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Politische Repressionen im Pirowsker Bezirk

Wir, Ksenia Ibe, Tatjana Tyschko, Tatjana Medwedewa und Oksana Nikolajewa, Schülerinnen der 11. Klasse, haben ein Forschungsprojekt zum Thema „Politische Repressionen im Pirowsker Bezirk“ durchgeführt. Bevor wir mit dieser Arbeit überhaupt anfangen konnten, mußten wir in Erfahrung bringen, wie die Deportationen in die Region Krasnojarsk damals vor sich gingen. Und wir mußten feststellen, daß praktisch keine Angaben über die Deportationen in den Pirowsker Bezirk vorliegen. Jedoch gibt es sehr viele Repressionsopfer in diesem Bezirk. Wir baten die Sozialbehörde um eine Liste der im Pirowsker Bezirk lebenden Personen. Wir teilten uns in zwei Gruppen zu jeweils zwei Personen auf. Später führten wir anhand der Listen eine Befragung unter der repressierten Bevölkerung der älteren Generation durch und erfuhren auf diese Weise, wie ihre Familien die Verfolgungen und Deportation erlebten, was in dieser Zeit mit ihnen passierte und wie dies geschah. Die Liste enthielt sehr viele Namen, und es war uns unmöglich, alle zu befragen. Deswegen wird die Arbeit an diesem Projekt auf jeden Fall von Schülern unserer Schule fortgesetzt.

Alma Jakowlewna Wagner

Wir begaben uns also zur ersten Adresse und besuchten Alma Jakowlewna Wagner. Alma Jakowlewna beantwortete all unsere Fragen; allerdings fiel ihr die Beantwortung einiger Fragen sehr schwer, da schon so viele Jahre inzwischen vergangen waren. Trotzdem erhielten wir von ihr eine vollständig zusammenhängende Erzählung.

Alma Jakowlewna Wagner wurde am 17. November 1927 in dem Dorf Schulz, Bezirk Krasnojar, Gebiet Saratow, geboren.

Bis zur Deportation bestand die Familie aus sieben Personen. Der Vater arbeitete als Feuerwehrmann auf den Kolchos-Plantagen. Die Arbeitsbedingungen waren sehr schwierig; in der Kolchose wurden Tabak und andere Pflanzen angebaut. Sie hatten eine große Wirtschaft (Kühe, Ferkel, Schäfchen und Hühner), besaßen auch ihr eigenes Haus und einen Gemüsegarten. Und so hatte die Familie ihr gutes Auskommen. Die Steuern bezahlten sie immer rechtzeitig.

Alma Jakowlewnas Familie wurde 1941 deportiert. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Alma Jakowlewnas Vater gerade auf Schicht; man gab ihnen vierundzwanzig Stunden zum Packen. Anschließend brachte man sie zur Bahnstation „Bessmertnaja“ (die „Unsterbliche“; Anm. d. Übers.) und schickten sie mit dem Zug fort. Man erlaubte ihnen nur das Allernotwendigste mitzunehmen: Kleidung, Lebensmittel ... Wie Tiere wurden sie in Viehwaggonsverladen und fortgebracht, aber Gewalt wurden nicht angewendet. Mit dem Zug fuhren sie bis nach Krasnojarsk, wo es für sie einen kurzen Aufenthalt gab. Dann ließ man sie auf einen Lastkahn umsteigen, der sie nach Galanino brachte. Von Galanino gelangten sie auf unterschiedliche Weise nach Pirowsk: zuerst mit Pferden, schließlich zufuß. In Pirowsk traf Alma Jakowlewnas Familie im Herbst ein, am 2. Oktober. Die Familie blieb hier nur für kurze Zeit – insgesamt zwei Wochen, dann zogen sie in das Dorf Katschajewo um. Dort lebten sie in einem Haus, das von insgesamt 8 Familien bewohnt war. Sie gingen freundlich miteinander um, halfen einander so gut sie konnten, Konflikte gab es nicht. Alma Jakowlewna ging nicht zur Schule, denn sie konnte fast überhaupt kein Russisch. Zu der Zeit war sie gerade 13 Jahre alt.

