, drei Familien Walter und andere.

Es stellte sich heraus, daß es gar keinen Platz gab, wo die Menschen sich niederlassen konnten. Die Sibirjaken erwiesen sich jedoch als herzliche und mitleidige Leute. In eiiner Zeit, in der ihre Ehemänner und Söhne als Soldaten an der Front kämpften, nahmen die Frauen bereitwillig die deutschen Umsiedler in ihre Familien auf. Eine besonders großherzige Seele war Olga Malzewa. Sie brachte die Familie Pin bei sich unter. Die Charina nahm eine andere Familie bei sich auf. Die Werlows ließen die Staigerwaldts bei sich wohnen.

Dorothea Genrichowna und Karl Andrejewitsch mit den Kindern, zwei Familien Walter und die Verwandte Tante Njura kamen in einem verlassenen Haus unter. Zwölf Personen brachten dort zusammen den ersten und schwierigsten Winter in Sibirien zu. Man brachte den Umsiedlern Brennholz, später beschafften sie es sich selber, nachdem die Kolchose ihnen ein Pferd zugeteilt hatte. Brennholz konnte man überall beschaffen, da gab es keine Einschränkungen. Am zweiten Tag erhielten die Verbannten jeweils einen Sack Mehl, fünf Sack Kartoffeln und ein wenig Fleisch. Nach zwei-drei Tagen rief der Kolchos-Vorsitzende, Petr Matweewitsch Bugajew alle Umsiedler zu sich in die Kolchose und verkündete, daß sie nun alle zur Arbeit gehen würden. Er teilte einige für Tätigkeiten im Vorratsspeicher ein, wo sie Getreide vorbereiten sollten, andere für Feldarbeiten oder die Brennholz-Versorgung von Schulen und Farmen.

Die Deutschen erledigten alle Aufgaben in hervooragender Weise. – Das Verhältnis zu den Dorfbewohnern war gut, - erinnert sich Dorothea Karlowna. Es gab nur noch wenige Männer im Dorf und arbeitende Hände waren dringend nötig. Alle hatten es schwer, die Russen ebenso wie die Deutschen. Sie arbeiteten von früh bis spät. Auch ich ging ab meinem 12. Lebensjahr arbeiten; jetzt besitze ich eine Bescheinigung „Veteranin des Großen Vaterländischen Krieges“. Weiterlernen konnte ich nicht, - bedauert Dorothea Karlwona, - und dabei wollte ich das doch so gern ....

Der jüngere Bruder Andrej ging in die erste Klasse.

- Ernsthafte Konflikte gab es zwischen den Kindern nicht. Ich weiß noch,wie Andrej einmal erzählte, daß die Lehrerin einen kleinen Jungen mit den Worten „verfluchter Faschist“ beschimpfte; bald darauf war sie verschwunden. In der Schule arbeitete sie jedenfalls nicht mehr. Die deutschen Kinder waren nicht gekränkt. Sie spielten alle zusammen im Schnee oder fuhrenmit dem Schlitten. Manchmal allerdings kam es vor, daß sie Beschimpfungen hörten oder mit schiefem Blick angeschaut wurden, aber es gab nur wenige solcher Fälle.

Karl Andrejewitsch Oin wurde in die Arbeitsarmee nach Swerdlowsk mobilisiert. Die Familie sah ihren Ernährer nie wieder. Die Mutter blieb mit drei Kindern zurück. Nachdem Dorothea Genrichowna vom Tode ihres Mannes erfahren hatte, war sie für lange Zeit sehr krank. 1998 gelang es Dorothea Karlowna unter großen Mühen zu ermitteln, daß ihr Vater K.A. Pin, Nationalität deutsch, Einwohner des Dorfes Dmitriewka, Bogotolsker Bezirk, Region Krasnojarsk, am 12. August 1943 in der Trudarmee im Gebiet Swerdlowsk verstarb. Eine Eintragung über seinen Tod wurde vom Standesamt der Botolsker Verwaltung am 16. März 1998 ins Buch für Familienstandsurkunden vorgenommen.

Am 8. November 1947 heiratete Dorothea Karlowna (die im Dorf und auch zuhause Tonja genannt wurde) Pawel Nikiforowitsch Sysojew, geb. am 08.08.1926. Aufgrund von Hörproblemen war Pawel Nikiforowitsch nicht an die Front geholt worden, sondern verbrachte die gesamte Kriegszeit in der Trudarmee in Burjatien. Er war bei verschiedenen Arbeiten eingesetzt: in der Holzfällerei, beim Abladen von Waggons, beim Abbrennen von Kalk. Dort herrscht ein rauhes Klima; er hatte es sehr schwer: die harte Arbeit, das kümmerliche Essen. Nach dem Krieg kam er auf Urlaub nach Hause – und blieb. Man wollte ihn dafür einsperren, aber ungefähr vier Monate nach seiner Verhaftung entließen sie ihn wieder.

