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Ach, du bitteres russisches Schicksal! Ein schlimmeres läßt sich kaum finden.

Autor: Anastasia Wiktorowna Golzer (Holzer), 10. Klasse

Städtische Bildungseinrichtung für die Weiterbildung von Kindern, Haus der Pioniere und Schüler, Siedlung Schira

Leitung:

Siedlung Schira, 2006

Die Frau! Wieviele Verse, Lieder, Romanzen hat man ihr gewidmet. Mit ihrer Schönheit versetzt sie einen in Entzücken, löst Verwunderung aus wegen ihrer Tugendhaftigkeit und überrascht durch ihre Mutterliebe und eheliche Treue. Im 20. Jahrhundert fiel auf die Frauen in unserem Land ein schweres Los und großes Unheil. Viel Schlimems mußten sie durchmachen und schwerste Arbeiten leisten. Aber sie ertrugen und überstanden es. Sie gründeten Familien und zogen Kinder groß. Die Beziehung zur Frau ist eine der wichtigsten Kriterien bei der Bewertung der Zivilisation, denn diejenige, die uns das Leben schenkt, ist – die Frau ...

Die hier vorliegende Arbeit handelt vom Lebensweg meiner Urgroßmutter. Ich werde versuchen, alle damaligen Gegebenheiten in glaubwürdiger Weise zu schildern, die Umstände, unter denen sie lebte, liebte, ihre Arbeit verrichtete und all die unheilvollen Ereignisse ertrug.

Aleksandra, so war ihr Name, wurde 1898 in dem Dorf Suschigoritsy, Sandowsker Bezirk, Gouvernement Moskau, geboren. Die Eltern gehörten zum Stand der Mittelbauern. Sie arbeiteten hart und redlich im Dorf. Sie besaßen eine große Wirtschaft – Pferde, Kühe, Schweine, Schafe, Ziegen, Federvieh. Die Familie bestand aus sieben Kindern, Oma und Opa sowie den Eltern. Sie lebten einträchtig miteinander. Zum Schimpfen und Streiten hatten sie keine Zeit. Es gab viel zu tun. Im Herbst und Frühjahr konnte man immer das gleiche Bild sehen: das Pferdchen zieht den Hakenpflug, und der Pflüge rgeht hinterher und achtet darauf, daß die Furchen auch gerade werden. Zwei-, dreimal wurde der Boden umgepflügt, denn er lockerte die Erde nicht gleich beim ersten Mal gut genug auf. Nach dem Pflügen wurde der Boden geeggt. Nach dem Eggen im Herbst begann die Zeit der Winterbestellung. Danach wurden die Feldarbeiten bis zum Frühjahr eingestellt. Sobald im Frühling der Schnee geschmolzen und der Boden allmählich getrocknet und weich geworden war, pflügten sie das mit Sommerweizen bestellte Feld weit auf. Ein Fuhrwerk schaffte Stallmist heran, um den erschöpften, ausgelaugten Boden nachzudüngen. Erneut fuhr der Pflug auf dem gedüngten Feld herum und vermischte die mit Mist angereicherte Erde mit der kraftlos gewordenen. Nun begann auch die Zeit der Sommersaat. Man säte nur erlesenes Korn. Und aus den Getreidepflanzen säten sie neuen Roggen, Weizen, Hafer, Gerste und Buchweizen an.

Weizen galt als besonders launische und anspruchsvolle Getreideart. Er war empfindlich gegenüber dem geringsten Wetterumschwung und erforderte stets eine sehr sorgfältige Bodenbearbeitung. Es wird glücken – es wird eine gute Ernte werden und auch ein guter Verdienst. Und wenn nicht – dann war alles umsonst, dann wird alles zum Teufel gehen.

Im Gegensatz dazu war Roggen, das Hauptnahrungsmittel, ganz anspruchslos – eine absolut zuverlässige Saatkultur. Die Ernten waren fast immer gut, und das bedeutete, daß es ausreichend runde Laibe schwarzen Brotes auf dem Tisch gab.

Angenehm war auch der Umgang mit Buchweizen. Du pflanzt ihn irgendwo in die magere Erde ein, und dort düngt er sich praktisch selbst. Buchweizen vernichtet nämlich auch das Unkraut und macht den Boden saftig und weich. Deswegen mochte die Familie gern Buchweizen im Wechsel mit anderen Kulturen anbauen, weil sie wußte, daß nach dem Buchweizen alles andere Getreide auch gut gedieh.

Der Sommer war die aufregendste und anstrengendste Zeit für die Arbeit auf dem Lande. Die Vorbereitung des Brachlandes, die Heumahd, das Einbringen der Getreideernte. Die ganze Familie half bei der Ernte. Die einen als Vorarbeiter, die anderen als Hilfskräfte. Einer mähte mit der Sichel, der andere band die Heugarben zusammen. Die Getreideernte zählte zu den schwersten Arbeiten auf dem Felde. Sie arbeiteten den ganzen Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, ohne auch nur ein einziges Mal die Hände in den Schoß zu legen oder den Rücken aufzurichten, bis sie Gliederreißen im Kreuz und zitternde Knie hatten. Die zusammengebundenen Garben wurden zum Dreschplatz transportiert. Dort ließ man sie trcoknen; danach wurden sie gedroschen, geworfelt und in den Aufbewahrungsräumen der Getreidespeicher eingelagert. Eine andere wichtige Sorge galt dem Vieh. Es versorgte alle mit Nahrung, tränkte die Menschen mit Milch, versorgte sie mit Leder- und Schuhwerk und half auch mit bei der Arbeit. Damals erforderte die Pflege des Viehs viel Zeit und Kraft, und sie lag im wesentlichen auf den Schultern der Frauen (lediglich um die Pferde kümmerte sich der Hausherr selbst). Auch für den Gemüsegarten waren ausschließlich die Frauen zuständig. Außerdem führte die Frau den Haushalt, zog die Kinder groß, sammelte Kräuter, Beeren, Pilze und Nüsse; sie spann, wob und nähte. Wenn nötig kam sie auch noch mit aufs Feld hinaus, um dort ihrem Mann zu helfen: sie schnitt das Korn, mähte, fegte den Heuschober aus und drosch sogar Getreide. Auch die Kinder wurden früh ans Arbeiten gewöhnt, bereits im Alter von 5 – 6 Jahren.

