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Das bittere Los der Ostarbeiter (am Beispiel der Anna Iwanowna Satschuk)

Angefertigt von Jekaterina Gawriljuk, Schülerin der Klasse 10 A an der Surikow-Mittelschule.
Leiterin: Lidija Pawlowna Beljajewa
Stadt Krasnojarsk – 2005

Anna Iwanowna Satschuk wurde am 8. März 1925 auf dem Gebiet der West-Ukraine, in dem Dorf Jagodno, Gebiet Wolhynien, an der Grenze zu Polen, in eine Bauernfamilie hineingeboren. Insgesamt gab es 9 Kinder. Anja war die zweite Tochter. Bereits in den ersten Kriegstagen wurde das Dorf von deutschen Truppen besetzt.

Und niemand von den jungen Leuten konnte ahnen, daß sie bald darauf gezwungen sein würden, ihre heimatlichen Gefilde zu verlassen. Es war nämlich so, daß die Situation an der Arbeitsfront sich in Deutschland nicht so erfolgreich gestaltete, wie an den Kriegsschauplätzen: das Arbeitsgleichgewicht des Landes war charakterisiert durch ein klaffendes Loch von 800 Tausend (Rubel?Reichsmark?) in der Kriegsökonomie. Daran werden sich die Zivilpersonen erinnern, die nach Deutschland angeworben und gewaltsam dorthin vertrieben wurden.

Im großen und ganzen hatten die Göringschen Behörden einen Vierjahresplan zur Nutzung russischer Arbeitskräfte ausgearbeitet. Die „qualifizierten Arbeiter, Deutsche natürlich, sollten sich mit der Waffenproduktion befassen; die Schaufel in die Hand nehmen oder Steine klopfen – das ist nicht ihre Aufgabe – dafür gibt’s doch die Russen ... Die deutschen Arbeiter waren praktisch die Chefs über die Russen“.

Anfangs erbaten sie noch das Einverständnis für die Ausnutzung russischer Arbeitskräfte; man beabsichtigte, Menschen unter Bewilligung von Verpflegung und Zahlung eines Taschengeldes abzukommandieren, gleichzeitig aber auch den daheim zurückgebliebenen Familienmitgliedern entsprechende Unterstützung zu gewähren. Aber all das existierte nur in den Plänen – in Wirklichkeit sah alles ganz anders aus.

Am 24. Februar 1942 erging die erste Verfügung im Hinblick auf die Ostarbeiter: es sollten 380.000 Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und 247.000 für die Industrie bereitgestellt werden.

Im Januar 1942 fuhr der erste Transport mit 1.100 Arbeitern aus der Zivilbevölkerung in Richtung Deutschland ab. Der zweite wurde kurz nach dem 20. Januar aus Charkow auf den Weg gebracht – mit 1.147 Mann. Und die Menschenströme wurden immer größer. Ab Anfang März wurden wöchentlich immer neue Menschenmassen losgeschickt. Bis zum 27. Februar 1942 waren es bereits 39.292 Personen (zwischen 16 und 55 Jahren). Unter ihnen befand sich auch die 17-jährige Anja Satschuk, obwohl eigentlich nicht sie, sondern ihre älteste Schwester Mascha – sie war 19 – hätte mitfahren sollen; aber das Mädel erkrankte an Typhus, und da der Dorfälteste aus den Reihen der Ortsbewohner sich mit den deutschen Behörden darüber hatte einigen können, daß aus jedem Hof nur eine Person zwangsverschickt wurde, hatte der Vater entschieden, daß Anja fortgehen sollte.

Im großen und ganzen verlief die Verschickung auf tragische Weise. Viele wurden erst wenige Stunde vor der Abreise davon benachrichtigt, manch einer wurde, für ihn völlig unerwartet, während einer der organisierten Hetzjagden eingefangen – sogar im Kino oder beim Einkauf auf dem Markt. Etwa ein Drittel der auf Etappe geschickten Menschen durften oder konnten nicht mehr rechtzeitig Essen und Kleidung zusammenpacken und mitnehmen. Die Menschen durchliefen eine formelle medizinische Untersuchung, der sich im Grunde genommen niemand entziehen konnte. In den Dörfern gab es nicht weniger Tränen, als in den Städten. In den Güterwaggons saßen oder standen sie dichtgedrängt, nur kümmerlich mit Nahrung versorgt – mit Brühe aus Steckrüben; und mitunter mußten sie sogar mehrere Tage hintereinander hungern. Sie fuhren der Ungewißheit entgegen.