Pawel Nikolajewitsch begann in der Kolchose zu arbeiten. Anfangs war er als Gehilfe von Sergej Tschebotarjew tätig, später führte er selbständig Arbeiten aus, beendete Lehrgänge für Traktoristen, ging auch noch sechs Monatein der Stadt Atschinsk in die Lehre und bekam schließlich auch gewisse Rechte zugesprochen. 40 Jahre arbeitete er als Traktorführer, ging in Rente, arbeitete aber trotzdem noch acht Jahre weiter. Pawel baute für seine junge Frau ein Haus, in dem sie heute noch wohnen.

Fünf Kinder zogen sie groß: Ljuba, geb. 1948, wohnhaft in Atschinsk (2 Kinder). Sie arbeitete 20 Jahre im Tonerde-Kombinat. Sohn Wladimir, geb. 1951, lebte in Atschinsk, er ist bereits verstorben. Sohn Nikolaj, geb. 1953 lebt in dem Dorf Dmitriewka; er hat einen Sohn namens Roman. Aleksandra, geb. 1955, hat drei Kinder. Der jüngste Sohn, Anatolij; arbeitete in einer Sowchose, er ist auch schon tot. Die Eltern konnten den Tod ihrer Söhne nur sehr schwer verwinden, aber sie haben Kraft genug, sich an ihren Enkeln und Urenkeln zu erfreuen.

Dorothea Karlowna und Pawel Nikiforowitsch sind bereits seit 60 Jahren zusammen. Sie hatten ein schweres, aber dennoch glückliches Leben.

- Ich weiß nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn man uns nicht nach Sibirien verschleppt hätte, - meint Dorothea Karlowna nachdenklich. – Vielleicht hätte ich dann vernünftig lernen, einen anständigen Beruf ergreifen können. Ich glaube, daß das Leben dort in materieller Hinsicht auch besser gewesen wäre. Aber was soll ich groß dazu sagen? Ich habe ja mein ganzes Leben hier verbracht, hier sind jetzt meine Wurzeln, meine Kinder, Enkel und Urenkel, und ich bedaure überhaupt nichts. In meiner Seele gibt es keinen Groll gegen irgendjemanden. Wie das Leben war, so war es eben. Wozu soll man etwas bedauern, was man gar nicht erlebt hat? Natürlich würden wir schon gern einmal einen Blick auf die Wolga werfen, auf unser Haus, das mein Vater erbaut hat, auf die Schule, all jene Orte erinnern, wo ich als Mädchen war¸aber dazu sind wir nun schon viel zu alt. Es wird mir wohl schon nicht mehr vergönnt sein, - sagt sie weinerlich mit leiser Stimme und wischt sich eine Träne fort ...

25.10.2007

Wera Aleksejewna Smoljaninowa, geb. 1964 (Mädchenname Eremina), Einwohnerin der Ortschaft Wagino, Bogotolsker Bezirk, Region Krasnojarsk.

- Meine Mama, Anna Karlowna Eremina (Mädchenname Pin) wurde im August 1940 in der Ortschaft Krasnij Jar, Bezirk Engels, Gebiet Saratow, geboren. Ihre Eltern: Vater Karl Andrejewitsch Pin, geb. 1906. Mutter: Dorothea Genrichowna Pin, geb. 1904. Meine Mutter war das jüngste Kind in der Familie. Die Eltern liebten und verwöhnten die Kleine sehr. Das beschauliche Leben endete Anfang September 1941, als die ganze Familie, das ganze Dorf aus den heimatlichen Gefilden ausgesiedelt und ins entfernte Sibiren verschleppt wurde. Mama war noch zu klein, um das Leben in Krasnojar zu begreifen, über die Deportation aller Wolgadeutschen, die durch den Krieg entstandenen Erschwernisse. Von all diesen Dingen berichtete sie uns mit den Worten ihrer Mutter, meiner Großmama Dorothea Genrichowna, meiner Tante Dorothea Karlowna und meines Onkels Andrej Karlowitsch.

Sie kann sich an die Zeit zurückbesinnen, als sie als Erstklässlerin in die Dmitrijewsker Grundschule ging. Dort beendete sie vier Klassen. Weiter konnte sie nicht zur Schule gehen. Der Vater kehrte nicht mehr aus der Arbeitsarmee zurück, er starb 1943 in der Region Swerdlowsk. Sie mußte der kranken Mutter helfen, und so begann sie in der Kolchose zu arbeiten. Zusammen mit Erwachsenen arbeitete sie auf der Tenne, hütete Kälber, war in der Kantine tätig oder drosch auf dem Speicher Getreide.

Sie kannte ihre eigene Muttersprache nicht, sprach von Beginn an Russisch. An meine Großmama Dorothea Genrichowna kann ich mich noch erinnern. Sie liebte ihre Enkelkinder und hatte stets für uns irgendwelche Süßigkeiten gehortet – Pfefferkuchen, Bonbons. Mama weiß noch, wie schwer das Leben für alle nach dem Krieg war. Sie lebten in Armut, im Haus fanden sich nur die allernötigsten Dinge; Großmama nähte selber die Kleidung für die Kinder, strickte Strümpfe, Fausthandschuhe und machte Häkelarbeiten. Schlecht war es ums Schuhwerk bestellt, besonders im Winter. Es gab nur ein einziges Paar Filzstiefel für alle: einer zieht sie aus, der nächste an. In den 1960er Jahren, als die Kolchosen sich zu Sowchosen zusammenschlossen, wurde es etwas leichter. Da wurden die Kolchosbauern zu Arbeitern in der Sowchose und bekam sogar einen Lohn in Form von Geld ausgezahlt.