Bald darauf ging Alma Jakowlewna zum Arbeiten in die Kolchose. Dort gab es für sie keinen Grund zur Klage; die Kollegen verhielten sich ihr gegenüber gut, „wir verdienten so viel, wie wir gearbeitet hatten“.

Aus der Sonderansiedlung wurden Alma Jakowlewna und ihre Familie am 1. Februar 1956 entlassen. Danach änderte sich an ihrem Leben absolut nichts. An Tode Stalins zeigten alle ihre Anteilnahme, aber nichts änderte sich; „so wie wir zuvor gelebt hatten, blieb es auch weiterhin“.

Alma Jakowlewna hatte keinerlei Beziehung zur kommunistischen Partei.

Alma Jakowlewna wahrte alle Traditionen, und sie vergaß auch die nationalen Speisen nicht. Sie hält Verbindung mit der Heimat, dort sind ihre Schwester und die meisten Freundinnen geblieben, aber trotz allem hält Alma Jakowlewna sich für eine Russin, weil sie eben so viele Jahre in Rußland gelebt hat.

Das also ist die geschichte von Alma Jakowlewna. Leider hat sie aus jener Zeit keine Fotos mehr, was bei so vielen Umzügen ja auch nicht verwunderlich ist. Wir bedankten uns bei ihr und machten uns auf den Weg zur nächsten Adresse.

Nina Ottowna Wachruschewa

Die nächste Person, die wir befragten, war Nina Ottowna Wachruschewa, die uns nicht besonders gut weiterhelfen konnte, denn zu der Zeit war sie noch gar nicht geboren; sie konnte sich jedoch an einige Erzählungen von verwandten erinnern und war gern bereit, uns darüber zu berichten.

Nina Ottowna Bachruschewa wurde am 25. November 1951 in der Ortschaft Pirowskoje geboren.

Die Familie bestand aus ihren Schwestern, Mutter, Vater und einer Oma. Die Schwestern waren noch im Kindesalter; deswegen brauchten sie noch nicht arbeiten. Die Mutter arbeitete ab dem 14. Lebensjahr auf Kolchosfeldern. Die Arbeit war schwer. Sie lebten an der Wolga. In Barnaul ließen sie die Großmutter zurück. Sie hatten eine kleine Wirtschaft: Kühe, Schafe – es reichte kaum, um die Familie zu ernähren.

1941 wurden Nina Ottownas Eltern deportiert; man erlaubte ihnen nur, das Allerwichtigste mitzunehmen; zum Packen der Sachen gab man ihnen achtundvierzig Stunden Zeit. Dann versammelten sie die Menge und transportierten sie in Viehwaggons nach krasnojarsk. Die Menschen weinten, aber sie wunderten sich, daß es keinerlei flegelhaftes Benehmen gab, sogar die Häuser wurden nicht durchsucht. Und so kamen die Deportierten mit dem Zug in Krasnojarsk an, von wo aus sie mit Pferden nach Galanino gebracht wurden. Im September wurden die Bachruschews in Pirowsk angesiedelt. Sie hoben selber eine Erdhütte aus, und darin lebten sie dann mehrere Jahre. Nina Ottowna erblickte das Licht der Welt, und bald darauf zog die Familie nach Belsk um. 1959 kam Nina Ottowna in die Schule; sie lernte ziemlich gut, obwohl sie von ihren Klassenkameraden verspottet wurde, aber es war zu ertragen. Von 10 Klassen beendete Nina Ottowna 8, danach lernte sie in der Kooperative für Alltagsdienstleistungen den Beruf der Näherin. Ihre Lehrzeit verlief normal. Nina Ottowna hatte eine gewissenhafte und fleißige Einstellung zum Lernen und Arbeiten.

Nach der Entlassung aus der Sonderansiedlung wurde das Leben ein wenig freier, endlich durfte man seinen Wohnort verlassen.

Stalins Tod berührte die Wachruschews nicht; so wie sie bisher gelebt hatten, lebten sie auch weiterhin, es änderte sich nichts. Von der KPdSU waren sie positiv eingenommen.

Sie wahrten die Traditionen, die sie damals kannten. Nina Ottowna hält sich für eine Russin, deswegen hält sie an den russischen Traditionen fest.