Und so übergab das besetzte Territorium der Sowjetunion am 1. August 1942 an Deutschland mehr als eine Million Arbeitskräfte zur Verwendung in Fabriken und Schachtanlagen. Wohin brachten sie die unglücklichen Menschen? In gigantische Übergangs- oder Verteilungslager, und in vielen von ihnen wütete der Typhus: die Menschen wurden kahlgeschoren, man desinfizierte ihre Kleidung mit kochendem Dampf und bearbeitete die Haut mit einer speziellen Lösung, man nahm ihre Fingerabdrücke.

Die Sklaven wurden nach ihren nationalen Merkmalen verteilt. Von nun an wird ihre Situation davon abhängen, wohin sie geraten.

Im Lager herrschte schrecklicher Hunger, aber das Mädchen begriff, daß die Deutschen ganz unterschiedlich sein können. Mitunter kamen katholische Mönche an den Stacheldraht heran, gaben irgendwelche Handzeichen und steckten mal diesem, mal jenem etwas Eßbares zu. Diejenigen, die in den Industriebetrieben tätig waren, lebten in bewachten Arbeitslagern, hinter Stacheldrahtzäunen, und auf den Arbeitskarten stand: „Dem Inhaber dieser Karte wird gestattet, ausschließlich für den Gang zur Arbeit den Lagerbereich zu verlassen“.

Sie sollten ihre Herren nicht unnötig viel Geld kosten. Im Januar 1942 wurde auf alle Arbeiter aus dem Osten eine Steuer eingeführt, nach deren Abzug ihnen noch 50 Reichsmark im Monat blieben, aber von dieser Summe mußten sie ihr Essen und ihren ganzen Lebensunterhalt bestreiten. Für persönliche Ausgaben hatten sie etwa 3-5 Reichsmark zur Verfügung, und das war um das Vierzehnfache weniger, als die Deutschen für die gleiche Arbeit erhielten.

Anna mußte in einer Fabrik in der Stadt Essen arbeiten. Dort stanzten, sortierten und verpackten sie verschiedene Erzeugnisse aus Gummi. Es war verboten, das Gelände zu verlassen. Auf der Kleidung trugen sie den Buchstaben „R“. Nebenan waren Häftlinge verschiedener Nationalitäten und Freundinnen – ebensolche Mädels, die vom Lande kamen“. Das, was sie laut Plan zu essen bekommen sollten, konnte man kaum als Essen bezeichnen – irgendein warmer Mischmasch, eher eine Wassersuppe. Und das bekamen sie Tag für Tag. Im ersten Winter starb eine riesige Anzahl Ostarbeiter an Hunger und Kälte. Auf Anordnung des Ministeriums für Versorgungsangelegenheiten wurde daher beschlossen, die Norm für Brot und Zuckerrüben heraufzusetzen.

Das Deutsche Reich arbeitete ein neues Programm zur Nutzung von Arbeitskräften aus. In dem Wunsch, die Belastung für deutsche Frauen zu mindern, auf denen gegen Ende des Jahres 1942 die drohende Gefahr schwebte, in die Arbeitsarmee einberufen zu werden, wurde entschieden, Arbeitskräfte aus dem Osten, im Alter zwischen 15 und 35 Jahren, nach Deutschland zu bringen, sofern sie, ähnlich den deutschen Frauen, kräftig gebaut waren. Etwa 400.000 Personen sollten für Essen, Kohle und etwas Kleidung zum Arbeiten kommen – ohne Urlaub. Ihre gesamte Freizeit sollte pro Woche 3 Stunden betragen.

Einmal kam ein älterer Deutscher in die Fabrik, um ein paar Arbeitskräfte für sich selbst auszusuchen. Er hatte eine große Wirtschaft mit Kühen, Schweinen, Geflügel, einem großen haus. Überall sollte vorbildliche Ordnung herrschen; nur die Millch gaben sie zur Weiterverarbeitung weg. Unter denen, die er auswählte, befand sich auch die Mädchen aus dem Dorf Jagodno. Anja konnte alles: sie verstand es sowohl auf dem Feld zu arbeiten, als auch das Vieh zu hüten und zu versorgen, aber sie wurde im Haushalt gebraucht, wo sie das Geschirr sauberhalten und die Betten in Ordnung bringen sollte. Die Hausherrin war streng, aber gerecht. Die Mädchen haben sie in guter Erinnerung behalten, vielleicht auch deswegen, weil sie Weihnachten, wie es den Mädels schien, überaus reichlich den Tisch deckte und bereits im voraus für alle kleine Geschenke vorbereitet hatte.