Aber das Leben nahm sich das Seine. Die Jugend veranstaltete ständig „Abendtreffs“, die sie auf „gemeinsame Kosten“ bestritten; abends belebte sich das Haus, und unverheiratete Mädchen und Burschen trafen sich. Man sang zu den Klängen einer Harmonika, tanzte, aber häufiger arbeiteten die Mädchen und jungen Frauen – sie machten Flechtarbeiten, zupften Flachs, häkelten Spitzen. An einem solcher Abende erblickte Mama einen unbekannten Jüngling. Er hieß Aleksej. Von den Freundinnen wußte sie, daß Andrej aus dem Dorf Koslowka, Bezirk Atschinsk, hierher gekommen war, um seinem Onkel Iwan Suschtschenko zu besuchen. Aleksej hatte ebenfalls eine Auge auf die hübsche, wohlgestaltete Anna geworfen. Ihre großen, traurigen Augen und die dichten, dunklen Haare, die zu zwei strammen Zöpfen geflochten waren, hatten ihn verzaubert. Das Mädel war bescheiden und fleißig,und so hatten Aleksejs Verwandte ihm vorgeschlagen, sie zur Braut zu nehmen. Ihre deutsche Herkunft störte niemanden. In den Nachkriegsjahren, als die Menschen alle gemeinsam die Schwierigkeiten des Lebens ertragen mußten, hatten sie sich angefreundet, ihre Herzen hatten sich nicht verhärtet. So gut sie konnten halfen die Sibirjaken den Fremden, die mit den Jahren zu ihresgleichen wurden.

Der Vater brachte Mama nach Koslowka, aber dort lebten die beiden jungen Leute nicht lange. Mama machte sich Sorgen wegen der kranken Großmutter, die allein zurückgeblieben war. Die ältere Schwester Dorothea und Bruder Andrej hatten bereits ihre eigenen Familien.

Bei der Rückkehr nach Dmitriewka schafften sie sich ein eigenes Haus an. Der Bruder half beim Bau. Sie führten ihren Haushalt, und schon ein Jahr später wurde Tochter Nadja, Nadeschda, geboren, danach Wera. Die Vornamen der Töchter hatten für die Mutter wahrscheinlich eine bestimmte Bedeutung, einen Sinn. Der Glaube (russ.: wera; Anm. d. Übers.) und die Hoffnung (russ.: nadeschda; Anm. d. Übers.) auf Glück haben immer in ihre Seele gelebt. Zur großen Freude des Vaters wurden später auch noch die Söhne Wladimir und Andrej geboren.

Ihr Leben lang haben Anna Karlowna und Aleksej Aleksandrowitsch in der Sowchose gearbeitet. Sie wurden von den Dorfbewohnern geachtet und von ihren Kindern geliebt. Die Vorgesetzten zeichneten sie an Feier- und Jubiläumstagen mit Ehrenurkunden und wertvollen Geschenken aus.

Mama führte in beispielhafter Weise ihren Haushalt: überall herrschten Sauberkeit und Ordnung. Stickereien, Servietten, schöne Vorhänge – alles hatte sie mit ihrer eigenen Hände Arbeit angefertigt, all das machte im Haus die Gemütlichkeit aus. Sie selber war sauber und reinlich, kontrollierte und umhegte aber auch sorgsam ihre Kinder.

Die Haare von Mamas Töchtern waren zu dicken, aschblonden Zöpfen geflochten; die Kleider schmückte immer ein gehäkelter oder genähter Kragen.

In Wera Aleksejewnas Haus befindet sich eine Unmenge an Servietten und Stickarbeiten und – die gleiche Ordnung und Gemütlichkeit wie bei der Mutter.

Nachdem sie in Rente gegangen war, zog Anna Karlowna auch noch ihre Enkel groß. Der traurige Ausdruck in ihren Augen ist nie verschwunden; fröhlich war sie nur in der Umgebung ihrer Verwandten. Warum hat sich in ihren Augen immer Trauer widergespiegelt? Niemand wußte es, und jtzt, da sie tot ist, wird es auch niemand mehr erfahren.

Anna Karlownas Bruder lebt noch mit seiner Familie in dem Dorf Dmitriewka. Sein ganzes Leben lang hat er in der Sowchose gearbeitet. Er hat Kinder großgezogen, und nun hütet er seine Enkel.

31. Oktober 2007
Tatjana Eranzewa
Ewgenij Kiel (Kiehl)
Aleksander Grigorew.

Geschrieben mit den Worten von Tamara Borisowna Semenowa (Spirina), Einwohnerin der Ortschaft Wagino, Bogotolsker Bezirk, Region Krasnojarsk.