Dies also berichtete uns Nina Ottowna. Das war alles, was sie uns erzählen konnte. Wir dankten ihr für das Gespräch und begaben uns zur nächsten Adresse.

Jekaterina (Katharina) Dawydowna Saidenzal (Seidenzahl)

Hier trafen wir Jekaterina Dawydowna Saidenzal an. Sie freute sich über unseren Besuch. Sie war gern bereit, uns ihre Geschichte zu erzählen.

Jekaterina Dawydowna Saidenzal wurde am 7. November 1927 im Dorf Alt-Urbach, Bezirk Krasnojar, geboren.

Vor der Deportation bestand die Familie aus 3 Schwestern, 2 Brüdern und den Eltern. Die Mutter arbeitete auf den Kolchos-Plantagen, der Vater war als Sekretär beim Dorfrat angestellt. Sie arbeiteten sehr viel. Sie besaßen auch eine große Wirtschaft: Kühe, Ferkel, Hühner, Ziegen. Das reichte kaum aus, um die Familie durchzubringen, denn jeden Monat musten sie an den Staat Naturalien-Steuern zahlen: 46 Kilogramm Fleisch und 210 Liter Milch, und kein Mensch machte sich Gedanken darüber, woher sie die nehmen sollten und daß es in der Familie fünf Kinder zu versorgen gab.

Von der geplanten Deportation der Familie erfuhren sie am 13. September 1941. Der Befehl dazu kam aus Moskau. Sie wurden sofort verschleppt; man war der Meinung, daß sie für Hitler eingenommen waren. Zum Packen gab man ihnen 12 Tage Zeit, nur das Allernötigste gestattete man ihnen mitzunehmen. Aber sie durften sogar ein Pferd bei sich haben. Die Organisatoren benahmen sich gegenüber den Deportierten recht beherrscht, es gab von Seiten der Bevölkerung diesbezüglich kleine Klagen. Die Häuser wurden nicht durchsucht, niemand benahm sich flegelhaft, es gab keine Tätlichkeiten.

Sie hatten einen weiten Weg vor sich – die 35 km bis zur Bahnstation mußten sie zufuß gehen, aber einige hatten auch Pferde dabei; die Leute hatten Achtung voreinander und tauschten die Pferde untereinander aus. Nach der Banhfahrt waren alle noch genau 16 Tage mit Pferden unterwegs. Das war die Strecke bis nach Krasnojarsk. Von dort bis nach Galanino fuhren sie noch einmal 16 Tage ohne Umsteigen. Jekaterina Dawydowna fügt noch hinzu, daß es, als sie mit dem Zug fuhren, unheimlich kalt war, aber man gab ihnen wenigstens zu essen. Zwischendurch gab es keinen Aufenthalt, und es wurden auch keine neuen Passagiere aufgenommen.

Am 4. Oktober traf die Familie in Pirowskoje ein. Es gab keine Unterkunft, aber gute Menschen nahmen sie bei sich auf. Die Lebensbedingungen waren einfach schrecklich – es war kalt, sie hungerten und man verhielt sich ihnen gegenüber schlecht, denn sie wurden von allen für Faschisten gehalten. Ständig mußten sie Beleidigungen und Kränkungen erdulden. Aber es gab noch ein Problem: fast die gesamte Familie Jekaterina Dawydownas konnte kein Russisch, und das war ein weiterer Anlaß sich über sie lustig zu machen. 1941 gingen sie zur Schule, im Unterricht kamen sie gut mit. Als Jekaterina Dawydowna die 6. Klasse beendete, war sie 14 Jahre alt. Mit 16 Jahren arbeitete sie bei der Kreisgenossenschaft für Massenbedarfsgüter; dort wurde Holz gesägt. Sie arbeiteten für nichts weiter, als für ein „Dankeschön“, aber sie verrichteten ihre Aufgaben stets sorgfältig und verantwortungsbewußt.

Von ihrer Freilassung aus der Sonderansiedlung erfuhren sie durch einen Befehl des Allerobersten aus Moskau, der in der Zeitung abgedruckt worden war. Von da an sah Jekaterina Dawydowna sich dann als Russin an.

Für Stalins Tod interessierten sie sich nicht, „wen kümmert so etwas schon?“ Das einzige, was etwas besser wurde, war das Leben, aber nur ein wenig, denn Hunger litten sie nach wie vor.