Je näher das Kriegsende heranrückte, um so mehr wollten alle nach Hause: der ganze Kummer, das Leid, die schwere Arbeit und die ständige Sehnsucht nach den Verwandten und der Heimat ...

Man durfte zwei Briefe nach Hause schreiben, denn sonst hatte man keine Garantie, daß sie auch ankamen. Und genau so kam es auch: zuhause wußten sie überhaupt nicht, was aus der Tochter geworden war. Sie hielten sie schon fast für tot, aber ein kleines Fünkchen Hoffnung hatten sie noch bewahrt. Aber die Nerven waren auch bei den Deutschen zum Zerreißen gespannt. Je näher der Sieg rückte, um so bösartiger verhielt sich der Hausherr. bei ihm arbeiteten Russen, Polen und Franzosen, aber es hatte den Anschein, als ob er die Russen am meisten von allen haßte. Er konnte derart wild werden, daß er wohl irgendwann einmal bei solch einem Anfall zu Tode kommen würden. Aber die einfachen Deutschen begannen die Ostarbeiter mehr und mehr zu bemitleiden. Einmal sagte der alte deutsche Knecht zu den Mädchen: „Was erwartet ihr? Seht ihr denn nicht, was mit ihm vor sich geht? Lauft wohin ihr wollt: ins Lager oder wieder in die Fabrik, aber kehrt bloß nicht hierher zurück“. Die Fahrkarten kaufte er selbst, und so fuhren die Mädchen ins Lager und von dort zu den Schachtanlagen: dort förderten die Männer Kohle, und die Frauen sortierten und verpackten sie. Und dann ging es wieder in die Fabrik nach Essen.

Es keimte die Hoffnung über eine mögliche Rückkehr in die Heimat auf. Immer öfter fanden Bombenangriffe statt. Eines Tages hatte Anjas Freundin Tanja die Nase voll: „Ich habe genug“, aber die herabfallenden Bomben trafen so genau, daß weder von der Zeche, noch von den dort befindlichen Menschen etwas übrigblieb – nichts als Bombentrichter. Nachdem Anja nach Hause zurückgekehrt war, übergab sie das Kleide der Freundin deren Eltern; es war doch das einzige, was ihnen zur Erinnerung an die Tochter geblieben war. Es war besonders schmerzlich, da alle fühlten, daß der Krieg nun bald zu Ende sein würde.

Gleichzeitig wuchs auch die Besorgnis, daß SS-Leute die Ostarbeiter sowie die Kriegsgefangenen erschießen könnten. Diese Befürchtungen waren auch nicht grundlos. Am 26. März 1945, nur sechs Tage vor dem Eintreffen der Amerikaner im Lager Hirzenhain, wurden 81 Frauen und 6 Männer erschossen.

Der Führer bemühte sich, einen seiner letzten Pläne zu realisieren: die Vernichtung aller Militär-, Industrie- und Transport-Objekte Deutschlands, um zu vermeiden, daß sie dem Feind in die Hände fielen.

Der gesamten deutschen Bevölkerung, einschließlich der Ostarbeiter und Kriegsgefangenen, wurde der Befehl erteilt, sich zufuß in Bewegung zu setzen. Dabei hatte man weder für die Verpflegung unterwegs, noch für den Transport überhaupt Vorsorge getroffen; die Menschen liefen in ihr Verderben.

Wieviele Menschen wurden in den Kriegsjahren nach Deutschland deportiert?

Im Anklage-Gutachten der Nürnberger Prozesse gegen die größten deutschen Kriegsverbrecher zeigte sich, daß die deutschen Besatzer 4.978.735 Personen aus der Zivil-bevölkerung gewaltsam verschleppten. Ungefähr 75% fanden sich in den westlichen Gebieten Deutschlands wieder, die von England und Amerika besetzt waren. Die Ostarbeiter träumten davon, wer ihnen wohl die Freilassung bringen würde. Es gingen Gerüchte um, nach denen die sowjetischen Truppen die Ihren scharf verurteilten und ihnen gegenüber eine äußerst negative und unbarmherzige Haltung einnahmen: „Wir haben gekämpft, und ihr habt hier bei den Fritzen gearbeitet!“ – Aber das Schicksal disponierte ganz anders. Die Stadt Essen wurde von den Amerikanern befreit, und die zeigten Mitleid gegenüber den Menschen, gingen behutsam mit ihnen um und gaben ihnen zu essen.

