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Als ein schreckliches Märchen zuende ging

(Eine philosophisch-künstlerische Aufarbeitung der Zeugenberichte von Rußland-Deutschen, die 1941 in die Region Krasnojarsk deportiert wurden)

Vorbereitet wurde sie von Schülern der Klasse 10 „B“ der allgemeinbildenden Mittelschule No. 3 in Bolschaja Murta, Region Krasnojarsk, Mitgliedern des Schulklubs für Heimatkunde „Istotschnik“ („Quelle“, „Ursprung“; Anm. d. Übers.):

Katja Gudkowa, Tatjana Dorogaja, Oksana Schujkowa.

Leiterin des Klubs: Denis Alexandrowitsch Krasnow (Lehrer für Geschichte).

2004

Inhaltsübersicht

1. Prolog
2. Erinnerungen
3. Epilog
4. Kommentare zum Forschungsprojekt
5. Schlußfolgerungen aus Sicht der Forschenden

Prolog

In unserer kleinen Siedlung, ebenso wie in den meisten sibirischen Städten und Dörfern, gibt es eine Vielfalt verschiedener Nationalitäten. In der Siedlung leben Russen und Tataren, Litauer, Letten, Esten, Ukrainer, aber die zahlenmäßig größte Diaspora bilden die Deutschen.

Man schlägt das Telefonbuch auf und wundert sich: „Eine deutsches Siedlung!“

Bei jedem Wetter sehen die Häuschen in den alten Straßen der Siedlung sauber und akkurat aus, und es gibt ausgeklügelte Einrichtungen, die dm Komfort dienen. Im Sommer – die schattigen Gartenlauben, die gemütlich zusammensitzenden Alten, das Lesen der Bibel, Gesang, deutsches Gemurmel, vermischt mit russischen Wortbrocken, und an den Feiertagen – Strudelessen. Lange schon leben sie hier, sprechen aber häufig über ihre historische Heimat, erinnern sich an die reichen Getreidefelder des Wolga-Gebiets. Lange schon sind sie hier zuhause. Aber manchmal scheinen sie innerlich entfremdet und in düsterer Stimmung zu sein. Gleichsam, als ob zu ihnen die bitteren Erinnerungen jener Zeit zurückkehren, als zwischen Vergangenheit und Zukunft nur 10 Minuten lagen, um das Haus zu verlassen, einige wenige Habseligkeiten zusammenzupacken und unter Wachbegleitung in die Nacht hinauszuziehen ...

Nach dem Willen böser Genies müssen sie sich wahrscheinlich im höheren Sinne des Wortes dorthin begeben, wo niemand auf sie wartet, um das schwere Los des Volkszorns auf sich zu nehmen, in der Zeit der schweren Prüfungen auf russischem Boden, und auch das großartige Gefühl des menschlichen Herzens zu erfahren – Barmherzigkeit und Vergebung.

Erste Geschichte – „Menschen ringsumher“

Es erinnert sich Erika Jakowlewna Rau

„Meine Eltern waren Bauern. 1941 holten sie meinen Vater in die Armee, an die Front, und unsere Familie wurde in dem Jahr politisch verfolgt. Man brachte uns aus unserem Heimatdorf fort, in das uns unbekannte Dorf Chmelewo. Wir lebten in einer kleinen Kate. Nach ein paar Monaten fand unsere Mama Arbeit im Industrie-Kombinat. Sofort bekamen wir ein kleines Zimmer in einem Gemeinschaftshaus, und da wir drei Kinder waren, war das Leben sehr schwer, denn Mama arbeitete ja allein, der Vater kam ja auch nicht aus dem Krieg zurück ...

Wir wurden deswegen Opfer von Repressionen, weil Krieg war, es war eine schwere Zeit ... Wir fuhren mit einer Fähre, wir wurden ausgeladen – wie Schafe. Die Leute behandelten uns so, wie es sich für Menschen gehört, die verstehen, was für ein Unglück geschehen war. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zu den Russen, unter ihnen fand ich sogar meine erste Liebe. Allerdings verlor ich sie damals sogleich wieder, denn er fuhr fort in eine andere Ortschaft“.

Zweite Geschichte – „Tränen der Erinnerung“

Es erinnert sich Emma Genrichowna Schmidt

„Wir lebten in einer Kolchose, die Eltern waren einfache Bauern, in unserer Familie gab es fünf Kinder, die jüngste Schwester ging verloren, als sie uns fortbrachten. Mama hat sich furchtbar gegrämt und schrecklich darunter gelitten; sie wurde sogar sehr schwer krank. 1941 wurden wir Opfer von Repressionen. Zuallererst transportierten sie uns nach Krasnojarsk, danach siedelten sie uns ganz verstreut in den Dörfern an. Man brachte uns nach Tura. Mama arbeitete nicht, ich selbst arbeitete in der Kolchose, fuhr zusammen mit den Männern , zum Fischfang. Ich fischte, und danach verkaufte ich den Fisch ... Ich möchte nicht weiter über dieses Thema sprechen“.

Dritte Geschichte – „Zehn Minuten zwischen Vergangenheit und Zukunft“

Es erinnert sich Alexander Alexandrowitsch Schitz (Schütz?)