Flachs wurde ebenfalls angebaut. Man gewann daraus eine weiche, flauschige Ballen – einen hervorragenden Rohstoff zum Spinnen. Und im Winter saßen sie beim Licht von Kienspänen beisammen und spannen, nachdem sie sich zuvor in irgend jemandes Kate getroffen hatten. Das Spinnen an sich war eine langweilige und eintönige Arbeit; deswegen waren die Mädchen auch immer in Gesellschaft: da konnten sie wenigstens zusammem Lieder singen und sich unterhalten. Bei solchen Zusammenkünften schauten auch die Burschen herein, um bei der Gelegenheit auf Brautschau zu gehen. Während einer dieser Sitzungen hat der Urgroßvater sich auch die Urgroßmutter ausgesucht. Und bald darauf hielt er um ihre Hand an. Die jungen Leute beschlossen ein Haus zu bauen – groß und geräumig sollte es sein.. Das notwendige Holz beschafften sie sich im Winter, als das Nutzholz trockener war. Sie schichteten es zunächst in Stapeln aufeinander. Im Frühjahr entfernten sie die Rinde, hobelten die Oberfläche glatt und stellten dann aus den Stämmen ein Holzgerüst her, das sie bis zum nächsten Frühling so stehen und austrocknen ließen. Und erst dann machten sie sich an den eigentlichen Hausbau. Sie taten ihr Bestes, um das Haus hübsch zu verzieren. Für diese Arbeit holten sie sich einen professionellen Meister, und das kostete eine Menge Geld. Das Haus wurde zur Augenweide – die Fensterläden und Säulen des Vorbaus waren mit Schnitzwerk und Malereien geschmückt. Es war der ganze Stolz seiner Besitzer. Bald darauf wurden nacheinander die beiden Söhne Petr und Wiktor geboren. Alles war ihnen gelungen, alles hatten sie gut geschafft. Aber offenbar sollte das wohl nicht immer so sein. Die Revolution brach aus, erst eine, dann eine andere.

Ein Machtwechsel vollzog sich. Die Weißen gingen – es kamen die Roten. Danach kam alles wieder in Ordnung. Sie begannen zu leben wie eh und je.. Sie arbeiteten viel, zogen die Kinder groß. Ein weiterer Sohn wurde geboren, später noch eine Tochter. In der Familie herrschte kein Mangel. Alle waren satt und ausreichend gekleidet.

Das Jahr 1929 veränderte alles. Im Land begann man mit der Kollektivisierung, die nicht nur die Kontrolle des Staates über die Getreideproduktion garantieren, sondern auch die Bauernschaft in eine Klasse der sozialistischen Gesellschaft umgestalten sollte. Man nahm Kurs auf „die Liquidierung der Kulaken als Klasse“, denn die Kulaken (Großbauern) zählten zu den Hauptgegnern der Kommunisten und der Kollektivisierung. Die Entkulakisierung setzte ein – die gewaltsame Enteignung aller reichen und mittelreichen Bauern, die eine etwas größere und stabilere Wirtschaft besaßen, die Beschlagnahme von deren Besitz, Grund und Boden und Vieh. Die erste Etappe der Entkulakisierungskampagne war gekennzeichnet durch einen allgemeinen, heftigen Widerstand der Bauernschaft. Auch mein Urgroßvater, Andrej Lasarewitsch Swerew nachm daran teil. Seine Familie wurde ebenfalls den Kulaken zugerechnet. Er selbst wurde, zusammen mit anderen Dorfbewohnern, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt – wegen bewaffneten Widerstandes gegen die sowjetische Staatsmacht.

Ihr Eigentum, das sie sich mit eigenen Händen erarbeitet und erworben hatten, wollten die sogenannten Kulaken nicht einfach aufgeben. Sobald der Prozeß der Enteignung angelaufen war, wurde der aus eigener Kraft und Mühe zusammengetragene Besitz in einen besonderen Speicher geschafft. Das Vieh trieben die Männer in der Nacht in einen Pferch, der extra zu diesem Zweck gebaut worden war. Nachdem sie sich zuvor mit Äxten, Gewehren und Stutzen bewaffnet hatten - jeder trug das, was ihm geblieben war – entwaffnete der Urgroßvater zusammen mit den anderen Männern die Wachen, band sie fest und brachte dann den fortgeholten Besitz in die jeweiligen Häuser zurück. Alles kam wieder an seinen Platz. Und am Morgen wurden sie verhaftet und abgeholt. Man beschuldigte sie der Sabotage und Schädlingstätigkeit. Obwohl sie sich nur das wiedergenommen hatten, was ihnen gehörte. Sie hatten doch nichts Fremdes gestohlen ...

Urgroßmutter Aleksandra blieb mit den Kindern allein zurück. Nachdem man ihnen das Haus weggenommen hatte, wurde darin die Grundschule eingerichtet. Die Uroma zog mit den kleinen Kindern ins Haus ihrer Eltern um. Von der Wirtschaft blieb ihnen nichts. Weder der Grund und Boden, noch die landwirtschaftlichen, technischen Geräte, und auch kein Stück Vieh oder Geflügel. Alles konfiszierten sie. Um wenigstens einige Sachen zu behalten, zogen sie mehrere Röcke, Blusen und Hosen übereinander an. Sie freuten sich, daß sie, trotz dieser Zwangsmaßnahmen, nicht auch noch gewaltsam irgendwohin verschickt wurden. Die Urgroßmutter hatte noch ihrer Tochter Lusja, einen Säugling (meine spätere Oma), bei sich. Vielleicht war es gerade dieser Tatbestand, der die Behörden davon abgehalten hatte. Und bald darauf gab man ihnen eine Kuh, ein Schwein und etwas Geflügel zurück. Das Leben wurde ein wenig leichter. Aber ein Unglück kommt selten allein. Der jüngste Sohn erkrankte an einer Darminfektion und starb. Sie schafften es nicht, ihn durchzubringen.

Die Situation auf dem Lande war schwieriger als in der Stadt. Man achtete auf sie vor allem als Lieferantin billigen Getreides und Quelle billiger Arbeitskraft. Ständig setzte der Staat die Normen für die Getreideabgaben herauf und nahm dabei den Kolchosbauern beinahe die Hälfte des gesamten Ernteertrages fort. Die Lohnauszahlung für die von den Kolchosniks geleistete Arbeit wurde nach dem System der Tagesarbeitseinheiten gehandhabt. Und das wurde durch das Ergebnis, also den Gewinn der Kolchose bestimmt, also jenen Teil der Ernte, der nach den Abgaben an den Staat, sowie die Maschinen- und Traktorenstationen, welche den Kolchosen die landwirtschaftlichen Geräte zur Verfügung stellten, noch übrig geblieben war. In der Regel waren die Gewinne der Kolchosfarmen geringer und konnten noch nicht einmal das Existenzminimum sichern. Ihre geleisteten Tagesarbeitseinheiten bekamen die Bauern in Getreide oder anderen Nahrungsmitteln ausgezahlt. Kolchosarbeit wurde so gut wie nie mit Geld bezahlt.