Jekaterina Dawydowna hält sich für eine Russin und wahrt deswegen auch die russischen Traditionen.

Zu ihrer ursprünglichen Heimat unterhält sie keine Verbindung, sie hält Rußland für ihre Heimat.

Dies ist also die Lebensgeschichte, mit der Jekaterina Dawydowna uns bekannt machte. Wir bedankten uns bei ihr für die Erzählung und verabschiedeten uns von ihr. Damit war die Tätigkeit unserer Gruppe, zu der Ksenia Ibe und Tatjana Tyschko gehörten, beendet.

Das Team, bestehend aus Oksana Nikolajewa und Tatjana Medwedewa beschloß, seine Befragung mit einer männlichen Person zu beginnen. Per Telefon vereinbarten wir bei ihm zuhause einen Termin, und er war unserem Besuch gegenüber auch nicht abgeneigt.

Gottlieb Gottliebowitsch Golm (Holm)

Geboren am 22.09.1935.

Die ganze Familie lebte in der Ortschaft Pronsk, Gebiet Rjasan (dort hatten sie sich auf Anwerbung, wegen des andauernden Hungers, niedergelassen). 1938, als der Bruder geboren wurde, zogen sie ins Wolgegebiet um. Dort führten sie ein gutes Leben. Die Familie war nicht sehr groß. Sie lebten dort auf einer Farm. An einem Abend im Jahre 1937 verhafteten sie den Vater. Er wurde zu 8 Jahren verurteilt. Nach dem Krieg begann die Mutter den vater zu suchen; sie fand heraus, daß er inzwischen im Archangelsker Gefängnis verstorben war.

Im August 1941 wurde die gesamte Familie politisch verfolgt. Sie hatten nicht viel Zeit zum Packen, nur ein paar Tage. In dieser Zeit bemühten sie sich, so viele Vorräte wie möglich zu horten. Sie trockneten Brot zu Zwieback, buken Kuchen. Außerdem nahmen sie einen Koffer voll Kleidung mit, das meiste davon waren Kindersachen.

Sie fuhren mit dem Dampfer, mit dem Zug, zu Pferde – insgesamt etwa zwei Monate. Die Bedingungen während des Transports waren schlecht. Man hatte sie in Viehwaggons gesteckt, dort war es kalt. Einmal am Tag bekamen sie eine heiße Suppe und manchmal auch Brot. Unterwegs mußten sie häufig anhalten, denn es war Krieg. Mitunter blieben sie einen ganzen Tag auf einer Stelle stehen. Andere Repressionsopfer stiegen jedoch nicht zu, denn die Waggons waren auch so schon völlig überfüllt.

In Bolschaja Murta mußten sie umsteigen, und von dort schickte man sie in den Pirowsker Bezirk. Die Kinder wurden, weil sie noch nicht volljährig waren, unter Aufsicht gestellt – unter die Aufsicht der Sonderkommandantur. Anfang Oktober trafen sie im Pirowsker Bezirk ein, in dem Dorf Ignatowo. Sie wurden bei bereits ansässigen Bewohnern untergebracht. Dort waren die Bedingungen recht gut. Auch die Einstellung der Ortsansässigen ihnen gegenüber war gut. Die Ignatower achteten die Neuankömmlinge, hatten sogar Mitleid mit ihnen und halfen, wo sie nur konnten. Gegenüber der Familie von Gottlieb Gottliebowitsch Golm benahmen sie sich sehr gut und behandelten sie auch bevorzugt, denn Mutter und Tante konnten Russisch und übersetzten daher in Notfällen für all die anderen Deutschen. Es gab nur wenige, die der russischen Sprache mächtig waren.