„Unsere Familie war groß – zehn Personen, unsere Mama arbeitete nicht, denn sie war Invalidin, und der Vater war als einfacher Arbeiter tätig. Acht Kinder waren wir. Ein Bruder ist leider gestorben.

1941 kamen sie zu uns nach Hause, um uns zu holen. Zum Packen gaben sie uns zehn Minuten. Wir nahmen alles mit, was wir tragen konnten, alles andere ließen wir dort zurück. Mit einem Auto brachten sie uns bis zur Bahnstation, von dort fuhren wir mit dem Zug und dann mit einem Motorschiff, und nach all den Qualen ging es dann mit Pferden weiter. Sie transportierten uns in die Ortschaft Krutoje. Viel haben wir wegen dieses Krieges durchgemacht.

Jetzt werden die Tiere besser gefüttert, als wir damals verpflegt wurden. Das Leben war sehr qualvoll. Jeden Monat gingen wir zur Kommandantur und ließen uns registrieren, das war sehr erniedrigend, denn sogar kleine Kinder waren gezwungen, diese Pflicht zu erfüllen. Im Winter war es schrecklich kalt. Wir schleppten Baumstäme heran und zersägten sie direkt vor dem Haus mit kleinen Sägen“.

Vierte Geschichte – „Mit gebrandmarktem Herzen“

Es erinnert sich Anna Alexandrowna Merk (Merck?)

„Meine Eltern waren einfache Arbeiter. 1941 starb mein Vater. Er hinterließ acht Familienmitglieder: Mama und sieben Kinder, aber bald darauf starben drei meiner Brüder.

Wir mußten die Heimat verlassen, unsere gesamte Wirtschaft haben wir zurückgelassen. In der Ortschaft Krutoje wurden wir Opfer von Repressionen. An dem neuen Ort arbeiteten wir genauso wie alle anderen. Allerdings – zu essen gab es nichts. Ebenso wie die anderen Repressierten, gingen wir jeden Monat einmal zur Kommandantur, um uns zu melden und registrieren zu lassen. Dafür bezeichneten sie uns als Faschisten und Deutsche, bei mir ist danach eine große Last auf der Seele zurückgeblieben. Sie können meine Vergangenheit nicht verstehen ...“

Fünfte Geschichte – „Ein schwarzer Stempelaufdruck“

Es erinnert sich Rosa Jegorowna Werner

„Ich wurde in dem Dorf Warmburg in eine Arbeiterfamilie hineingeboren, die aus acht Personen bestand. Wir hatten ein gutes Auskommen, Vater und Mutter arbeiteten. Die Mutter war Melkerin, der Vater Schuster.

Es kam das Jahr 1941 – der blutige Krieg begann. Und eines schrecklichen Tages kamen fremde Leute zu uns nach Hause und sagten: „Packt eure Sachen, ihr werden fortgebracht! ...“

Unsere Familie packte einige Sachen und etwas zu essen zusammen, und dann gingen wir zum Bahnhof. Wir ließ uns in einen Zug einsteigen und transporte uns nach Sibirien – in das Dorf Prediwinsk. Dort bekamen wir eine Behausung und Arbeit. Und wir begannen dort genauso zu leben, wie in der Heimat, obwohl es anfangs schwer war, aber später gewöhnten wir uns daran. Es war nur sehr schlimm, daß wur nicht in die Schule gehen konnten (denn wir hatten keine Kleidung), und es mußte ja auch jemand auf die kleinen Kinder aufpassen, während die Mutter auf der Arbeit war. Ich konnte noch nicht einmal mit den anderen Kindern spielen. Mir war es schwer ums Herz, wenn ich anhören mußte, wie sie mich hänselten: „Faschistin! Faschistin!“ Ich versuche, mich an jene Zeit nicht zu erinnern. Sie hat in meinem Gedächtnis einen schwarzen Stempelabdruck hinterlassen ...“

Sechste Geschichte – „Märchen mit Tränen in den Augen“

Es erinnert sich Luisa Kenrikowna Warkentin

„Ich wurde am 23. März 1923 in eine Arbeiterfamilie hineingeboren, die aus 9 Personen bestand. Mutter und Vater arbeiteten in der Kolchose. Und ich zog bereits meine eigenen Kinder groß. Mein Mann arbeitete auch in der Kolchose.

Aber da kam das Jahr des Grauens, des Blutvergießens, des Krieges – das Jahr 1941. Mein Mann und der Vater wurden in den Krieg eingezogen, wo beide bald darauf auch ums Leben kamen.