Meine Mama, Ekaterina Friedrichowna Spirina (geb. Damer) wurde am 1. Juli 1930 in der Ortschaft Krasnyj Jar, Bezirk Engels, Gebiet Saratow, geboren. Mein Großvater war Friedrich Andrejewitsch Damer, geb. 1906, Einwohner von Krasnyj Jar,meine Großmama - Ekaterina Friedrichowna Damer (geb. Aul), geb. 1905, ebenfalls Bewohnerin von Krasnyj Jar im Gebiet Saratow.

In der Familie waren vier Kinder. Der älteste war Friedrich, geb. 1927, danach kam Tochter Ekaterina, meine Mama. 1933 wurde noch Sohn Andrej geboren und 1939 ein weiterer Sohn namens Karl.

Großmama erinnerte sich oft an ihr Leben an der Wolga zurück. Sie hatten ein großes, gediegenes Doppelhaus. Die helle, geräumige „gute Stube“ war sozusagen das „Paradezimmer“. Die Betten waren akkurat gemacht, unter der Tagesdecke schauten schneeweiße Spitzen hervor, die Großmutter Ekaterina mit ihrer eigenen Hände Arbeit hergestellt hatte. Auf dem Fußboden lagen selbstgewebte Läufer, an den Fenstern hingen weiße Tüllgardinen. Sie waren ganz ordentlich zugezogen und man hatte es den Kindern strengstens untersagt, sie aufzuziehen oder überhaupt mit den Händen zu berühren. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Nähmaschine der Marke „Singer“. Großmutter war eine hervorragende Schneiderin. Sie nähte für die Kinder auch Anzüge und, für die einzige Tochter schmucke Kleider.

Tagsüber war es den Kindern nicht erlaubt auf den Betten zu sitzen oder zu liegen, damit die Tagesdecke nicht zerknüllt wurde. In der Küche herrschte immer eine vorbildliche Ordnung, die Teller glänzten nur so vor Sauberkeit. Während des Sommers bereitete die Familie das Essen lieber in der Sommerküche zu. Die Küche war nicht groß, der Fußboden bestand aus sauber gefegter Tonerde. Um das Haus war ein kleiner Garten angelegt; darin standen

Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume. Im Gemüsegarten wurden Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Mohrrüben und Wassermelonen gezogen. Das Klima ist mild, die Bedingungen für Obst- und Gemüsebau sind denkbar gut. Großmutter verglich die Bearbeitung der Kartoffelpflanzen in Sibirien und an der Wolga. Sie meinte, daß sie die Kartoffeln in der Heimat nicht so hoch aufgehäufelt hätten, wie es die Sibirjaken machen.

In der Kolchose, in der die Eltern meiner Mutter arbeiteten, gab es einen großen Garte. Im Herbst wurden dort in großen Mengen Pflaumen, Äpfel und Birnen geerntet. Die Ernten fielen derart reichhaltig aus, daß die Kolchosarbeiter sogar Obst aus dem Kolchosgarten mit nach Hause nehmen und dort für sich selbst verarbeitenden durften.

Onkel Friedrich und Mama gingen in die Schule. De Unterricht fand in Deutsch statt. Zuhause sprachen sie nur in der Muttersprache.

Ihr friedliches, ruhiges Leben wurde durch den Krieg zerstört. Das schlimmste Unheil für alle Wolgadeutschen war der Befehl über die Verbannung nach Sibirien. Hastig packten sie die nötigsten Habseligkeiten zusammen. Sie nahmen auch die Nähmaschine und den Milchentrahmer mit. Mit Fuhrwerken fuhren sie bis nach Engels. Der Großvater hatte irgendetwas wichtiges zuhause vergessen, und sie ließen ihn noch einmal dorthin zurückkehren. Die Großmutter erinnert sich, daß sein Gesicht, als er zurückkam, völlig verstört aussah und er nur immer und immer wieder vor sich hin sprach: „Katja, was da im Dorf vor sich geht! Was da vor sich geht!“ – Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, berichtete er, daß der Anblick des verlassenen Dorfes so schrecklich gewesen war; Türen, Gartenpforten – alle sperrangelweit geöffnet, die Ziegen, Schafe, Hühner liefen hin und her und die Kühe muhten.

Alle Deutschen, die in Engels zusammengetrieben worden waren, wurden anschließend auf den Zug N° 725 zur Abfahrt in die Region Krasnojarsk verladen. Sie waren lange unterwegs. Verwandte wurden nicht voneinander getrennt. Die ganze Familie Damer fuhr in ein- und demselben Zug.

Nachdem sie an der Bahnstation Bogotol abgesetzt worden waren, brachte man sie mit mehreren Leiterwagen in das Dorf Pawlowka. Zusammen mit meinem Großvater wurde auch sein Bruder Andreas Damer mit seiner Familie, der Familie Ekkardt, verschleppt.

Eine so große Anzahl Verbannter in Sibirien hatten sie nicht erwartet. Es gab keine Behausungen. Man gab ihnen ein kleines Häuschen; sie hungerten und froren, besonders im ersten Winter.

Für ein Stück Brot, ein paar Kartoffeln gingen sie arbeiten. Auf dem Kolchosacker sammelten sie gefrorene Kartoffeln. Die Großmutter zerrieb sie mit sehr viel Mehl und buk für die Kindchen Fladen.