Die Urgroßmutter hatte es sehr schwer; ihre Hauptsorge galt der Ernährung, Einkleidung und Beschaffung von Schuhwerk, sowie der Erziehung der Kinder. Sie ebsaßen kein Vieh, sondern mußten den Pflug selber ziehen. Großmutter berichtet (und weint dabei): „Wir zogen den Pflug hinter uns her. Mama, Papa und ich, und noch ein paar andere Familien finden sich zusammen und pflügen den Gemüsegarten. Wir banden ein Seil an den Pflug ... (sie weint)“. Trotz all der schwierigen sozialen Bedingungen, dem Hunger und der Kälte, lebte auch weiterhin die Hoffnung in ihnen, daß es eine Wende zum Besseren geben würde. Vielleicht mußte man nur noch ein wenig Geduld haben, sich anstrengen, fleißig arbeiten – und dann würde alles gut werden. Dann würde eine großartige, helle Zukunft hereinbrechen, die mit ihren klaren Farben den ganzen menschlichen Kummer fortspülen würde.

Urgroßmutter Aleksandra war eine mutige, entschlossene Frau, die sich selbst vor den schwersten Arbeiten nicht fürchtete, obwohl diese von den Männern manchmal verweigert wurden. Sie konnte an jenen beliebigen Menschen mit einer Bitte herantreten, und es kam nur sehr selten vor, daß sie ihr verwehrt wurde. In vielem ist es ihr zu verdanken, daß ihre Kinder die Hungersnot überlebten. Die Familie ernährte sich von schwarzem Brot und Suppe, die aus Kartoffeln und Wasser bestand. Alle Dorfbewohner arbeiteten in der Kolchose. Früh am Morgen liefen die Brigadiere von Haus zu Haus und klopften an die Fenster. Sie sagten einem, wer wohin zur Arbeit zu gehen hatte und was er dort genau machen sollte. Sie schufteten von früh bis spät, und es gab kaum Feiertage oder Freizeit. Die Kontrolleure führten ein Buch, in das sie eintrugen, wer, wieviel, was gemacht hatte. Am Abend verkündete er dann: „ Iwanow hat eine Tagesarbeitseinheit geschafft; Sirorow – ein halbe“, usw.

Es kam der Herbst des Jahres 1932. Nachdem sie ein ganzes Jahr lang ihre Tagesarbeitseinheiten gesammelt hatten, erhielten die Koochosbauern nun pro Tag 200 gr Roggen. Die Eltern der Urgroßmutter bekamen etwa zwei Säcke (100-120 kg). Und das war für die ganze Familie. Die Ernte in der Kolchose war nicht schlecht gewesen, aber man schickte den gesamten Ertrag in die Stadt, wobei man noch nicht einmal etwas für die nächste Aussaat zurückbehielt. Jetzt begann der Hunger erst richtig. Aus dem kleingehackten Kraut des Vogelknöterichs buk die Urgroßmutter, unter Zugabe einer geringen Menge Roggenmehls, Fladen. Sie waren ziemlich feuchtig. Sie rochen nach Gras, aber man aß sie trotzdem. Außerdem kochte sie Suppe aus den Blättern von Brennesseln, wobei sie ebenfalls etwas Roggenmehl hinzugab.

Von Urgroßvater Andrej erhielten sie keine Nachricht. Es schien, als wäre er spurlos verschwunden ... Was hatten sie deswegen alles durchmachen müssen. Aber eines Nachts hörten sie ein beharrliches Klopfen an der Tür, dann Gepolter mit Schimpfen und Schreien.. Die völlig verängstigte Urgroßmutter öffnete die Tür. Drei Vertreter der Behörden stürzten herein. Sie suchten den Urgroßvater. Überall kehrten sie das Unterste zuoberst und wühlten alles durcheinander. Sie verlangten, daß man ihnen sagte, wo er sich versteckt hielt. Aber natürlich fanden sie nichts. Auf diese Weise wußte die Uroma, daß der Uropa noch am Leben und aus dem Gefängnis geflohen war. Ihre Freude war grenzenlos.

Und drei Jahre später kam vom Urgroßvater aufgrund einer günstigen Gelegenheit eine Benachrichtigung. Er hatte sich in Magnitogorsk niedergelassen und arbeitete als Direktor eines Restaurants. Allerdings war er bald darauf gezwungen, von dort wieder fortzugehen, denn auf der Baustelle trafen immer mehr Bauarbeiter ein. Aus lauter Angst, daß jemand ihn erkennen könnte, begibt er sich in die Region Krasnojarsk zur Goldgrube Basan – in die entlegene Taiga. Er findet eine Arbeit als Spediteur und befördert Lebensmittel. Der Urgroßvater konnte lesen und schreiben. Daher war die Nachfrage nach ihm immer ziemlich groß. Kurze Zeit später fährt die Urgroßmutter mit den Kindern zu ihm. Später mußte sie oft daran denken, wie sehr ihre Mutter damals weinte und sie nicht fortlassen wollte. Sie hatte wohl schon vorausgeahnt, daß sie sie niemals wiedersehen sollte. Und so war es dann auch ... Zurück in die heimatlichen Gefilde konnte die Urgroßmutter erst nach dem Krieg, als ihre Eltern schon nicht mehr am Leben waren. Und der Urgroßvater kehrte gar nicht erst zurück; die Angst vor dem Gefängnis begleitete ihn sein ganzes Leben lang. Es gab für sie keinen Weg zurück. Und so blieben sie in Sibirien, in der entlegenen, dichten Taiga, um dort ihren Lebensabend zu verbringen.

Schließlich kam es zur Wiedervereinigung der Familie. Wieviele Freudentränen wurden aus dem Anlaß vergossen ... Das Leben in Sibirien wurde ein wenig leichter. In Basan wusch man Gold, das dann an die Regierung abgegeben wurde. Dafür erhielten die Leute Bonusscheine, Kreditpapiere, die dem Inhaber das Recht gaben, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Geldsumme oder andere Wertsachen zu erhalten. Für das Geld kauften sie später eine Kuh, ein Pferd, Schweine, ein Schaf und Geflügel. Der Urgroßvater begann Bäume zu fällen (es gab in der Taiga ja so viele davon und das Holz dort kostete nicht viel) für den Bau seines Hauses. Nach und nach kam das Leben in Ordnung. Die Taiga gab ihnen Beeren, Pilze, Nüsse, Bärlauch. Der Urgroßvater ging auch gewerbsmäßig auf die Jagd und fing Fische – ach, und was war der Charius für ein schmackhafter Fisch ...