Und sogleich gong es mit den Repressionen los. Die gesamten Bewohner unseres Dorfes wurden am Bahnhof gesammelt und zu einem Zug gebracht, mit dem man früher Vieh transportiert hatte. Wir fuhren 17 Tage und Nächte, und in dieser Ze8it bekamen wir zwei- oder dreimal zu essen. Aus dem Dorf Friedenkeim (Friedenheim?), Gebiet Saratow (das ist unsere Heimat) brachte man uns nach Krasnojarsk, und von Krasnojarsk mit einem Lastkahn auf dem Jenissej bis zur Ortschaft Juksejewo. Dort mußten wir aussteigen und wurden dann mit Pferden in die verschiedenen Dörfer verteilt. Ich geriet in das Dorf Michajlowka. Man gab uns weder Häuser noch Arbeit, wir fristeten ein Nomadendasein. Bis heute erinnere ich mich an die russischen Menschen und bin ihnen dankbar, die mir geholfen haben zu überleben. Sie hatten Mitleid mit mir, denn ich trug doch auf meinen Armen ein sechs Monate altes Mädchen. So konnte ich auch keine Ausbildung machen, ich hatte ja kein Geld, sondern zog sogar meine allerletzte Kleidung aus, damit mir die Leute nur ein paar Kartoffeln dafür gaben. Es war eine schlimme Zeit, aber es ist gut, daß jenes schreckliche Märchen ein Ende gefunden hat“.

Siebte Geschichte – „Wir sind alle Menschen“

Es erinnert sich Anton Liberechtowitsch (Leberecht?) Ritter

„Ich wurde am 26. Februar 1923 an der Wolga, im Gebiet Saratow, geboren. Meine Familie bestand aus acht Personen, wir lebten in sehr armen Verhältnissen. Ich ging damals nicht zur Schule; ab meinem zehnten Lebensjahr mußte ich arbeiten, zu jener Zeit hütete ich 100 Stück Vieh. Meine Eltern arbeiteten beide auf dem Mähdrescher, und auf dem Feld säten und ernteten sie. Einige Jahre später, als ich herangewachsen war, setzten sie mich auf den Mähdrescher. Als ich einmal damit bei der Arbeit war, kam ein Auto angefahren, und ich wurde verhaftet. Ich wußte nicht wohin und weshalb ich fortgebracht wurde. Es stellte sich heraus, daß zu dieser Zeit auch die Repressionen begannen. Es ist nur ein Glück, daß ich wieder auf meine Eltern stieß. Man ließ uns in einen Waggon einsteigen und brachte uns auf dem Weg nach Nirgendwo fort. Ich fragte den vater: „Wohin bringen sie uns?“, aber der Vater antwortete: „Offensichtlich muß es wohl so sein, Söhnchen“. An jedem Zughalt bekamen wir zu essen, ein- bis zweimal innerhalb von 24 Stunden. Sie gaben uns Suppe, Brot und Wasser, und davon ernährten wir uns eben.

Damals war bereits der Krieg ausgebrochen. Mit einem Zug transportierten sie uns nach Krasnojarsk. 1942 wurde ich zur Arbeit in die Trudarmee eingezogen – in den Norden. Dort hielten sie uns gut. Na ja, wenn du alle Arbeit schaffst, die sie für dich festgelegt haben, dann bekommst du auch deinen Laib Brot, und wenn nicht, dann geben sie dir eben keins. 1946 wurde ich freigelassen und ging nach Krasnojarsk.

Natürlich ist es schlecht, daß sie uns aus der Heimat weggeholt haben, denn dort sind unser Haus, unsere Wirtschaft und vieles andere zurückgeblieben. Nun, und die Leute, die uns verhaftet haben, sind doch Menschen wie wir, sie haben auch nur die Befehle ausgeführt, die man ihnen gab“.

Achte Geschichte – „Das unbekannte Wort – Faschist“

Es erinnert sich Maria Filippowna Schitz (Schütz?)

„ Ich wurde in eine deutsche Arbeiterfamilie hineingeboren, die in der Region Saratow lebte, und habe bis heute nicht den Grund für die Repressionen begriffen. All diese Ereignisse sind mir bis auf den heutigen Tag im Gedächtnis haften geblieben. Ich weiß noch, wie man uns mit einem Zug aus dem Wolgagebiet nach Krasnojarsk brachte. Und von Krasnojarsk wurden wir mit einem Lastkahn nach Juksejewo übergesetzt, von wo aus wir in verschiedene Dörfer verteilt wurden. Unsere Familie kam in das Dorf Krutaja. In Krutaja bekam unsere Familie weder eine Behausung, noch Kleidung oder Essen. Wir konnten nicht in die Schule gehen, die Mutter war gezwungen, in der Kolchose zu arbeiten, und die Kinder, darunter auch ich, arbeiteten bei fremden (wohlhabenden) Leuten – als Hausangestellte. Die Ortsbewohner verspotteten und beschimpften uns (als Deutsche und Faschisten), obwohl wir überhaupt nicht verstanden, warum sie uns so nannten, wir wußten ja noch nicht einmal, was das Wort Faschist bedeutet. Ich möchte mich gar nicht mehr an all das erinnern, denn schließlich gab es damals nichts Gutes“.