Eine richtige Wirtschaft hatten sie zwar nicht, aber es gab im Haus den Milchentrahmer. Die Dorffrauen kamen zu uns und ließen die Kuhmilch hindurchlaufen. Die Rechnung wurde folgendermaßen gemacht: von einem Eimer Milch entfiel 1 Liter auf den Besitzer des Milchentrahmers. So bekamen die Kinder manchmal in den Genuß von Milch.

Großmama war bestürzt von der Armut, in der die Sibirjaken lebten. Oft besaßen die Menschen nicht einmal das Allernötigste. Die Häuser waren klein, die Zäune krumm und schief und oft gab es überhaupt keine. Die Ortsansässigen waren sehr verwundert, daß Großmutter ihre frisch egwaschene Wäsche immer mit Klammern an einem Bindfaden aufhing.

Ein schweres Leben begann für die Familie, als sie meinen Großvater, Friedrich Andrejewitsch Damer, zur Trudarmee in die Region Swerdlowsk holten. Seine Frau und seine Kinder sollten ihn nie wiedersehen. Wie und wann er gestorben ist, wo er begraben liegt – das wissen wir bis heute nicht. Lange Zeit wußte Großmama nichts vom Tode ihres Ehemannes und schickte ihm, nachdem sie mit viel Mühe ein Paket zusammengepackt hatte, warme Sachen, ein Stück Speck und Machorka. Später kam dann ein Brief von einer unbekannten Frau, vermutlich eine Arbeiterin oder Bewohnerin der Arbeitssiedlung, in dem diese schrieb, daß Friedrich Andrejewitsch Damer verstorben sei, und daß sie keine Pakete mehr schicken brauchte.

Die Großmutter blieb allein mit ihren kleinen Kindchen zurück. Von den vier Kindern meiner Großeltern lebt heute nur noch der jüngste Sohn Karl. Er wohnt in Deutschland, in der Stadt Bremen. Er ist zu uns zu Besuch gekommen. Mit seiner Familie unterhalten wir einen lebhaften Briefwechsel.

Von Tamara Borisowna Spirina haben wir erfahren, daß bis 1956 alle Familienmitglieder von deportierten Deutschen, Kalmücken, Litauern sich regelmäßig beim Dorfsowjet melden und registrieren lassen mußten. „Sie haben die Kommandantenstunde abgeschafft“, - sagten die Verbannten 1956.

Alle Kinder, die vor 1956 geboren waren, sind im Besitz von Bescheinigungen über ihre Rehabilitation.

Allen Rehabilitierten wurden folgende Vergünstigungen bewilligt: kostenlose Fahrt mit der Eisenbahn – einmal pro Jahr, kostenloses Einrichtung eines Telefonanschlusses, ein geringfügiger Zuschuß zur Rente, 50% Nachlaß auf die Kosten für Strom, Gas, Wasser, ein günstigerer Sonderfahrschein für Autofahrten.

09.11.2007
Tatjana Eranzewa
Natalia Fadejewa

Die Deportation der Wolgadeutschen in die Dörfer des Bogotolsker Bezirks.

Geschrieben mit den Worten von Anna Andrejewna Semenijina (Dammer), geb. 1936 in der Ortschaft Krasnyj Jar, Gebiet Saratow, ASSR der Wolgadeutschen.

Vor Anwendung der Repressionsmaßnahmen lebte die Familie Damer in der Ortschaft Krasnyj Jar, Gebiet Saratow, ASSR der Wolgadeutschen: Vater (Andrej Tarasowitsch Dammer, geb. 1881), Mutter (Anna Friedrichowna Dammer, geb. 1895) und zwei Töchter.

Die Eltern hatten ursprünglich 11 Kinder, aber nur zwei überlebten: Ekaterina (geb. 1921) und Anna (geb. 1936). Die Familie wohnte in einem großen, gediegenen Haus, lebte im Wohlstand und führte ihre eigene Landwirtschaft. Sie besaß Kühe, Ziegen und Hühner. Die Mutter führte den Haushalt, in dem es stets sauber und gemütlich aussah. Die Töchter wuchsen in Liebe und Fürsorge auf. Der Vater arbeitete auf einer Viehzuchtfarm. In dem Dorf, das ausschließlich von Deutschen bewohnt war, standen große, freundliche Häuser; vor jedem Grundstück gab es ein hohes Brettertor, Blümchen schmückten Pallisaden und Straße. Auf den akkurat geführten Höfen, auf den Dorfstraßen gab es nicht ein einziges Büschel Unkraut. Das Vieh wurde am Zügel auf die Weide gebracht. Im Dorf gab es einen Rundfunkempfänger und elektrisches Licht. Das Haus der Familie Dammer steht auch heute noch an seinem Platz in der Ortschaft Krasnyj Jar, aber es von schon seit langem andere Leute darin. (Der Ehemann von Ekaterinas Schwester fuhr einmal dorthin, um die heimatlichen Gefilde seiner Ehefrau zu sehen). Anna, ganze 5 Jahre alt, spielte mit ihren Freundinnen sorglos im Hof; sie liebte ihre Eltern und ihre ältere Schwester sehr. Ekaterina arbeitete als Buchhalterin in der Kolchose, sie war bereits verheiratet, ihr Mann lebte in der Familie der Ehefrau. Das ruhige, friedliche Leben fand durch den Ausbruch des Krieges ein jähes Ende. Ekaterinas Mann mußte an die Front. Nun war es still im Haus, und es gab viele Sorgen. Die Todesnachricht über ihren Mann erhielt Ekaterina nach Kriegsende, als sie sich bereits in Sibirien befand. Einmal tauchten in den Dorfstraßen Plakate auf, auf denen in großen roten Buchstaben geschrieben stand: „Alle Dorfbewohner sollen in ihren Häusern bleiben, nirgends hingehen, die Fensterläden schließen, da militärische Truppenteile durch das Dorf marschieren werden“.