Die Kinder wuchsen heran, halfen den Eltern in der Wirtschaft, gingen in die Schule. Ganz unerwartet wurden wir von großem Kummer heimgesucht. Dem 17-jährigen Petr, dem ältesten Sohn, ging es plötzlich nicht gut. Der Doktor, der vom benachbarten Bergwerk Kommunar herüberkam, konnte nichts mehr fürn ihn tun ... Er hatte einen sehr schweren Herzanfall erlitten ... Und so starb Großmutters ältester Bruder. Zwei Jahre später verstarb auch der andere Bruder Witja, genauer gesagt: er kam auf tragische Weise ums Leben. Im Winter beschäftigten sich die Kinder nicht nur mit lustigen Spielen im Schnee, mit Schneeballschlachten, Ski- und Schlittenfahren – sie sprangen auch gern vom Dach der Scheune aus in den Schnee herunter ... Es war viel Schnee gefallen. Er lag hoch aufgetürmt und war ganz weich, und die abenteuerlustigen Kinder stürzten sich mit Lachen und Kreischen von oben hinein ... Witja machte sich zum Sprung bereit, schaffte es jedoch nicht, aus eigener Kraft abzuspringen. Einer der anderen Jungen schubste ihn, er konnte sich nicht halten und fiel kopfüber in den Schnee. Sein Kopf stieß gegen einen Holzklotz. Dort hatte man Holzgehackt und fortgeräumt, aber der Hauklotz war liegengeblieben und später vom Schnee zugeweht worden. Und ausgerechnet darauf mußte der Junge fallen ... So hatte das Schicksal es für ihn bestimmt! Er war auf der Stelle tot. Es schien, als ob die Urgroßmutter vor Gram den Verstand verlieren würde ... Sie war zu nichts mehr in der Lage, sprach mit niemandem mehr, saß nur immer da und wartete darauf, daß die Tür aufgehen und der Sohn wieder hereinkommen möge ... Erst nach zwei Monaten fing sie langsam an, wieder zu sich zu kommen. Sie ging wieder zur Arbeit, begann zu sprechen und zu weinen.

Es kam einem so vor, als wäre sie versteinert. Oma Lusja blieb als einziges Kind der Familie übrig. Auch sie war ohne ihre Brüder sehr schwermütig, hatte Sehnsucht nach ihnen. Sie hatten sie immer beschützt, ihr Halt gegeben, waren ihre Spielkameraden und Helfer bei der Arbeit gewesen. Immer häufiger nahm die Urgroßmutter die Bibel zur Hand - das Evangelium, wie sie das Buch zu nennen pflegte. Sie hatte es aus der Heimat mitgebracht. Und wenngleich damals alle Menschen Atheisten waren und nicht an Gott glaubten, machte sie nun immer öfter davon Gebrauch. Sie las Gebete, sank Lieder und erinnerte sich daran, wie sie mit Eltern und Schwestern zum Gottesdienst in die Kirche gegangen war. Und wie sehr ihr das nun fehlte. Sie bat Gott um Vergebung für ihre Sünden, um Hilfe in allen Dingen und, was das Wichtigste war, darum, daß alle am Leben und gesund blieben – Tochter, Ehemann, Eltern, Verwandte und sie selbst. Das Evangelium wurde ihr zum Handbuch, und von nun an würde sie sich nie mehr davon trennen. Urgroßmutter und Urgroßvater konnten beide lesen und schreiben. Sie hatten den Schulabschluß an ihrer Dorfschule gemacht. Die Großmutter war sehr stolz darauf und den Eltern unendlich dankbar, daß sie ihr und ihren Geschwistern die Möglichkeit dazu gegeben hatten (Lesen- und Schreibenkönnen war zur damaligen Zeit im Dorf eine Seltenheit gewesen). Sie sagte häufig Gedichte von A.S. Puschkin und N. Nekrasow auswendig auf oder erzählte Ausschnitte aus ihren Werken nach ... Sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Das hat schon meine Mutter berichtet, die Enkelin meiner Urgroßmutter. In der Kindheit lernte sie mit ihr Gedichte. Und ganz egal, was es für Verse waren, sie behielt sie fast alle im Kopf. Sie liebte die Poesie, und fand auch immer Zeit, sich ein wenig damit zu beschäftigen. Stets las sie Zeitungen und Zeitschriften, in der Regel abends, wenn die Arbeit beendet war. Die Liebe zum Lesen gab sie an ihre Tochter weiter, die ihr einziges Kind blieb. Es ist anzunehmen, daß die Eltern sie sehr liebten und behüteten ... Aber in der damaligen Zeit verhätschelte man seine Kinder nicht, sondern gewöhnte sie schon früh ans Arbeiten. Sie konnte alles: sorgte sich um das Vieh, arbeitete im Gemüsegarten, mähte Heu, nähte und strickte. Sie liebte die Taiga, weil man dort so schön Pilze sammeln und Beeren pflücken konnte.

Meine Urgroßmutter war eine überaus geduldige Frau und beklagte sich nie. Der Urgroßvater erinnert sich noch: „Es kam vor, daß ich müde von der Arbeit nach Hause kam, ganz kraftlos. Und sie sitzt da und wartet auf dich und deckt den Tisch mit unserem spärlichen Abendessen. Man sprach damals nicht so viel, und wenn – dann höchstens über die Arbeit. Die Menschen hatten Angst. Sogar die Wände hatten Ohren. Niemandem konnte man zu 100% Glauben schenken. Die Menschen wurden von Denunziationen verfolgt.. Man jagte ihnen Furcht ein, verbreitete Ungläubigkeit und Mißtrauen. Das war so nervenaufreibend, so zermürbend“.

Genau so, wie die damaligen realen Ereignisse heute jeglicher Vorstellungskraft entbehren, genau so weit sind wir auch vom Verständnis und Durchleben jener Probleme und Nöte entfernt, welche die Menschen damals durchstehen mußten, und wie schlimm ist es, daß dies häufig den Grundstein für mangelndes Verständnis zwischen den Generationen legt.

Oma Ljuda erinnert sich an ihre Schuljahre: „Unterernährung und regelrechter Hunger waren in der Bevölkerung ständig präsent. Um die vor den eigenen Augen immer schwächer werdenden Kinder wenigstens ein wenig zu unterstützen, begann man in den Schulen warme Frühstücksmahlzeiten zu organisieren. Im Frühling fing mit dem Einsammeln der Saatkörner an. Die Gemüsegärten vor den Schulen wurden mit Spaten aufgelockert. Sie säten Rüben, Wurzeln, Kohl, Zwiebeln, Knoblauch und Kartoffeln. Lehrer und Schüler hackten auch selbst das nötige Brennholz“. Ja, Faulenzer und Bummelanten gab es damals nicht; sonst hätte man auch gar nicht überleben können ...

