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Der Große Vaterländische Krieg in der Biografie einer Familie

Kommunale allgemeinbildende Oberschule Nowosydninsk, Krasnoturansker Bezirk, Region Krasnojarsk

Inhalt

Autorin der Arbeit – Tatjana Gess (Hess?), Schülerin der 10. Klasse
Lehrerin – Tatjana Alexandrowna Merikina

KRIEGSKINDER

Ich möchte von dem nicht leichten Leben meines Großvaters Alexander Gottliebowitsch Kindtman(n) erzählen.

Geboren wurde er im Mai 1940 im Dminensker Bezirk, Gebiet Saratow, Sowchose № 98. Seine Kinder- und Jugendjahre waren die schwierigsten in seinem Leben.

Als der Krieg ausbrach, lebte der Großvater mit seinen Eltern an der Wolga. Bereits 1940 ging sein Vater, der damals 18 Jahre alt war, zur Armee. Und als der Krieg dann begann, schickte man ihn in die «Arbeitsarmee».

Während des Krieges wurden die deutschen Familien Repressalien ausgesetzt. Auch die Familie des Großvaters hatte darunter zu leiden. Sie wurde nach Sibirien deportiert.

Die totale Deportation der Wolgadeutschen aus der ASSR der Wolgadeutschen geschah aufgrund des Dekrets vom 28.August 1941 vorwiegend in der ersten Hälfte des Jahres 1941. Die Mehrheit der verbannten Wolgadeutschen wies man in Kolchosen ein. Doch bereits im Herbst 1941 wurden mancherorts und im Winter 1942 überall sämtliche Männer, mit Ausnahme der Invaliden, in die «Arbeitsarmee» gejagt – hauptsächlich zum Holzeinschlag, in die Lagerzonen des KrasLag, WjatLag, UssolLag sowie die Schachtanlagen des Kusnezker Beckens. Im Sommer holte man dann die meisten Frauen, außer denen, die viele Kinder hatten, und Minderjährige zum «gewerblichen Fischfang» in den hohen Norden: nach Igarka, in den Turuchansker Bezirk, nach Ewenkien sowie an die Angara. Nun waren die allerschwierigsten Zeiten hereingebrochen. Bei der Verteilung geriet die Familie des Großvaters nach Kara-Bellyk. Das Leben in diesem Dorf war schrecklich, aber nach den Worten des Großvaters immer noch besser als später in Kortus.

In Kara-Bellyk wurden viele Kartoffeln angepflanzt, und insofern gab es zuminest ein wenig zu essen; sie retteten die Menschen vor dem Hungertod, doch trotzdem quälte der Hunger sie sehr. Die Kartoffeln wurden in die Erde gesteckt, aber da es kein Brennholz, überhaupt nichts zum Heizen gab, gefroren die Kartoffeln sofort beim ersten Kälteeinbruch. Kinder und Erwachsene nagten an den gefrorenen, rohen Kartoffeln, die einen süßlichen Geschmack aufwiesen. Nachdem sie eine Zeit lang in Kara-Bellyk gelebt hatten, beschloss Moder (Oma) – die Mutter des Großvaters, nach Kortus umzuziehen, denn dort hatte sie Verwandte. Das Leben wurde noch schlechter. Man gab ihnen ein Plätzchen in einem Haus, in dem es nur ein einziges Zimmer gab und in welchem noch sechs weitere Familien hausten. Später zogen sie noch viele Male um. Einmal zogen sie in ein Haus, über dem es kein Dach gab. Und im Sommer, als es regnete, wurde das ganze Haus überflutet.

Großvaters Mutter arbeitete als Melkerin. In der Kolchose bekamen die Leute für die geleisteten Tagesarbeitseinheiten Brot. Wie Großvater erzählte, zerteilte sie es und gab ihm ein großes Stück, während sie den Rest für sich behielt. Es ist nur gut, dass Moder nur ein einziges Kind zu versorgen hatte. Wie hätten sie denn das Brot aufteilen sollen, wenn in der Familie sechs oder sieben Kinder gewesen wären? Im Winter sehnten sich all die armen Menschen nach dem Frühling, wenn die Kräuter anfingen zu wachsen. Großvater sagt, dass sie nur wegen der Kräuter überlebten. Sie aßen Sauerampfer, gruben essbare Pflanzenwurzeln aus, aßen Bärenklau und zahlreiche andere Kräuter. Im Sommer konnte man mit Hilfe der Kräuter überleben, aber wie war das im Winter, bei Frost, wenn es in der Hütte eiskalt war, es nichts zu essen gab und man nichts zum Anziehen hatte? Großvater wundert sich bis heute, wie sie das alles ertragen haben und es ihnen gelungen ist am Leben zu bleiben.