Am Abend vernahm man furchtbaren Lärm, das Vorbeidonnern von militärisch-technischem Gerät auf dem Asphalt, das Getrappel von Stiefeln einer großen Anzahl Menschen. Lange marschierten sie, erinnert sich Anna Friedrichowna später. Soldaten umstellten das Dorf. Spät am Abend kam der Vater von der Arbeit heim. In aller Eile mußte er alle geschäftlichen Angelegenheiten abgeben, seinen Rechenschaftsbericht über die von ihm geführte Kolchoswirtschaft fertigmachen. Er teilte seiner Familie mit, daß sie nun fortfahren würden. Wohin? Die kleine Anna begriff überhaupt nichts. Mama begann Sachen zusammenzupacken. Nur das Allernötigste nahmen sie mit, die meisten Güter, die sie sich uim Laufe der Zeit einmal angeschafft hatten, mußten sie zurücklassen. Das VIeh brachten sie in die Kolchose. Zum Packen hatte man ihnen einen Tag Zeit gegeben. Die Erwachsenen waren schweigsam und schauten finster drein, die Mutter hielt nur mit Mühe ihre Tränen zurück, keiner konnte in der Nacht auch nur ein Auge zumachen. Am Morgen wurden Fuhrwerke zu den Häusern der Dorfbewohner geschickt. Andrej Andreasowitsch lud die wenigen Habseligkeiten auf, hieß Frau und Kinder auf dem Leiterwagen Platz nehmen. De Treck aus hunderten von Pferdegespannen bewegte sich i Richtung auf die Eisenbahnstation, wo bereits ein Güterzug bereitstand. Nachdem alle in den Waggons untergebracht waren, setzte sich der Zug nach Osten in Bewegung, nach Sibirien. Die Eltern versuchten zusammenzubleiben und einander zu helfen. Während der Fahrt bekamen sie dreimal täglich etwas zu essen. An den Bahnhöfen verließ der Vater den Zug, um Essen zu holen; dann brachte er einen Topf Kohlsuppe, Brei und Brot mit. Ihr Bestimmungsort – die Bahnstation Bogotol in der Region Krasnojarsk. Nachdem sie dort abgeladen worden waren, brachte man die Leute erneut auf Fuhrwerken unter, die bereits neben dem Zug für die Ankömmlinge bereit standen. Der Treck bewegte sich in Richtung auf die Dörfer Medjakowo, Pawlowka, Wagino, Ilinka und Korbejnikowo. Der Familie Andrej Andreasowitsch Dammers, den Familien von zwei seiner Cousins sowie den Fellers wurde das Dorf Ilinka, Bezirk Bogotl, Region Krasnojarsk, zugewiesen. Die Verbannten wurden von Soldaten begleitet. In Ilinka wurden die Umsiedler von Brigadier Jakow Pachomow begrüßt. Annas Familie quartierte er im Hause der Anna Kirillowna Bulajtschik ein, deren Ehemann (Artem Bulajtschik) sich an der Front befand. Das Haus war sehr geräumig,in den Zimmern gab es Bettstellen, eine Kiste für Kleidung und Wäsche, einen Tisch, eine Waschschüssel. Sie lebten einträchtig miteinander und halfen sich gegenseitig. Der Brigadier erlaubte ihnen, auf dem Kolchos acker Kartoffeln für den Winter zu sammeln, wobei er ihnen erklärte, daß Kartoffeln in Sibirien das zweite Brot seien. Nach einger Zeit erhielten die Umsiedler Vieh, als Gegenleistung für das, was man ihnen zuhause konfisziert hatte; das Leben wurde nun etwas leichter. Aber die Mutter erkrankte, und Ekaterina wurde in den Norden zur Trudarmee geschickt. 1944 starb Annas Vater. Nach zahlreichen Bemühungen der Mutter und unter Mitwirkung des Dorfratsmitglieds Nikolaj Nikolajewitsch Schischkow, durfte Ekaterina nach Hause zurückkommen.

Mutter und die kleine Anna waren geschäftig im Haushalt tätig, während die Schwester in der Kolchose arbeitete. Sie pflügten die Felder, spannten Ochsen ein, die Frauen brachten mit der Hand das Saatgut aus, und mit der Hand ernteten sie das Getreide dann auch. Sie arbeiteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Fast das gesamte Getreide wurde für die Soldaten an der Front verschickt. Vor dem sicheren Hungertod retteten sie der Gemüsegarten, ihre Kartoffeln und die Kuh.