Neunte Geschichte – „Bärlauch, Brennesseln und Türkenbund-Lilien“

Es erinnert sich Elisabeta Alexandrowna Strischak

„Ich wurde in der Region Saratow geboren und lebte dort auch eine Zeit lang. Unsere Familie lebte im Wohlstand, der Vater arbeitete in der Kolchose, und wir gingen zur Schule. Aber dann, an einem Tag im Jahre 1941, kamen Milizionäre zu uns nach Hause und sagten: „Wir bringen sie fort“, aber wohin und warum – das erklärte man uns nicht. In aller Eile begannen wir irgendwelche Sachen in die Koffer zu packen und stellten sie innerhalb der Umzäunung auf. Als wir in den Wagenkasten des Fahrzeugs krochen, sagten sie uns, daß im Auto kein Platz für unser Gepäck wäre und daß sie es uns später nachbringen würden. Aber wir haben keinen unsere Koffer jemals wiedergesehen. Sie fuhren uns zum Bahnhof, wo wir später in einen Güterwaggon einsteigenmußten. Darin fuhren wir 17 Tage und Nächte, zusammen mit anderen Leuten und mit Vieh. In dieser Zeit aßen wir praktisch nichts. Man transportierte uns nach Krasnojarsk, von wo aus wir mit einem Lastkahn in die Ortschaft Juksejewo übergesetzt wurden, und von da aus weitermit Pferden in das Dorf Krutaja. In dem Dorf gab man uns einen verkommenen Pferdestall als Behausung, unser sogenanntes Haus. Die Mutter konnte nicht arbeiten (sie ist Invalidin 1.Grades), die älteste Schwester bekam Arbeit auf der Farm. Für unser Essen sorgten wir selbst, wir aßen Bärlauch, Brennesseln, Türkenbund-Lilien. Um etwas Eßbares und Brennholz zu beschaffen, mußten wir jeweils 6 Kilometer hin und zurück gehen, das Brennholz trugen wir in den Armen. Von Haus zu Haus gingen wir und bettelten um Essen (Kartoffeln, Brot). Nach wenigen Jahren zogen wir bereits in die Siedlung Bolschaja Murta um. Hier hatten wir dann gleich unser Haus, und man gab uns einen mit Unkraut überwucherten Gemüsegarten von 25 Hektar. Und diesen Garten haben wir alle zusammen mit bloßen Händen umgegraben. Als die ersten Kartoffelpflanzen wuchsen, wurde das Leben etwas leichter. Zu dieser Zeit wurde ich gerade 18 Jahre alt und bekam eine Arbeit im Krankenhaus (Wäsche bügeln), wo ich dann insgesamt auch 45 Jahre tätig war. Die Russen verhielten sich mir gegenüber mit Respekt, und bis zum heutigen Tag betrete ich ein Krankenhaus immer so, als wäre es mein Vaterhaus. Das, was ich durchgemacht habe, wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht“.

Zehnte Geschichte – „Mit der Zeit heilen die Wunden“

Es erinnert sich Alexander Petrowitsch Schanko

„Ich lebte in der Ortschaft Schadenfeld, Kreis Seelmann, Gebiet Saratow. Mein Vater arbeitete als Drechsler, die Mutter war Hausfrau. Inn unserer Familie gab es ver Kinder. Im Jahre 1941 mußten wir in einen Viehwaggon einsteigen und wurden in den Norden abtransportiert. Dort im Norden fuhren wir durch alle Dörfer, lebten in Makruscha; später gerieten wir in den bolschemurtinsker Kreis. Ich erinnere mich, daß sie mir nicht erlaubten, auf die Straße hinauszugehen. Die Kinder beschimpften mich als Faschisten, und die Eltern mußten sich jeden Monat einmal in der Kommandantur melden und registrieren lassen. Wir hatten Angst, irgendein überflüssiges Wort auszusprechen. Wir konnten nicht begreifen, weshalb wir so leiden mußten. Lange trug ich Gram in meinem Herzen, aber mit der Zeit ist alles vernarbt, die Wunden sind verheilt, und ich hege keinen Groll wegen meiner schrecklichen Kindheit“.

Elfte Geschichte – „Die Bewältigung der Zeit“

Es erinnert sich Samuel Andrejewitsch Leiman(n)

„ Geboren wurde ich in der Ortschaft Gisenburg, im Gebiet Saratow. Mein Vater ging eines Tages fort, um eine wichtige Angelegenheit zu erledigen, und kam nicht mehr zurück. Zu Beginn des Krieges wurden wir nach Sibirien geschickt. Die Fahrt war sehr schwierig, mühsam und qualvoll, in einem Viehwaggon hatten sie uns gesteckt. Dann kamen wir auf einen Dampfer zum, Schluß ging es mit Pferden weiter. Anfangs lebten wir in irgendwelchen Kellerräumen, Mama arbeitete als Badewärterin. Wir hatten es nicht leicht, denn wir konnten nur unsere Muttersprache – Deutsch, daher verstanden uns die Russen nicht, aber im Laufe der Zeit, nachdem wir die russische Sprache erlernt hatten, wurde das Leben für uns ein wenig leichter. Ich lernte und arbeitete mein ganzes Leben lang als Fahrer. Jene Zeit damals war weder gut noch schlecht – die Zeit war eben einfach so, was sollte man da schon machen? Wir haben haben unter diesen grausamen Bedingungen überlebt und wurden Menschen“.