Mit 8 Jahren kam Gottlieb Gottliebowitsch in die erste Klasse. Aber insgesamt beendete er nur zwei Schulklassen, da die familiäre Situation so schlecht war. Er wollte so gern lernen, aber selbst in die Abendschule nahmen sie ihn später nicht auf. Dort nahmen sie einen nur mit einer 5-Klassen-Grundschulbildung an, aber die hatte er ja nicht. Deswegen begann er im Alter von 8 Jahren bereits zu arbeiten. Schnell erlernte er die russische Sprache. Er war als Hirte und Gehilfe bei den Traktorenanhängern tätig. Als er sein 16. Lebensjahr vollendet hatte, stellten sie ihn unter die Sonderkommandantur der Betriebsfachschule in der Nord-Region, wo man ihn drei Jahre lang in Floßbau unterrichtete. Ihm stand auch Urlaub zu, aber niemand ließ ihn fortgehen. Erst nach Stalins Tod wurde er freigelassen; das war Ende 1953 und geschah anläßlich des Todes seiner Mutter. Er meldete sich in Bolschaja Murta ab, aber man hatte ihm seine Papiere nicht dorthin geschickt. Dennoch schaffte er es mit viel Überredungskunst seine Abmeldebestätigung zu bekommen. Am 4. Dezember 1953 traf er in Ignatowo ein. Die anderen wurden Ende 1954 in die Freiheit enlassen, als man ihnen Urlaub gewährte. Im März 1956 konnten sie sich aus der Sondersiedlung abmelden.

1955-1958 arbeitete er in Ignatowo, dann heiratete er und zog nach Piriwskoje um. Dort erhielt er eine Ausbildung zum Traktoristen. Danach war er in der Maschinen- und Traktoren-Station tätig. Nach deren Liquidierung arbeite er weiter als Traktorfahrer. Er war auch in der
Verwaltung für Straßeninstandsetzung und Wegebau (1960-1966) beschäftigt; danach arbeitet er noch 35 Jahre in der Kommunalwirtschaft, 20 Jahre lang fand man seinen Namen immer wieder an der Ehrentafel. 1995 hätte er in Rente gehen sollen, aber er ging erst im Jahr 2000.

Er war nicht Mitglied der kommunistischen Partei. Der Grund dafür war, daß er nicht lesen und schreiben konnte. Er bedauert es, daß er nicht der Partei beigetreten ist. Von der heutigen Staatsmacht hält er nichts. Seine Frau starb vor einigen Jahren. Er hat Kinder.

Von den deutschen Festtagen feiert er Weihnachten und Ostern. Die Verwandten aus Deutschland rufen ihn gelegentlich an.

Amalia Genrichowna Tkatschewa

Geboren im Dorf Alr-Urbach, Bezirk Krasnojar, Gebiet Saratow, Wolgagebiet, am 02.07.1934. In der Familie waren acht Kinder. Sie besaßen ein großes Haus und eine eigene Hofwirtschaft und bauten ihr eigenes Getreide an. Der Vater – Heinrich Christanowitsch Gense (Hense) – arbeitete an der Schule als Lehrer für Werkunterricht, die Mutter in der Kolchose.

Im August 1941 kam der von Kalinin unterzeichnete Ukas heraus, daß alle Wolgadeutschen repressiert werden sollten. Zum Packen gab man ihnen einige Tage. Man erlaubte ihnen die Mitnahme eines einzigen Koffers. In erster Linie nahmen sie Kindersachen mit, aber auch die Nähmaschine und die Wanduhr. In der Nacht vor ihrer Abreise brachte man ihrer Familie das ganze abgeerntete Getreide und lud eine volle Fuhre mit im Hof ab. Das Vieh wurde abtransportiert, alles andere blieb zurück. Anfang September ging die Fahrt los. Alle Repressierten wurden in Güterwaggons verladen. Viele starben vor Hunger. Einmal pro Tag gab man ihnen eine heiße Suppe, mitunter auch Brot. Die vier Kinder, die jünger waren als Amalia Genrichowna, starben. Amalia Genrichowna selbst war zu dem Zeitpunkt sechs Jahre alt.

In Galanino mußten sie umsteigen und wurden von dort in das Dorf Troitza im Pirowsker Bezirk geschickt. Der Vater wurde sofort in die Armee (Arbeitsarmee; Anm. d. Übers.) geholt. Sie wurden bei einer bereits dort lebenden alten Großmutter untergebracht, die mit ihrer kranken Tochter in einer kleinen Kate wohnte. Später zogen sie in ein anderes Haus um. Die Ortsansässigen verhielten sich freundlich gegenüber den Deutschen. Sie halfen ihnen aus der Armut. Amalia Genrichowna erinnerte sich an einen Vorfall, als die Deutschen, die sich mit Pilzen überhaupt nicht auskannten, eine schwere Pilzvergiftung erlitten, und die Leute kamen herbeigelaufen und brachten Milch, damit sie nur nicht starben. Einen Monat später zog die ganze Familie in die Ortschaft Pirowskoje um.