Für die deutschen Familien war es schwieriger als für die russischen, weil es beinahe in jeder russischen Familie eine Kuh und irgendwelche anderen Tiere gab. Ich möchte ein Beispiel dafür geben, dass man den russischen Familien gegenüber trotzdem Verständnis aufbrachte, wenn auch nicht immer und gegenüber allen.

In der Familie meiner Großmutter gab es sieben Kinder, und einmal kamen Leute zu ihnen und wollten ihnen die Kühe wegnehmen (sie besaßen zwei); da stellte Großmutters Vater die Kinder neben die Kühe und sagte:

- Wenn ihr die Kühe mitnehmt, dann nehmt auch gleich alle Kinder mit. Die Soldaten schauten auf die Kinder und gingen fort, ohne etwas mitgenommen zu haben. Aber die deutschen Familien besaßen weder Kühe noch anderes Vieh. Melkerinnen erhielten für die von ihnen geleisteten Tagesarbeitseinheiten Getreide. Nachdem Moder die Erlaubnis bekommen hatte, fuhr sie nach Krasnoturansk, um es zu verkaufen und mit dem Geld alle Steuern abzubezahlen.

Am Morgen, als Moder zur Arbeit geht, soll der Großvater zu Hause Ordnung machen: die Fußböden aufwischen, etwas kochen. Wenn sie nach Hause kommt und ihr irgendetwas nicht gefällt, bezieht er ordentlich Prügel.

Für die ganze Familie gab es nur ein einziges Paar Filzstiefel. Wenn Moder sich hinlet, um ein wenig auszuruhen, dann zieht Großvater heimlich die mütterlichen Filzstiefel an und geht hinaus zum Spielen. Als sie zur Arbeit gehen will, entdeckt sie, dass die Stiefel ganz feucht sind, und wieder schlägt sie ihn und geht von dannen. Aber der Großvater möchte so gern nach draußen; alle Kinder spielen dort, nur er hat nichts zum Anziehen und keine Schuhe. Er rennt den kleinen Erdwall hinauf, barfuß; er läuft durch den Schnee, dann rennt er wieder nach Hause zurück und wärmt sich die steif gefrorenen Füße am Ofen.

Nach dem Krieg, 1954, ging Moder in Mutterschaftsurlaub und, nachdem Großvater ihre Frauenhosen, Filzstiefel und Wattejacke angezogen hatte, ging er im Alter von 14 Jahren arbeiten. Er arbeitete, wo immer er etwas fand.

Großvater kam erst mit neun Jahren zur Schule, weil er bis dahin nichts zum Anziehen hatte. Von irgendjemandem bekam er eine immer wieder gestopfte Hose und Windeln, aus denen man ihm ein Hemd schneiderte; da konnte er endlich zur Schule gehen. Er absolvierte nur zwei Klassen. Als er in die 3. Klasse kam, sagte man ihm: «Du bist zu alt. Geh nach Hause».

Aufgrund der Armut blieb der Großvater sein Leben lang Analphabet.

Oft ließ Moder ihre Erbitterung, ihren Schmerz – alles, was sich in diesen Jahren in ihrer Seele angesammelt hatte, an Großvater aus. Sie schlug ihn sehr häufig. Und einmal hielt Großvater es nicht länger aus und rannte fort nach Kara-Bellyk zu seinem Vater. Moder sucht ihn und fand ihn dort. Auch wenn sie ihn verprügelte, so schlug doch das Herz der Mutter für ihr eigenes Fleisch und Blut. Großvater stellte ihr eine Bedingung: wenn sie ihn noch einmal anfassen würde, würde er nie mehr zu ihr zurückkehren. Und seitdem rührte sie ihn nicht mehr an.

So freudlos sah also die Kindheit meines Großvaters aus. Großvater sagt, dass es in seiner gesamten Kindheit nichts gegeben habe, woran man sich mit Freude, mit einem Lächeln im Gesicht erinnern könnte.

Nachdem Oma verstorben war, mit der er lange und glücklich viele Jahre gelebt hatte, reiste er zu seinem Sohn nach Deutschland aus.


Großvater mit seinen Eltern – Mutter und Vater und nahestehenden Verwandten


Der Krieg hat die Kinder des Krieges geprägt. Traurigkeit in den Augen, Schmerz und Kränkung – fürs ganze Leben


Sein Brot muss man sich verdienen. Auf der Tabak-Plantage in der Kolchose.


Wie gern möchte man glücklich sein!

(Fotos aus dem Familien-Archiv).


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