Zwölfte Geschichte – „Barmherzigkeit“

Es erinnert sich Iwan Fedorowitsch Frisorger (Früsorger)

„Ich wurde in der Region Saratow, in der Ortschaft Blumenfeld geboren. Als wir nach Sibirien kamen, lebten wir zuerst in dem Ort Nowonikolskij, später zogen wir nach Bolschaja Murta um. Bald darauf starb unsere Mutter, den Vater holten sie in die Arbeitsarmee, wir blieben zu dritt zurück. Alle halfen uns, so gut sie es vermochten. Eine russische Frau, sie hatte selbst vier Kinder, und ihr Mann war an der Front gefallen, fütterte uns ein ganzes Jahr lang durch, brachte Kleidung – und wir standen in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinander. Dennoch blieben nach jener Zeit in der Seele Schmerzen, Bitterkeit und Bedauern zurück. Damals schien es uns so, als ob es eine hoffnungslose Zeit war“.

Dreizehnte Geschichte – „Das Schicksal hat keine Nationalität“

Es erinnert sich Elja (Ella) Jakowlewna Tise (Thieße)

„Mein Vater arbeitete auf dem Traktor, die Mutter brachte auf den Feldern die Ernte ein. In unserer Familie waren drei Kinder. Aus der Region Saratow kamen wir zuerst mit einem Zug, dann mit einem Lastkahn auf dem Jenisej nach Juksejewo. Unser Leben war einfach ein Alptraum! Sie gaben uns keine Kartoffeln, Brot und KLeidung gab es nicht. Zur Schule gehen konnten wir nicht, weil wir überhaupt keine Sachen zum Anziehen hatten – ich kann noch nicht einmal Lesen und Schreiben. Mein Vater holten sie 1941 in die Arbeitsarmee, danach sahen wir ihn nie wieder. In der Heimat haben wir natürlich besser gelebt. Ich bin niemandem böse, man muß sich doch wie ein Mensch verhalten: gut, verantwortungsbewußt, höflich und aufrichtig – dann wird man sich auch dir gegenüber wie ein Mensch verhalten, das ist nicht von der Nationalität abhängig. Ich bin schon 40 Jahre lang mit einer russischen Lehrerin befreundet. Ihre Familie wurde auch 1937 repressiert, und sie haben ebenfalls sehr gelitten. Viele hatten in jener Zeit ein schweres Los zu tragen, unabhängig von ihrer Nationalität – das haben wir begriffen“.

Vierzehnte Geschichte – „Alles vergessen“

Es erinnert sich Andrej Iwanowitsch Aisner (Eisner?)

„Ich wurde in der Ortschaft Arboitofeld (Arbeiterfeld!) an der Wolga geboren, wir waren sechs Kinder, die Eltern waren einfache Arbeiter. Als wir in Sibirien ankamen, in Bolschaja Murta, da begann das Elend. Wir wurden in einem hohen Maße gedemütigt. Man erlaubte uns nicht, auf den Basar zu gehen; sie fingen uns dort ein und steckten uns für fünf Tage und Nächte in einen Käfig. Sie haben uns so sehr erniedrigt, daß sie mir einmal sogar ins Gesicht spuckten. Aber an jene Zeit denke ich nie zurück, bis zu einem solchen Punkt ist alles vergessen, es lohnt nicht, sich daran zu erinnern – in so eine Situation hat man uns gebracht“.

Fünfzehnte Geschichte – „Hier ist meine Heimat“

Es erinnert sich Alexander Andrejewitsch Rau

„Meine Eltern waren Arbeiter, der Vater – Schmied, und die Mutter – Gehilfin des Hammerschmieds. Unsere Familie bestand aus sieben Mitgliedern. Im Jahre 1957 ging ich zur Armee, erwarb mir dort Achtung und Ehre und fand viele Freunde. Ich führte ein gutes Leben, wenngleich man mich gelegentlich auch als Faschisten bezeichnete: „Seht mal, da geht ja noch so ein Faschist“. Ich fühlte mich nicht gekränkt, denn in jeder beliebigen Nation gibt es unkultivierte Menschen. Ich habe viele Freunde unter den Russen, und ich liebe Rußland, hier ist meine Heimat, alle haben doch nur eine Mutter Erde – Gott hat sie uns gegeben“.

Epilog

Die Kinder und Enkelkinder der alten Deutschen kehren massenhaft in die historische Heimat zurück, während die alten Leute hierbleiben ... auf der fremden, und doch so vertraut gewordenen Erde, auf der sich ihr Leben zugetragen hat. Ein Leben, gleichermaßen erfüllt von für die Menschheit so unabdingbaren Erfahrungswerten, wie auch reich an leidvollen Geschehnissen, die einen dazu zwingen, vieles anders zu bewerten. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die alten Deutschen nicht so sehr nach Komfort und Wohlstand streben ... Hinter ihnen liegen bittere Schicksale, in ihren Augen stehen die Tränen der Geschichte, ihre Herzen sind in der Erinnerung gefangen. Im übrigen kennen die Fehler der Geschichte keine Nationalitäten. All das wird heute von den Gipfeln der Lebenserfahrung und der Lebensweisheit aus verständlich, nachdem so viele Jahre verstrichen sind, wenn das Vergangene bereits leichter in Vergessenheit gerät und man verzeiht. Die Zeit hat ihren schwarzen Abdruck hinterlassen, aber sie sind auf dieser Erde sie selbst geblieben, einfach deshalb, weil die Welt nichts Fremdes sein kann, denn für alle Menschen gibt es nur diese eine Welt. Ein schreckliches Märchen ist zuende gegangen.

