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Um sich zu erinnern …

Ausgeführt von: Darja Fadejewa, Klasse 9 „A“
Natalia Pawlowna Lartschenko, Geschichtslehrerin

2013

Um sich zu erinnern …

Ich weiß nicht, ob es für irgendjemanden interessant ist, aber ich möchte gern über das schwere, mit vielen Mühen verbundene Schicksal meiner Großmutter, Anna Ferdinandowna Miller, berichten. Geboren wurde sie am 19.März 1930 in der Ortschaft Schukk, Cholensker Bezirk, Gebiet Saratow. Großmutters Vorfahren kommen bereits unter Katharina II nach Russland. Eine kleine historische Auskunft (vom 4. Dezember 1762, als Katharina II das Manifest unterzeichnet: „Über die Genehmigung für Ausländer sich in Russland niederzulassen und die freier Rückkehr russischer Menschen, die ins Ausland geflüchtet sind“. Die Fortsetzung dieses Dokuments war das Manifest vom 22. Juli 1763 „Über die Genehmigung für alle Ausländer, nach Russland einzureisen, sich in verschiedenen Gouvernements ihrer Wahl niederzulassen sowie über ihre Rechte und Vergünstigungen“). Die in Russland eingetroffenen Umsiedler waren für unterschiedliche Zeiträume von „jeglichen Steuern und Erschwernissen“ befreit. Insbesondere waren für die Dauer von 30 Jahren Ausländer von Steuern befreit, die sich in Kolonien auf Landstrichen niederließen, welche im Land-Register als freie Siedlungsflächen gekennzeichnet waren. Das Manifest von 1763 versprach ein zinsloses Darlehen für 10 Jahre für den Bau von Häusern, den Kauf von Lebensmitteln bis zur ersten eigenen Ernte, die Anschaffung von Vieh, landwirtschaftlichem Inventar und Werkzeug für Handwerksleute. Außerdem wurde eine vollständige Selbstverwaltung in den Kolonien gestattet, ohne Einmischung in die Organisation des inneren Siedlungslebens seitens der Staatsbeamten. Insgesamt wurden zwischen 1763 und 1766 mehr als 30000 Personen nach Russland gebracht. Aufrufer konnten nach und nach 14960 Personen zum Aufbruch nach Russland überreden, was etwa die Hälfte aller in Russland eingetroffenen Kolonisten ausmachte, bzw. 56% der Siedler im Bezirk Saratow.

Per Dekret vom 26. Februar 1768 wurden den Kolonien offiziell russische Bezeichnungen zugeordnet (mit wenigen Ausnahmen), die in amtlichen Dokumenten Verwendung fanden, bis hin zur Schaffung einer deutschen Autonomie an der Wolga.

Nach 1917 erhielten sie die territoriale Autonomie der ASSR der Wolga-Deutschen. 1941 wurden sie nach Sibirien verschleppt. Niemanden trifft irgendeine Schuld, dass auch viele andere in dieser unruhigen Zeit geboren wurden. 1941 brach der Krieg aus, und wer hat Schuld, dass er begann. Viele wurden der Willkür des Schicksals ausgeliefert, niemand brauchte sie , und schon gar nicht mit dem Aufdruck „Volksfeind“. Zur Ansiedlung wurden die Bezirke der Gebiete Nowosibirsk und Omsk, das Altai-Gebiet, Kasachstan und andere Regionen zugeteilt. Für die Durchführung der Operation zur Ausweisung der Deutschen aus dem Gebiet Saratow und der ASSR der Wolga-Deutschen wurden 1450 Mitarbeiter des NKW, 3000 Mitarbeiter der Miliz sowie 9650 Rotarmisten geschickt. [3] Der Beginn der Abfahrt der Züge mit den deutschen Sonder-Umsiedlern war vorgeschrieben für den 3. September 1941.