Jedes der Kinder begriff, daß sie all dies nur gemeinsam durchstehen konnten, und deswegen tat auch jeder das, wozu er nur irgendwie in der Lage war. Wie sehr man sich auch bemüht, die damalige Situation zu beschreiben, so kann man doch mit nichts den seelischen Kummer und die körperlichen Qualen zum Ausdruck bringen, die auf das Los der Kinder entfielen, welche ihre Eltern, ihre Familie, ihr Elternhaus und ihre Kindheit verloren. Es ist nicht verwunderlich, daß es jetzt für uns Kinder, die wir im Wohlstand leben, die Menschen aus der damaligen Generation zu verstehen – schließlich sind sie ihrer ganzen Kindheit verlustig gegangen, und sie tragen keine Schuld daran, daß das Leben für sie kein Festtag mit Feuerwerk und Salutschüssen ist, sondern der schwere Kampf mit dem Schicksal, den sie – das muß man wirklich eingestehen – trotz ihres Kindesalters in Würde austrugen.

Großmutter erinnert sich: „So etwas wie Zerstreung und Amüsement gab es bei uns nicht. Nur manchmal bereiteten wir uns eine kleine Freude. Wir trafen uns bei irgend jemandem zu Hause, lasen Gedichte über Liebe und Natur. Wir sangen Lieder und tanzten mitunter zu den Klängen des Akkordeons“.

Und trotzdem lebten die Urgroßeltern und die Großmutter. Ja, sie lebten. Zum Luxus hatte man sie nicht erzogen. Daher waren sie auch nicht sonderlich bedrückt darüber, daß in ihrer Behausung die elementarsten Bequemlichkeiten fehlten, daß sie mit Holz heizen, ihr Essen auf dem Herd zubereiten und die Toilette draußen im Hof aufsuchen mußten. Was sahen die lieben, mir verwandten Frauen? Nichts, als das hoffnungslose, finstere Grau der Zukunft. Der Mensch hatte damals auch nicht seine eigene Welt. Alle spielte sich in einer großen Gemeinschaft ab. Sie lebten alle wie auf dem Präsentierteller. Und deswegen paßten sie sich auf ganz unterschiedliche Weise an dieses Leben an. Die Menschen waren zurückhaltend, schüchtern, furchtsam. Sie lebten in der ständigen Angst, für ihr Verhalten zur Verantwortung gezogen zu werden.

Die Urgroßmutter schuf sich ihre Welt und lebte darin, wobei sie versuchte, sich und ihre Familie vor fremden Einmischungen zu schützen. Sie lebte ohne jegliche Emotionen, ohne Jubel und Triumphgefühl und war mit allem zufrieden und einverstanden.

Aber mit diesem Leid war es bei derUrgroßmutter noch nicht genug.

Großmutter erinnert sich: „ Sommer 1941. Der Schulunterricht ging zuende. Die Sommerferien begannen. Es kam die Zeit, sich um die Kartoffeln und den Gemüsegarten zu kümmern, das Vieh zu hüten, in die Taiga hinein zu laufen und im Flüßchen zu baden ... Nichts schien das bevorstehende Unheil anzukündigen. Der 22. Juni war ein Sonntag. Mama war gerade am Kochen, und Papa reparierte ein Hackmesser, denn es war an der Zeit, die Kartoffeln zu kultivieren, als die Nachbarin angerannt kam: „Schura, es ist Krieg! Krieg mit Deutschland. Schnell, macht das Radio an!“ – Alle verstummten, als sie die Nachricht über den Einmarsch der Deutschen hörten. Alle begriffen sofort, daß sie den Vater an die Front schicken, und wir allein zurückbleiben würden. Daß der Krieg den Tod bedeutete und alle sich anstrengenden mußten, ihn zu überleben. Daß diese Zeit nun Entbehrungen, mangelnde Ernährung und viele Verluste mit sich bringen würde“. Sie holten den Urgroßvater im Oktober 1942 an die Front. Und auch viele andere Männer aller Altersgruppen. Alle Einwohner kamen heraus, um sie noch ein Stück zu begleiten. Lastwagen, Anderthalbtonner rollten heran. Unmittelbar daneben tranken sie Selbstgebrannten aus Gläsern, aber natürlich nicht alle. Einige jedoch wurden besinnungslos auf den Lastwagen geworfen. Die Urgroßmutter weinte bitterlich, als sie ihren Ehemann zum Fahrzeug begleitete und den Abfahrenden hinterherblickte. Ach ja, schrecklich dieser Krieg, und längst nicht alle waren freiwillig fortgefahren. Viele hatten dies nur auf Befehl getan. Konnte man sie dafür verurteilen? Ich weiß es nicht. Sie wurden zu Geiseln ihrer Zeit. Nichts war von ihnen abhängig. Und niemand hatte sie gefragt. Aber, so oder so, taten sie, was getan werden mußte. Und wenn sie auch schreckliche Angst hatten, so nahmen sie dennoch an den Kämpfen ohne unnötiges Heldentum teil, aber auch ohne Furcht. Sie bemühten sich, dem Tod auszuweichen, denn nur wenn sie am Leben blieben, konnten sie ihrem Land, ihrer Familie, den Kindern Nutzen bringen. Sie dachten daran, wie schwer es für diejenigen war, die dort im Hinterland geblieben waren. Das sich plötzlich soviel Arbeit und Verantwortung auf den weiblichen Schultern lastete. Und in den Kriegsjahren war das sogar in den entlegensten Gebieten Sibiriens, zu denen auch Basan gehörte, nicht leicht. Die Norm für die Goldabgaben an den Staat wurde heraufgesetzt. Nun mußten sogar Kinder beim Goldwaschen helfen – jedes kleine Stückchen sollten sie heraussammeln. Auch meine Großmama lernte, wie man das machte. Außerdem gab es staatlich angeordnete Zwangsabgaben für Kartoffeln, Gemüse, Fleisch, Milch, Schweinespeck und Butter.

Nach den Erinnerungen der Großmutter war ihre schlimmste Erfahrung, daß es kein Salz gab. Und in ihrer Bockigkeit weigerte sie sich ungesalzene Kartoffeln zu essen. Deswegen mußte die Oma Brot in Salz eintauschen.