Kommentare aus geschichtsforschender Sicht

Geschichtliches Forschungsprojekt „Die Umsiedlung und die Besonderheiten des sozialen Anpassungsvermögens der Rußland-Deutschen, die während des Großen Vaterländischen Krieges aus der Wolgaregion deportiert wurden“.

Ziel der Forschungsarbeit: die Aufdeckung der Besonderheiten der Umsiedlung und die soziale Anpassung der während der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges in den Landkreis Bolschaja Murta deportierten .Rußland-Deutschen.

Aktualität der Forschungsarbeit: das Problem der Rußland- Deutschen, die von der Wolga nach Sibirien deportiert wurden, ist bis heute ungeklärt, sowohl im Hinblick auf die Geschichtsforschung, als auch aus sozialer Sicht. Bekannt sind einige wenige Materialien der Geschichtsforschung, die dem hier vorliegenden Problem gewidmet sind. Die entsprechende Problematik stellt sich als ein Bereich der Heimatkunde-Forschung in den Regionen und Landkreisen dar, in denen die deutsche Bevölkerung in großer Anzahl vertreten ist. Um so mehr ist es heute, da die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland sich auf der Achse der „Übereinstimmung und Versöhnung“ entwickeln, unabdingbar, die Aufmerksamkeit in ausreichendem Maße auf die Geschichte der Rußland-Deutschen in Rußland zu richten. Im Bolschemurtinsker Landkreis macht die deutsche Bevölkerung 4,8% aus, und mit der Geschichte ihrer Umsiedlung und Anpassung inmitten der russischen Bevölkerung des Bolschemurtinsker Landkreises hat sich früher niemand befaßt.

Forschungsaufgaben:

1. Studium der historischen Forschungsmaterialien, die dem Problem der Deportation der Rußland-Deutschen von der Wolga im Jahre 1941 gewidmet sind.

2. Studium der statistischen sowie Archiv-Dokumente über die Rußland-Deutschen des Bolschemurtinsker Landkreises, zahlenmäßige Erfassung, soziale Merkmale.

3. Das Aufsuchen und Befragen von Zeugen der rußlanddeutschen Deportation.

4. Analyse und Zusammenfassung der Zeugenaussagen der aus dem Wolgagebiet deportierten Rußland-Deutschen zur Thematik:

Untersuchungsmethoden: Problemsuche (Studieren von heimatkundlicher Literatur und Dokumenten), Unterredungen, Fragebogenaktion, Analysieren und Zusammenfassen von Fakten.

Abschließendes Ergebnis des Forschungsprojektes: Zeugenberichte, Fakten und Zusammenfassungen über die Deportation der Rußland-Deutschen im Bolschemurtinsker Landkreis, aufgezeigt anhand von Forschungskommentaren, Artikeln, philosophisch-künstlerischer Aufarbeitungen.

Teilnehmer des Projektes: Mitglieder des Schul-Heimatkundeklubs, die Schülerinnen der Klasse 10B – Katja Gudkowa, Tatjana Dorogaja, Oksana Schujkowa, Anna Slastnych. Projektleiter: Denis Alexandrowitsch Krasnow, Geschichtslehrer an der bolschemurtynsker allgemeinbildenden Mittelschule No. 3.

Forschungsmaterialien:

  1. Ausgaben von „Die Krasnojarsker Region in der Geschichte des Vaterlandes“, 1996
  2. Materialien der Gesellschaft der Rußland-Deutschen „Wiedergeburt“
  3. Jenisejsker enzyklopädisches Wörterbuch, 1998
  4. Materialien der Internetseite von „Memorial“
  5. Statistische sowie Archiv-Dokumente des bolschemurtynsker Landkreises
  6. Fragebogen der befragten Zeugen (s. Anlage)

Das Projekt wurde im Oktober 2003 von der Teilnehmergruppe, den Mitgliedern des Schul-Heimatkundeclubs „Istotschnik“ („Quelle“; Anm. d. Übers.), zusammen mit dem Projektleiter D.A. Krasnow ausgearbeitet.

Anhang

Fragebogen der befragten Zeugen

  1. Nachname, Vorname, Vatersname
  2. Geburtsdatum und Geburtsort
  3. Soziale Stellung, Beruf
  4. In was für eine Familie wurden sie hineingeboren?
  5. Anzahl der Familienmitglieder, sozialer Status?
  6. Wissen Sie, weshalb Sie repressiert wurden? Besitzen Sie noch irgendwelche Dokumente?
  7. Wie ging die Deportation vor sich?
  8. Wohin wurden Sie gebracht? Wie kamen Sie am neuen Wohnort unter?
  9. Wie verhielten sich die Ortsbewohner Ihnen gegenüber? Welche Wechselbeziehungen gab es mit anderen Pepressionsopfern?
  10. Wie denken Sie heute über jene Zeit?
  11. Besitzen Sie irgendwelche Bescheinigungen oder andere Dokumente, Fotografien?