Meine Großmama war zu der Zeit gerade 11 Jahre alt; ihre Familie war arm, sie hatte fünf Brüder und drei Schwestern, und sie war das älteste Kind. Es wurde die Anordnung erteilt, sich binnen 24 Stunden mit einigen wenigen Habseligkeiten zur Umsiedlung bereitzuhalten; sie durften nur so viel mitnehmen, wie sie mit den eigenen Händen tragen konnten. Anschließend wurden sie auf einen Zug verladen und nach Sibirien abtransportiert. Unterwegs wurden die Menschen an verschiedenen Stellen angesiedelt: manche blieben in Kasachstan, andere fuhren weiter nach Sibirien. Die Familie Miller geriet ebenfalls nach Sibirien. An der Bahnstation ließ man sie auf Leiterwagen umsteigen und brachte sie weiter ihrem Ziel entgegen. So geriet die Familie nach Jemeljanowo. Sie waren eine große Familie, die Kinder waren noch klein, und dann hatten sie auch noch die Großmutter dabei, welche kein Wort Deutsch verstand. Meine Großmama konnte nur unter Tränen darüber sprechen. Die Brüder waren jünger als sie; sie weinten während der gesamten Fahrt und wollten immerzu essen. Die Menschen wurden unterwegs nicht verpflegt; Essen gab es nur auf den Bahnhöfen, dort tauschten sie ihre Sachen gegen etwas Essbares ein, und vielleicht begingen sie deswegen auch Diebstahl – daran erinnert sich die Großmama nicht mehr. Nur die Kräftigen überlebten, die Schwachen gingen zugrunde. Gott sei Dank überlebten all ihre Brüder und Schwestern. Nach ihrer Ankunft kamen sie zunächst bei Leuten unter, die in der Lage waren, sie ein paar Tage bei sich aufzunehmen. Sie schliefen auf dem Fußboden in schrecklicher Enge. Danach fingen sie an Erdhütten zu bauen, und dann lebten sie darin. Sie litten furchtbaren Hunger, aßen gefrorene Kartoffeln und das Fleisch von gestürzten Pferden. Sie überlebten so gut es gerade ging. Der Vater arbeitete in der Trudarmee.


Anna Ferdinandowna Millers Familie, fünf Brüder und drei Schwestern

Geschichtliche Auskunft: 1942 wurden aufgrund des Befehl N° 1233 (streng geheim) des Staatlichen Komitees für Verteidigung der UdSSR deutsche Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 55 Jahren einschließlich, über die Bezirkskriegskommissariate in Arbeitskolonnen mobilisiert, die sogenannte Trud- oder Arbeitsarmee. Zusammen mit den Sonder-Umsiedlern holten sie auch ortsansässige Deutsche in die Arbeitskolonnen. Die Mobilisierten sollten Winterkleidung, Bettzeug sowie Lebensmittel für zehn Tage mitnehmen.


Anna mit ihrem Ehemann und den Kindern

Den Vater sahen sie praktisch nicht, Großmamas Mutter hielt den Schicksalsforderungen nicht stand und ging aus dem Leben. Alle Sorge um die große Familie lag nun auf den Schultern des 11-jährigen Mädchens, d.h. meiner Großmutter. Sie ging zum Arbeiten in die Kolchose, hütete Pferde und Kühe, arbeitete auf der Farm. Als sie bereits für sich lebten, bauten sie ein kleines Häuschen; die Familie besaß eine einzige Kuh, und Großmama erinnert sich noch, wie der Vater sie verkaufte; am nächsten Tag kam die Geld-Reform, und das ganze Geld war verloren. Danach arbeitete sie in der Sowchose. Der Krieg ging zu Ende, aber in die Heimat konnten sie nicht zurückkehren. Und so blieb die Familie Miller in Sibirien. Großmama heiratete einen Deutschen, den ebenfalls Verbannten F.J. Schott. Acht Kinder wurden geboren. Die Großmutter besuchte nur drei Jahre lang eine Schule; sie saß nie zuhause, sondern arbeitete viel. In Jemeljanowo gab es ein Kinderheim, die Kinder wurden vorübergehend auf verschiedene Familien verteilt, so viele waren es. Auch Großmama nahm noch zwei von ihnen auf, da waren sie zu Hause zwölf Personen. In Großmamas Familie herrschten sehr strenge Regeln. Alle lernten schon von klein auf stricken, nähen und kochen. Jeder von ihnen hatte ganz bestimmten Pflichten. Großmama selbst ging mit gutem Beispiel voran, sie saß nie an einer Stelle herum, immer war sie mit irgendeiner Arbeit beschäftigt. Für ihr gesamtes Arbeitsleben wurde sie mit Medaillen und Dankesschreiben geehrt. Großmutter bekam das dreifache Kreuz für ihre Mutterschaft verliehen.

Alle Schwestern und Brüder meiner Großmama reisten nach Deutschland aus, aber sie blieb ihr Leben lang in Sibirien. Hier ist sie geboren, hier sind all ihre Kinder aufgewachsen, unter ihnen auch meine Mama Vera Fjodorowna Fadejewa. Sibirien wurde uns zur Heimat, und von hier gehen wir nirgend woanders hin. Ich bin stolz auf meine Großmama und werde mein Leben lang an sie denken!


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