Es gab schrecklich viel Arbeit, und sie war schwer, aber irgendwie kamen sie mit allem zurecht. Sie warteten immer auf Nachrichten vom Vater, aber bald kamen keine Briefe mehr. Großmutter erzählt: „Ich bin draußen, und die Mama fängt an zu schreien: „Lusja! Lusja! Komm schnell nach Hause! Sie haben den Vater getötet!“ Und sie selbst weint und schluchzt: „Das glaube ich nicht, er lebt, er kommt zurück, ganz bestimmt kommt er zurück!“

Kurz darauf stellte sie fest, daß die Mutter irgendwie nicht mehr sie selbst war. Sie benahm sich ganz merkwürdig. In ihrem Kopf war irgendetwas geschehen. Man rief den Arzt. Er sagte, daß sie ohne geeignete Behandlung im Krankenhaus nicht wieder in Ordnung kommen würde. Und so brachten sie Mama ins Krankenhaus. Mich wollten sie ins Internat schicken. Ich leistete Widerstand. Die Wirtschaft, Der Gemüsegartem, das Haus – wer sollte sich darum kümmern? Eine Nachbarin nahm mich in Schutz. Sie sagte, daß sie mir helfen und auf mich achtgeben wollte. Und so wurde dann beschlossen, daß ich zuhause bleiben durfte. Aber in die Schule ging ich nicht. Ich blieb sitzen. Mama wurde nach einem halben Jahr aus dem Krankenhaus entlassen. Sie befand sich nun wieder in einem guten Gesundheitszustand. Sie konnte arbeiten, und ich konnte wieder in die Schule gehen. Wir waren so glücklich wieder beieinander zu sein und alles überstanden zu haben. Wir waren der Nachbarin, Praskowja Fedorowna, dankbar, daß sie uns nicht im Elend hatte verkommen lassen, sondern uns geholfen hatte. Und ich kam inzwischen schon selbständig mit unserer Wirtschaft zurecht. Meine Kinderzeit war zuende gegangen. All diese Ereignisse hinterlassen ihre Eindrücke und werden zu Alltäglichkeiten. Das ist es ja gerade, daß es nichts Besonderes daran gibt; sie konnten in jenen Jahren an jedem beliebigen Ort, bei einer beliebigen Person, eintreten.

Allerdings nahm eine Sache einen glücklichen Verlauf. Im Sommer 1945 kehrte der Vater von der Front zurück. Er war am Leben geblieben, wenngleich er die ganze Zeit als Häftling in einem Konzentrationslager gesessen hatte. Die damalige Todesnachricht hatte sich als Lüge erwiesen. Wieviel Kummer hatte sie über uns hereingebracht ... Aber alle waren dem Schicksal dankbar für diesen guten Ausgang der Geschichte. Viel später, als sich alle ein wenig beruhiht hatten und das Leben wieder so dahinfloß, wie es früher der Fall gewesen war, fragte ich den Vater häufig über den Krieg und das Lager aus, aber er schwieg zu diesen Themen. Wahrscheinlich wollte er uns, d.h. Mama, mir und auch sich selbst, nicht die gute Laune verderben. Er sagte immer nur eins: „Das Wichtigste ist doch, daß wir überlebt haben, alles andere wird sich finden und in Ordnung kommen“. Nur mitunter ließ er seinem Willen und seinen Erinnerungen freien Lauf: „Wenn ein Lastwagen, vollgeladen mit schmutzigen, rohen Steckrüben, ins Lager gefahren kam und sie die Ladung abgekippt hatten, stürzten die Menschen, wahnsinnig vor Hunger, auf diesen Haufen los. Manche fielen dabei vor Schwäche zu Boden – sie standen nie mehr auf. Ich versuchte stets am Rand zu laufen, damit mich die anderen nicht erdrückten“. Das Gefühl von unbändigem Hunger verfolgte den Urgroßvater bis ans Ende seines Lebens. Einmal bat er seine Frau ihm Zwiebeln zu kochen. Die Urgroßmutter verstand zuerst nicht, was er meinte, und war sehr verwundert; aber sie erfüllt ihm die Bitte: sie putzte ein paar Zwiebelknollen und kochte sie in Wasser. Als sie den Teller mit den gekochten Zwiebeln vor ihren Mann hinstellte, probierte er zwar, begann jedoch nicht vernünftig zu essen. Stattdessen sagte er: „Wie kann man das essen? Aber im Lager, als wir uns gefrorene Zwiebeln gekocht haben, da empfanden wir sie als das beste Essen der Welt“.

Daran erinnert sich die Großmutter und weint und weint - unaufhörlich.

Aber nach und nach heilte die Zeit die Wunden. Großmutter beendete die 7-Klassen-Schule und beschloß, nach Jenisejsk in die Lehre zu gehen, ans Technikum für Finanzen. Zusammen mit ihr fuhren weitere sieben Mädchen aus dem Dorf. In der näheren Umgebung gab es eine Lehranstalt dieser Art nicht, weder in Abakan, noch in Krasnojarsk. Sie begaben sich nach Krasnojarsk und reisten dann auf dem Jenisej weiter flußaufwärts. Lange waren sie unterwegs, mehr als zehn Tage. Sie kamen zu spät zum Beginn der Aufnahme-Prüfungen. Die Frist für die Abgabe der Dokumente war bereits abgelaufen. Und außerdem gab es viele, die dort lernen wollten. Man schrieb das Jahr 1946. Alle ehemaligen Kriegsteilnehmer wurden ohne Prüfungen aufgenommen. Was sollten sie tun? Nach Umkehren war ihnen nicht zumute. Ihr ganzes Geld hatten sie schon für Essen auf dem Schiff ausgegeben. Und so machten sie sich auf, um nach einem anderen Ausbildungsplatz Umschau zu halten. Sie machten die pädagogische Fachschule ausfindig. Dort gaben sie ihre Papiere ab, machten ihre Aufnahmerprüfungen und wurden aufgenommen. In einer Gemeinschaftswohnung fanden sie Unerkunft. Die Großmutter erinnert sich, wie sie dort gelernt haben, und fängt erneut an zu weinen. Auch in den Jahren nach dem Krieg litten sie Hunger. Auf dem Markt gab es keine Lebensmittel. Für das Geld, das die Eltern ihnen schickten, konnte man nichts kaufen. Nach Hause zurückkehren ging auch nicht, denn der Jenisej war zugefroren und die Schifffahrt eingestellt worden. Sie machten ihre Hausaufgaben nicht; nach Hause zurückgekehrt, setzten sich an den Ofen, wärmten sich auf und sammelten einander die Läuse vom Kopf. Am Abend sammelten sie Schälabfälle, um wenigstens etwas zum Essen zu haben. Sie warteten auf den Frühling, machten ihre Prüfungen. Wer es nicht schaffte (der Hunger zeigte seine Auswirkungen), wurde freigestellt und auch so in den zweiten Kursus versetzt. Sie fuhren auf dem Wasser nach Hause, fest entschlossen, nie wieder hierher zurückzukehren. Irgendwelche Dokumente oder Zeugnisse bekamen sie nicht mit auf den Weg. Aber nicht einmal dadurch ließen sie sich zurückhalten.