Forschungsablauf

Im Laufe der heimatkundlichen Untersuchungen wurde anhand des durchgearbeiteten Materials festgestellt, daß die vollständige Deportation der Wolgadeutschen aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen aufgrund des Stalin-Erlasses vom 28. August 1941 im September 1941 durchgeführt wurde. Die Aussiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet geschah auf besondere Anordnung J.W. Stalins vom 28. August 1941, in der behauptet wurde, daß „die deutsche Bevölkerung in den Wolga-Landkreisen in ihrer Mitte Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht versteckt hielt. Daher sind die Deutschen nach Sibirien und Kasachstan umzusiedeln“.

Wie bekannt, gab es jedoch nach dem Krieg in den Dokumenten des Dritten Reiches nicht einen einzigen Hinweis auf Kontakte der Sowjet-Deutschen mit den Hitlerleuten. 1941 wurden 1,2 Millionen Deutsche repressiert und die Autonome Republik der Wolgadeutschen liquidiert.

„Die Mehrheit der verbannten Wolgadeutschen wurde in Kolchosen untergebracht. Im Herbst 1941 und im Januar 1942 fing man an, alle Männer, außer alte und Invaliden, in die „Arbeitsarmee“ zu jagen – hauptsächlich zur Holzfällerei in die Lagerzonen des KrasLag, WjatLag und UsolLag, sowie in die Kohlegruben des Kusbas (Kusnezker Kohlebecken; Anm. d. Übers.). Im Sommer 1942 zwang man alle Frauen, mit Ausnahme derer, die viele Kinder hatten oder noch halbwüchsig waren, zum Fischfang in den Norden: nach Igarka, in die kleinen Ansiedlungen des Turuchansker Landkreises, nach Ewenkien, auf die Halbinsel Tajmyr und auch an die Angara. Im Jahre 1943 trieben sie dann auch die Halbwüchsigen in die „Arbeitsarmee“, aber diesmal kamen sie in erster Linie auf die Erdöl- und Erdgasfelder des Süd-Ural. 1946-1947 wurden von allen erwachsenen wolgadeutschen Verbannten beim NKWD „persönliche Verbannten-Akten“ geführt. Die Verbannten aus der ASSR der Wolgadeutschen wurden (ebenso wie alle anderen Verbannten, die als Deutsche galten) im Februar – März 1956 aus der Verbannung freigelassen, jedoch „ohne das Recht auf Rückkehr“ in die Heimat. Die Frage der Wiederherstellung der territorialen Autonomie der Wolgadeutschen ist bis heute ungeklärt, trotz des Gesetzes über die Wiederherstellung der Rechte der repressierten Völker. Es existiert die Meinung, daß, so lange nicht alle Rechte der Genozidopfer wiederhergestellt sind, die Verweigerung ihrer Wiederherstellung als Fortsetzung dieses Genozids angesehen werden kann“ (laut Materialien der Internetseite der krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“).

 

Im Laufe der Arbeit mit den zeugen und Teilnehmern der Deportation wurden 28 Personen im Alter von 66 bis 86 Jahren befragt. Über diese Befragungen wurden entsprechende Protokolle angefertigt.

Forschungsergebnisse

Faktische Zeugnisse:

- Von den Rußland-Deutschen, die unmittelbar im Jahre 1941 deportiert wurden und in Bolschaja Murta lebten, konnten 28 Personen ausfindig gemacht und befragt werden.

- Alle 28 Repressierten deutscher Nationalität stammen aus dem Wolgagebiet: aus dem Gebiet Saratow, den Landkreisen Gmelin, Seelmann, Engels.

- Alle Repressionsopfer stammten aus einfachen Arbeiter- und Angestelltenfamilien (Melkerinnen, Schuster, Kolchosarbeiter, Schmiede, Tischler, Bauern).

- Fast alle Befragten sagten aus, daß die Repressionsmaßnahmen völlig unerwartet in der Nacht stattfanden, ohne jegliche Vorankündigung oder Erklärungen, und zum Packen ließ man ihnen 10-20 Minuten Zeit, und auch dann gab man keinerlei Erklärungen ab. Mitunter wurden sämtliche Bewohner eines Dorfes abgeholt und zum Bahnhof getrieben.

- Nach Aussagen der Befragten, war der Weg nach Sibirien äußerst schwierig, es gab nicht genug zu essen, die Menschen erkrankten unterwegs und starben. Sie wurden alle in Güter- oder Viehwaggons transportiert, dann auf Lastkähnen und mit Pferden. !-2 mal am Tag gab man ihnen zu essen. Während der Fahrt spielten sich tragische Situationen ab: häufig gingen Kinder veloren. Die Fahrt dauerte sehr lange, 15-17 Tage und Nächte.

- Alle Repressionsopfer wurden mit Güterwagen nach Sibirien gebracht, und dann weiter mit Lastkähnen in den bolschemurtynsker Landreis. Oft führten die Verbannten ein Nomadendasein; sie zogen von einem Dorf ins nächste und konnten lange Zeit keinen festen Wohnsitz für sich finden. Das Zentrum für die Ankunft der Repressierten war die Siedlung Pridiwinsk.