Nach dem Krieg, mit 11 Jahren, ging Anna zur Schule. Sie lernte gut, war eine begeisterte Schülerin. Ihre erste und liebste Lehrerin war Maria Grigorewna Basowa.

Katja heiratete und zog in die Region Swerdlowsk um. Mama und Anna lebten zu zweit. Nach Beendigung der siebten Klasse begann Anna im Krankenhaus der Ortschaft Wagino zu arbeiten. Dort war sie als Wäscherin tätig, später als Wirtschaftsleiterin. 1956 heiratete sie Iwan Kusmytsch Semenichin. Kinder wurden geboren. Es war eine einfache, glückliche Familie, bis 1972 die Kinder und Annas Mutter bei einem Feuer ums Leben kamen. Anna konnte den schrecklichen Kummer kaum verwinden; ihr ganzer Halt waren ihr Ehemann und die übrigen Verwandten. 1973 wurde Tochter Olenka geboren - das Symbol der ganzen Liebe, der Hoffnung und des Glücks der Eltern.

Die Familie zog in das Dorf Wagino um. Olja wuchs heran, ging zur Schule, die Eltern arbeiteten in der Kolchose. Ihre ganze Liebe schenkten sie der Tochter. Heute hat sie ihre eigene Familie. Sie lebt in der Stadt Bogotol, besucht häufig ihre Mutter, die nach dem Tode des Vaters allein lebt und große Sehnsucht nach ihrer Tochter hat.

Anna Andrejewnas Schwester Ekaterina siedelte nach dem Tod ihres Mannes 1992 für immer nach Deutschland über – zu ihrer Adoptivtochter Lidia Schwarz. Sie lebte in Braunschweig. Im Frühjahr 2006 starb Ekaterina Andrejewna Bauer, sie liegt in Deutschland begraben. Im Namen der Mutter hat Tochter Lidia häufig Briefe an Anna Andrejewna in Rußland geschrieben, Fotos geschickt – und manchmal auch ein kleines Päckchen.

1991 wurde das Gesetz der RSFSR „Über die Rehabilitierung dr Opfer politischer Repressionen“ verabschiedet. Fast ein ganzes Jahr lang versuchte Anna Andrejewna die Rehabilitation für all ihre Familienmitglieder zu erwirken. Sorgfältige verwahrt sie nun diese Dokumente bei sich zuhause. Mitunter holt sie sie hervor, setzt ihre Brille auf, liest sie mehrmals nacheinander durch, erinnert sich an die Eltern, ihre kurze, glückliche, ungestörte, friedliche Kindheit an der Wolga, das Leben in der Zwangsansiedlung. Sie blättert die Fotoalben durch. Da – die einzige Aufnahme vom Vater, und hier – die Mama. Anna Andrejewna streicht mit der Hand über das Gesicht der Mutter, ihre Stimme zittert ein wenig, aber wieviel Wärme und Liebe zum liebsten Menschen der Welt liegt darin! Und da- ihr Mann Iwan Kusmitsch, die Kinder. Ihre Augen verschleiern sich von all den Tränen, aber sogleich leuchten sie auch schon wieder, und sie ruft lebhaft aus: „Und dies hier ist Olenka, - sagt Anna Andrejewna, - ich warte schon auf sie; bald kommt sie zu Besuch. Das Leben geht weiter ...“.

In unseren Dörfern leben die Nachfahren der deportierten Wolgadeutschen weiter – die Familien Ekardt, Groo, Gross, Felde, Bopp, Felsinger, Pin, Dammer, Scheffer und Kil (Kiel / Kihl / Kiehl).


 

Die Leitung meiner Forschungsarbeit übernahm während der zwei Jahre Ljubow Aleksejewna Pesterewa, Lehrerin der höherqualifizierten Kategorie, Verdiente Pädagogin der Region Krasnojarsk wegen hervorragender Volksaufklärung. Diese Frau begeistert sich für ihr Lehrfach. Sie hat es verstanden, uns, ihren Schülern, die Liebe zur heimatlichen Geschichte zu vermitteln. 2006 machte Ljubow Alekejewa uns mit dem Vorschlag der regionalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge „Memorial“ bekannt, an einem geschichtlichen Forschungswettbewerb teilzunehmen. Nachdem eine Gruppe von Schülern den Vorschlag angenommen hatte, befaßte unsere Klasse sich mit der Geschichte der Region Krasnojarsk in den Jahren der politischen Repressionen und erforschte das Schicksal deportierter Wolgadeutscher, Litauer und Kalmücken. Die Arbeit wurde beim regionalen Forum „Jugend und Wissenschaft“ vorgestellt, ging als Preisträger aus dem Wettbewerb hervor, und ich wurde nach Krasnojarsk eingeladen, um dort, anläßlich der 21. regionalen wissenschaftlich-praktischen Konferenz „Erste Schritte in der Wissenschaft“, mein Referat zu halten.