Als sie zu Hause eintrafen, waren sie nur noch Haut und Knochen. Währned des Sommers wurden sie von Ihren Eltern ein bißchen durchgefüttert. Und im August fuhren sie nach Abakan, um dort an der pädagogischen Fachschule weiterzulernen. Sie hatten in Jenisejsk einen Antrag gestellt, die entsprechenden Papiere erhalten und konnten nun ihre Ausbildung fortsetzen. Hir war es erheblich besser, die Eltern schickten Lebensmittel und sie konnten sogar nach Hause fahren. Allerdings lief es auch hier nicht ohne Abenteuer ab. Einmal wollte Großmutter in den Winterferien nach Hause fahren. Zu der Zeit fuhren aber keine Autobusse. Man bewegte sich mit Pferden vorwärts – auf Leiterwagen oder Schlitten. Die Straßen und Wege waren in schlechtem Zustand – unwegsam und voller Schlaglöcher. Im Sommer, wenn es geregnet hatte, konnte man kaum durch den Schlamm waten, und im Winter war der ganze Weg mit Schnee zugeweht. Von der Bahnstation Schira bis zum Bergwerk Kommunar fuhr sie auf einem Lastwagen mit und anschließend, bis zur Grube Schipilinsk, mit dem Schlitten.

Auf der Durchreisestation sagte man ihr, daß drei Tage später ein Wagenzug durchkommen würde. Man schlug ihr vor, so lange zu bleiben. Aber so lange warten?! Sie wollte doch so schrecklich gern nach Hause ...

Jedenfalls kam sie zu spät zum Wagenzug, und die ortsansässigen Männer, die ebenfalls nach Basan zurückfuhren, wollten sie nicht mitnehmen. Soe beschloß sie, zufuß durch die Taiga zu gehen. Als sie die Anhöhe hinaufstieg, wunderte sie sich, daß sich am Himmel so eine große schwarze Wolke gebildet hatte. Dann fing es an zu schneien und Wind kam auf, ein Schneesturm, bei dem man schließlich den Weg nicht mehr erkennen kann und es fast unmöglich ist, sich vorwärts zu bewegen. Die Beine versinken förmlich im Schnee, und man muß eine Menge Ktaft aufwenden, um sie wieder heraus zu bekommen und weiter zu gehen. Aber Großmutter begriff, daß jeder Versuch umzukehren sinnlos war. Man mußte weitergehen. Und sie ging ...

Lange war sie unterwegs. In der Ferne glaubte sie schon das heimatliche Dorf zu sehen; sie hatte den Rauch aus den Schornsteinen erspäht und Hundegebell gehört. Aber die Beine gehorchten ihr nicht mehr, sie wollten einfach nicht weitergehen. Immer häufiger blieb die Großmutter stehen und setzte sich schließlich, völlig entkräftet, in den Schnee. Das Gehirn arbeitete und traf eine gesunde Entscheidung: wenn ich nicht aufstehe und weitergehe, werde ich einschlafen (das war so ein angenehmes Gefühl), mit Schnee zuwehen und erfrieren. Sie werden mich erst im nächsten Frühjahr finden. Wenn der Schnee schmilzt. Im vergangenen Jahr war auch ein Mädchen auf diese Weise erfroren; es war im Schnee eingeschlafen und das war’s ...

Nein, sie mußte aufstehen und weitergehen. Sie hatte es doch schon fast geschafft, war schon beinahe zu Hause. Innerlich schrie sie auf und rief um Hilfe: „ Hier bin ich! Hier! So helft mir doch!“ – Wie schade war es zu erfrieren, wenn man doch nur noch 1,5 oder 2 Kilometer vor sich hatte. Die Großmutter war schon am Einnicken, als sie plötzlich jemanden laut schreien hörte – oder sollte das nur in ihrer Einbildung gewesen sein? Und dieser Jemand trieb aus Leibeskräften sein Pferd an. Es war der Vater. Ihr erster Gedanke war, woher er wohl hatte wissen können, daß sie sich hier, auf dem Heimweg, befand. Wie sich später herausstellte, hatten die heimkehrenden Männer aus dem Dorf genug Verstand oder Mitleid besessen, um dem Vater mitzuteilen, daß seine Tochter zufuß aufgebrochen war. Und der war sofort auf den Schlitten gesprungen, um nach seiner Tochter zu suchen. Er kam gerade noch rechtzeitig. Wie sehr hatte damals die Urgroßmutter geweint und mit der Oma geschimpft, daß sie in so einem Schneesturm losgelaufen war und nicht den nächsten Wagen-Treck abgewartet hatte ...

Damals war sie Gott dankbar, daß er geholfen hatte, ihre Tochter zu retten. Der Gedanke, vielleicht ihr letztes Kind zu verlieren, war für sie unträglich gewesen ...

Großmutter war die ganzen Ferien über krank, aber schließlich ging doch alles gut aus, und sie konnte zum Unterricht nach Abakan zurückkehren. Bald darauf beendete sie die Lehre und wurde nach Kommunar (Goldmine) abkommandiert, wo sie eine Tätigkeit an der dortigen Schule aufnehmen sollte. Kurze Zeit darauf bekam sie ein Zimmer, später sogar eine Wohnung. Die Eltern zogen zu ihr um, denn das Goldbergwerk Basan wurde stillgelegt – die „goldenen Möglichkeiten“ waren erschöpft. Das Leben kam irgendwie in Ordnung, man fand sich im Alltag zurecht. Die Schwestern der Urgroßmutter riefen sie zurück in die Heimat, wie sie immer sagte. Aber der Urgroßvater war dagegen. Er hatte seine Wahl getroffen, und er glaubte nicht an die Gerechtigkeit der Sowjetmacht.

Als ehemaliger Arrestant und Häftling hatte er das existierende Regime ganz richtig eingeschätzt. Genau deswegen entging er wohl auch einer weiteren Verbannung. Denn viele Gefangene, die bereits in deutschen Lagern gesessen hatten, gerieten anschließend auch noch in sowjetische Lager – als Verräter.

Hatten sie jemals daran gedacht, daß ihnen ein solches Los widerfahren könnte? Daß der Staat auf so eine Art und Weise ihre ganzen Qualen und Leiden vergelten würde ... Wenn man über diese ganzen Themen und Ereignisse nachdenkt, dann kommt einem unfreiwillig der Gedanke in den Kopf, daß man leben muß, ohne sich groß in den Vordergrund zu stellen, damit man nur nicht auffällt, und am besten möglich weit von der Regierung entfernt. Aber in der damaligen Zeit verfolgte die Sehnsucht nach der Heimat die mir Nahestehenden ihr ganzes Leben lang. Wahrscheinlich freundete sich die Urgroßmutter, als sie in Kommunar wohnte, mit ein paar Esten an. Sie waren ebenfalls verschleppt und auf Beschluß der russischen Behörden bestraft worden – sogenannte Leidensgenossen.