- Nach der Ankunft im bolschemurtynsker Landkreis wurden die Verbannten mit Pferden in die verschiedenen Dörfer gebracht. Von den Wolgadeustchen wurden Ortschaften wie Bolschaja Murta, Pridiwinsk, Juksejewo, Michajlowka, das Dorf Krutoj besiedelt. An ihren neuen Wohnorten wurden sie unter Bedingungen untergebracht, die für Familien-Behausungen gänzlich ungeeignet waren, zum Beispiel, in Pferdeställen, Kellerräumen – und wenn sie in Häuser eingewiesen wurden, dann immer mit viel zu vielen anderen Menschen: grundsätzliche mehrere Familien zusammen. Die Männer wurden in die Arbeitsarmee geschickt, die Frauen zum Fischfang.

- Im Hinblick auf die damaligen Beziehungen zu den Ortsbewohnern haben die Repressionsopfer unterschiedliche Erinnerungen. Es ist aber offensichtlich, daß die Beziehungen zur ortsansässigen Bevölkerung sich nicht gerade leicht gestaltete. Einige Bewohner halfen ihnen und versorgten die verelendeten Umsiedler, zusätzlich mit Lebensmitteln, andere nannten sie Faschisten, spuckten sie an und verprügelten sie. Außerdem störte die Sprachbarriere die Annäherung zwischen Ortsbewohnern und Verbannten, die Mehrheit der Deutschen war der russischen Sprache nicht mächtig. In den ersten Jahren besaß die verbannte deutsche Einwohnerschaft den Status verarmter Randgruppen und ungelernter Arbeiter.

- In der Folge verlief die soziale Anpassung der verbannten Deutschen erfolgreicher, sie fingen an, die russische Sprache zu beherrschen, fand bald Arbeit, erlernten einfache Arbeiterberufe: Wäscherin, Techniken des Tischlerns, Schmied, Fahrer, Näherin; sie gründeten Familien (darunter auch mit Russen), bauten Häuser.

- Heute denken die Repressionsopfer an die Vergangenheit zurück wie an einen schrecklichen Alptraum. Alle, die uns ihre Geschichte erzählten, haben geweint. Aber jetzt nehmen viele von ihnen eine weise, philosophische Haltung gegenüber der damaligen Zeit ein – das erkennt man an dem Verständnis für die historische Situation.

- Als Resultat der Befragungen wurden echte Dokumente entdeckt, die den Status der Zeugen als Repressionsopfer bestätigen. Aber leider wurden praktisch keine dokumentarischen Zeugnisse und Fotografien aus der Vergangenheit über die Deportation der deutschen Bevölkerung gefunden.

Endergebnis der Analysen

- Nachdem die Heimatkunde-Gruppe die historische Situation der Deportation der Deutschen aus dem Wolgagebiet am Beispiel des bolschemurtynsker Landkreises analysiert und sie auch unter politischen und sozialen Aspekten genau betrachtet hatte, zog sie folgende Schlußfolgerungen:

- Die Deportation der deutschen Bevölkerung im Jahre 1941 – ist eine weiterer von vielen ungeheuerlichen Fehlern der Geschichte beim Experimentieren einer totalitären Macht mit menschlichen Schicksalen.

- Die totalitäre Macht, die keinerlei Grundlage und Beweise besaß, die befahl die deutsche Autonomie zu vernichten und ihre Bevölkerung nach Siberien zu deportieren, wo sie mitten unter Russen leben sollten, provozierte damit eine kritische Situation in den Beziehungen zwischen dem russischen Volk und der deutschen Bevölkerung.

- In einem totalitären System ist es unpassend über ethnische Toleranz zu sprechen, die Gegenüberstellung der Völker und Nationen ist einer der Mechanismen seiner Existenz.

- Die russische Bevölkerung erlitt zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges riesige und sehr tragische Verluste, jegliche Moralvorstellungen wurden unterdrückt, und die Wörter Deutscher und Faschist waren praktisch Synonyme. Daher gab es unter der russischen Bevölkerung tatsächlich eine unversöhnliche Einstellung gegenüber den Deutschen. Nichtsdestoweniger, wie einzelne Fakten belegen, gewann die Menschlichkeit der russischen Menschen die Oberhand über das ideologische System, was die Voraussetzung für eine Versöhnung der Nationen in der Zukunft schuf.

- Die Rußland-Deutschen haben sich in dieser tragischen Situation als standhafte Nation erwiesen, die fähig ist, sich schnell anzupassen und zu überleben – Dank solcher Eigenschaften wie Geduld, Fleiß, Loyalität und Verständnis.

- In der gegenwärtigen Situation überwiegen in den Beziehungen zwischen Russen und Deutschen positive Tendenzen im Hinblick auf Toleranz und das Verstehen der historischen Gründe für die vorgefallenen Geschehnisse.

Die Forschungsgruppe setzt ihre Untersuchungen zum Problem der sozio-kulturellen Anpassung der deportierten Wolga-Deutschen fort, studiert den Einfluß der deutschen Kultur auf die Kultur der Bewohner des bolschemurtynsker Landkreises.


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