Die Arbeit wurde auf dem Festival von Forschungs- und künstlerischen Arbeiten im „Portfolio“ in Moskau vorgestellt.

Im neuen Schuljahr beschloß ich, mit Unterstützung von Ljubow Aleksejewna das Thema der politischen Repressionen in unserem Lande zu vertiefen und das Schicksal der in die Dörfer des Bogotolsker Bezirks deportierten Wolgadeutschen zu ergründen. Das Forschungsprojekt realisierte ich mittels Studium der Alltäglichkeiten im Leben der Deutschen: Alltag, Milieu, Verhalten, kultureller Hintergrund, Sprache. Ljubow Aleksejewna half mir bei der Auswahl dere erforderlichen Literatur und der historischen Dokumente. Ich bekam für meine Arbeit eine Unmenge Informationen, lernte, wie man das zusammengetragene Material strukturiert. Erhebliche Schwierigkeiten gab es beim Studium von Dokumenten, Briefen und Fotografien. Sie brachte mir bei, wie man Dokumente analysiert, Schlußfolgerungen zieht. Große Erfahrung in sozialer Zusammenarbeit sammelte ich bei der Arbeit im Archiv, Museum und dem Amt für Statistik der Stadt Bogotol. Unvergeßliche Eindrücke konnte ich beim Umgang mit Menschen gewinnen, die ich schon viele Jahre gekannt hatte, die in meiner nächsten Umgebung lebten, meine unmittelbaren Nachbarn oder Klassenkameraden waren. Ljubow Aleksejewa lehrte mich meine Gesprächspartner auszuwählen und sich auf Interviews vorzubereiten. Schwierig war es, die ganzen Aufzeichnungen der Augenzeugenberichte noch einmal gründlich zu durchdenken, sie mit anderen Notizen zu vergleichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden und nach Schlußfolgerungen zu suchen. Sie lehrte mich auch, die Schicksale der Menschen nachzuvollziehen und erklärte mir, wie ich ihnen im Zukunft mit mehr Aufmerksamkeit begegnen könnte. Ich stellte mir selber Fragen: was würde mir der Mann dort wohl erzählen? Was hat er wohl für ein Schicksal hinter sich? Ich begriff: ihre Schicksale – das ist Geschichte.

Zusammen mit der Pädagogin suchte ich viele wolgadeutsche Familien auf. Ljubow Aleksejewna versteht es, für sich die Sympathien der anderen zu erwecken, und deswegen waren sie gern bereit, mit uns in Kontakt zu treten. Während ich mich mit begleitender Literatur zu meinem Forschungsthema beschäftigte, fühlte ich, daß ich keine einheitliche, vollständige Vorstellung vom Leben der Deutschen in Rußland besaß. Besonders schlecht konnte ich mir das Leben der deutschen Kolonisten an der Wolga ausmalen.

Auf Empfehlung von Ljubow Aleksejewna und mit Unterstützung meiner Eltern konnten wir eine Reise in die Ortschaft Krasnyj Jar verwirklichen. Ich konnte das selbst nicht glauben, und andere glaubten es auch nicht, aber im Dezember 2007 fand die Reise tatsächlich statt!

Dank Ljubow Aleksejewna habe ich gelernt, andere Menschen zu verstehen und zu ehren, ihre Freude und ihren Schmerz nachzuempfinden. Und dafür bin ich meiner Lehrerin sehr dankbar.

Ich bin in der 11. Klasse und möchte von der Schule und meinen Lehrern noch nicht Abschied nehmen. Ich glaube fest daran, daß ich ein Studium an der historischen Fakultät aufnehmen werde. Aber eines weiß ich schon: egal wo ich mein Studium absolviere – die Liebe zur Geschichte werde ich weiter in mir tragen, kann selbst eine Gruppe begeisterter Schüler um mich versammeln und Organisatorin eines Geschichts- oder Heimatkunde-Projektes werden.

Ich lernte von Ljubow Aleksejewna Disziplin, Beharrlichkeit, Fleiß; ich lernte auch, wie man etwas Angefangenes zuende bringt und eine beliebige Arbeit sorgfältig erledigt. Das sind genau die Qualitäten, deretwegen ihre Schüler sie lieben und Eltern und Kollegen sie schätzen.

Sie versteht es, mit ihren Ideen bei Schülern, Kollegen, Eltern, Dorfbewohnern, Lehrenden und Lernenden an anderen Schulen Begeisterung hervorzurufen. Dutzende Familien haben bereits damit begonnen, Familienarchive einzurichten.. Sie schreiben Anfragen in die Ukraine, nach Deutschland, Kanada, Kasachstan. Mit den erhaltenen Dokumenten gehen sie zu Ljubow Aleksejewna, fragen um Rat, ersuchen um Hilfe für die weiteren Schritte. Und sie befaßt sich eingehend mit den Papieren jeder einzelnen Familie, hilft bei der Suche nach Unterlagen und ihrer rechtskräftigen Ausfertigung.

Ljobow Aleksejewna hat es verdient, die Bezeichnung einer Lehrerin der gehobenen Kategorie zu tragen.


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