Nach dem Krieg gab es im Land auch noch viele Menschen, die Hunger litten und Läuse hatten, aber dafür waren sie alle stolz auf die ungeheure Tapferkeit der sowjetischen Soldaten, die um ihrer Heimat – der UdSSR – willen zu solch großartigen Heldentaten fähig gewesen waren. Aber für die Esten bedeutete die Sowjetunion nicht die Heimat. Sie mochten dieses Land, Stalin und alles, was dazu beigetragen hatte, daß sie nach Kommunar gelangt waren, nicht. Und sie hatten es schwer. Meine Uroma half einer solchen Familie, mit ihrem nicht leichten Siedlerleben zurechtzukommen. Sie verstand ihre Sorgen und Nöte nur allzu gut. Sicher werden Sie in diesem Punkt mit mir übereinstimmen, daß das eine wichtige Sache war! Sie war trotz des ganzen eigenen Kummers, den sie durchgemacht hatte, nicht hartherzig geworden, sondern war noch in der Lage, anderen von ihrer Wärme abzugeben, die genauso gelitten hatten wie sie. Als man ihnne endlich erlaubte, nach Hause zurückzukehren, fuhren sie fort und ließen sich in Tallinn nieder. Und noch lange Zeit schrieben sie einander Briefe, schickten einander zu den Festtagen kleine Geschenke und gratulierten sich zu den Geburtstagen. Nach dem Tod der Urgroßmutter hielt die Großmutter die Verbindung noch weiter aufrecht, aber irgendwann brach sie dann endgültig ab, ... Die allerletzten , die sich an Kommunar und seine Einwohner noch hatten erinnern können, waren verstorben. Ja, es ist überhaupt nicht von Bedeutung, welche Nationalität jemand hat, ebenso wenig wie das Strafmaß (das zudem auch nicht gerechtfertigt war). Es sind andere, menschliche Eigenschaften, welche die Leute untereinander verbinden – gegenseitiges Aushelfen, ein gutes Verhältnis miteinander, gegenseitige Unterstützung. Und das war es auch, was ihnen beim Überleben half. Aber zweifelsohne bleiben damit immer sowohl gute, als auch schlechte Erinnerungen über das vergangene Leben im Gedächtnis haften. Es waren beschämende und schändliche Tatsachen der Geschichte unseres Landes, die meiner Vorstellungskraft einen schweren Schlag versetzten. Wieviel Ungerechtigkeit und Grausamkeit? Und wozu das alles?

Während ich diese Arbeit niederschrieb, habe ich mich noch ein weiteres Mal geschämt – wegen all meiner eigenen Probleme, die mir gelegentlich so bedeutsam erscheinen. Aber was sind das doch alles für vorübergehende Kleinigkeiten im Vergleich zu den großen Opfern und Entbehrungen, die tausende und abertausende Menschen damals durchmachen mußten. Auch meine Verwandten standen das alles durch, die Menschen, die mir am nächsten stehen und mir am meisten vertraut sind.

Mit ihrer Ankunft in Kommunar gingen alle Qualen und Strapazen zuende. Das Schicksal forderte sie ab jetzt nicht weiter heraus. Das Leben verlief ruhig und gleichmäßig. Die Urgroßeltern traf ich nicht mehr lebend an. Sie waren inzwischen verstorben. Dabei überlebte die Urgroßmutter ihren Mann um zehn Jahre. Sie starb im Alter von 81 Jahren. Bis zum letzten Tag hat sie immer gearbeitet, sich immer um alles gesorgt und ist stets in Bewegung geblieben. Immer hat sie sich Sorgen gemacht, wie der Opa wohl ohne sie auskommen wird.

1994 wurden die Urgroßeltern und Mama rehabilitiert und als Opfer politischer Repressionen anerkannt. Wem haben sie genützt, diese Repressionen? J.W. Stalin vielleicht. Er mußte seine Machtstärke demonstrieren, Angst verbreiten und die widerspruchslose Unterwerfung aller Machtbereiche sowie der gesamten Bevölkerung erreichen. Tatsächlich war Stalins Macht überhaupt nicht begründet, denn es herrschten nichts als Terror und andere grausame Methoden.

Das Bestreben, unter den einfachen Menschen ein Gefühl von Unruhe und Besorgnis wegen der Schädlinge und Diversanten hervorzurufen, die überall ihre Finger im Spiel hatten, die bedrückende Atmosphäre der Angst und Unduldsamkeit hatten nur einen einzigen, äußerst praktischen Zweck – nämlich die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die durch soziale Antagonismen verursacht worden war, in die Richtung realer oder erdachter „Feinde“ zu richten.

Warum mußte das Land jene Kraft unterdrücken, die ihr auch half, den Krieg zu gewinnen – die einfachen Leute? Damals, zur Zeit der Sowjets, war es sinnlos, auf Fragen dieser Art eine Antwort zu geben, und jetzt, so viele Jahre danach ...

Das 20. Jahrhundert wurde zu einem der dramatischsten in der Geschichte Rußlands. Massen-Repressionen, die praktische jede Familie berührten, Hunger und Krieg, die Millionen von Menschenleben hinwegrafften – diese Herausforderungen, diese Schicksalsschläge entfielen auf das Los unserer Vorfahren. Sie mußten schwere Jahre durchmachen. Und viele Erinnerungen an jene Zeit quälen bis heute ihre Seelen und lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Es gab in unserem Lande nichts wertloseres als ein Menschenleben, und das ganze System klammerte sich an Gewalt und Angst, gleichgültiges Verhalten gegenüber dem Menschenleben, die Vernichtung der Person und – unendliche viele Grausamkeiten.

Nun geht die letzte Generation, die sich an jene Zeit noch erinnern kann und noch weiß, wie es damals zuging, in die Ewigkeit ein. Und es bleibt das, was wir bewahren, îòñòîèì, retten und ans unsere Nachfahren weitergeben.

Literaturangaben:

1. Erinnerungen der Ljudmila Andrejewna Rostowzewa.

2. Staatsarchiv der Republik Chakassien. Sammlung Nr. 105, Verzeichnis Nr. 8, Akten-Nr. 471, Seiten 56-67.

3. Die Tragödie des sowjetischen Dorfes. Kollektivisierung und Entkulakisierung. Dokumente und Materialien in 5 Bänden (1927-1939), Band 1 und 2, Moskau, „ROSSPEN“, 1999, 2000.

4. D. Boffa, Geschichte der Sowjetunion, Band 2, Moskau, 1994, Seite 126.


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