Die Frage der Rückkehr in die UdSSR brachte sowohl Freude als auch eine quälende Entscheidung mit sich. Lediglich 15% der „Westler“ beharrten darauf, in die Heimat zurückzukehren, 15% wollten nicht zurückgehen, und 70% waren ganz und gar unentschlossen. Die sowjetischen Behörden fingen an, im wahrsten Sinne des Wortes um sie zu kämpfen. Überall tauchten Plakate mit der Aufschrift auf: „RUSSEN, HABT KEINE ANGST, KEHRT NACH HAUSE ZURÜCK!!! DIE HEIMAT ERWARTET EUCH!“

Trotz dieser nachdrücklichen Aufforderungen gingen hunderttausende ehemaliger Sowjet-Bürger nicht in die Heimat zurück. Sie bildeten die „zweite Emigrationswelle“.Ihre Zahl betrug 451.651 Personen. Unter ihnen befanden sich viele von Anna Iwanownas Freundinnen. Einige gingen mit den amerikanischen Soldaten nach Amerika, andere leben heute noch in Österreich, Belgien, Frankreich, England, Norwegen, Dänemark, Holland, der Schweiz und sogar in Marokko, der Türkei, Palästina und Argentinien.

Mit der „Begrüßung“ der heimkehrenden sowjetischen Bürger wurden Mitarbeiter des NKWD und der SMERSch beauftragt. Der gesamte erste Schub geriet in die Fänge des GULAG. Die Menschen wurden „sortiert“: gewöhnliche Soldaten und Sergeanten kamen nach der Überprüfung zu den Reservetruppen des Volkskommissariats der Verteidigung; kriegsgefangene Offiziere und Kriegsgefangene, die in deutschen Sonderformationen gedient hatten, sowie Wlassow-Anhänger und Polizeiangehörige (hier: russische oder ukrainische Polizeieinheiten, die den deutschen Okkupanten halfen, Ruhe und Ordnung zu halten; Anm. d. Übers.)) in Sonderlager des NKWD; männliche Ostarbeiter wurden nach entsprechender Untersuchung, zur Armee eingezogen, alle übrigen wurden an den Ort ihres zukünftigen Dauerwohnsitzes geschickt, wobei es ihnen verboten war, in Großstädte wie Moskau, Leningrad oder Kiew zurückzukehren.

Bis zum 10. Dezember 1945 nahm die Heimat 2.033.164 Rückkehrer auf. Anja hatte nicht lange überlegt, sondern sofort beschlossen, nach Hause zurückzukehren, obwohl eine ihrer Freundinnen mit Bekannten nach Frankreich gefahren war und eine andere nach Amerika.

Der Weg nach Hause ähnelte dem der Abfahrt von Zuhause sehr: 3-4 Wochen in Viehwaggons, in denen jeweils etwa 40 Mann untergebracht waren. Man hatte ihnen verboten, mit der freien Zivilbevölkerung Gespräche anzufangen. Sie hatten Hunger: 500 gr Brot, 10 gr Zucker, 0,15 gr Fett, etwas Fisch und Wasser. Insgesamt kehrten nach entsprechender Überprüfung 57,8% wieder nach Haue zurück. Die Regierung der UdSSR verabschiedete zwischen 1944 und 1948 insgesamt 67 Gesetzesverordnungen über die Rechte von Repatrianten, 14 davon über Vergünstigungen und materielle Sicherheiten. Unternehmen und Ministerien übernahmen die Verpflichtung, ihnen Arbeit zu verschaffen. Aber für viele blieb in ihrer Biographie für den Rest des Lebens ein nicht wegwischbarer Schandfleck zurück: die Zwangsarbeit in Deutschland während des Krieges.

Als Anja vier Jahre später die Schwelle ihres heimatlichen Hauses überschritt, stand ihre Mutter gerade am Herd, in dem sie Brot backen wollte. Sie drehte sich um, und da – versagten die Beine ihr den Dienst, denn sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben, die Tochter irgendwann einmal wiederzusehen.

Am 8. März 2005 vollendet Anna Iwanowna ihr 80. Lebensjahr. Man kann diese Frau als glücklich bezeichnen: sie ist umgeben von fürsorglichen Verwandten, wenngleich sie in Sibirien lebt, weint entfernt von der heimatlichen Ukraine. Sie mag gern die TV-Sendung „Wart’ auf mich“ sehen, denn ihr Herz kann den Schmerz von Trennung und Verlust sehr gut nachempfinden. Und vielleicht hofft sie auch, daß ein paar Fünkchen der Erinnerung an jene vier Jahre ihrer schweren Jugend aufblitzen.


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