Russisch konnte niemand.

Die Mutter arbeitete als Technikerin im Kombinat für häusliche Dienstleistungen. Mit 10 Jahren ging Amalia Genrichowna in die erste Schulklasse. Ungeachtet der Tatsache, daß die Familie in ärmlichen Verhältnissen lebte und sie alle gemeinsam nur eine einzige Oberbekleidung zur Verfügung hatten, brachte sie alle zehn Schulklassen zu Ende. Sie konnte gut lernen. Danach machte sie auch ihren Abschluß an der technischen Lehranstalt. In der Schule benahm man sich ihr gegenüber genauso, wie zu allen anderen – ganz normal. Aber in ihrer Schule gab es einen Zehntklässler, der seine eigenen Schulbücher verlieh (er ersetzt die Bibliothek), aber an Deutsche gab er seine Bücher nicht aus.

Da alle Kinder bis zum 16. Lebensjahr registriert waren, ließen sie auch keines von ihnen an einen anderen Ort fortgehen.

Nach Kriegsende kehrte der Vater nach Hause zurück und arbeitete als Tischler.

Am 18. Januar 1948 oder 1949 wurden alle Erwachsenen zusammengerufen und aufgefordert, eine Bescheinigung darüber zu unterzeichnen, daß sie für eine Dauer von 20-25 Jahren nicht in ihr heimatliches Wolgagebiet zurückkehren würden. Im März 1956 wurden sie aus der Sonderregistratur abgemeldet.

Als Stalin starb, atmeten alle beruhigt auf. Manch einer weinte, andere freuten sich einfach nur. Und eine Frau klatschte nach Aussagen von Amalia Genrichowna sogar in die Hände, während sie auf der Arbeit war. Eine halbe Stunde später wurde sie festgenommen und fortgebracht. Vierundzwanzig Stunden später wqurde sie wieder freigelassen.

An ihrem Leben änderte sich nichts.

Sie war kein Parteimitglied und hatte auch nicht die Absicht es zu werden.

Sie feiern nur Weihnachten und Ostern. All ihre Ahnen lebten im Wolgagebiet.

Sinaida Wasilewna Suchoterina

Geboren am 27.06.1950, als die Familie sich bereits in Pirowskoje aufhielt. Ihre Eltern stammten von der Wolga – Gebiet Saratow, Bezirk Krasnojar, aus dem Dorf Alt-Urbach. Es gab sechs Kinder in der Familie. Sie hatten einen schönen Bauernhof, besaßen Kühe, bauten Tabak an und betrieben Gartenbau.

Sie wurden im Herbst 1941 Opfer der Repressionen, als ihre Mutter – Sofia Samuilowna Duttaj (die zweite Ehefrau des Vaters), zwölf Jahre alt war. Man gab ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit zum Packen. Sie nahmen nur das mit, was sie tragen konnten. Man hatte ihnen zuvor mitgeteilt, daß sie nicht lange unterwegs seinwürden; daher nahmen sie nur wenige Sachen mit. Hauptsächlich Lebensmittel für den Weg. Beim Umsteigen in Galanino teilte man sie für die Ortschaft Pirowskoje ein. Sie hatten kein gutes Leben, mußten oft hungern. Im Frühjahr, wenn der Schnee weggeschmolzen war, begaben sie sich auf die Felder und suchten nach herabgefallenen Ähren, durch die sie Vergiftungserscheinungen davontrugen. Sie kamen sofort zur Schule, denn Mama hatte auch bereits vier Klassen Schulbildung hinter sich. 1956 erhielten sie ein Dokument über ihre Abschreibung aus der Sonderansiedlung.

Gegenüber der kommunistischen Partei hat sie eine gleichgültige Einstellung. Keiner aus ihrer Familie war darin Mitglied.

Von den deutschen Festtagen feiert Sinaida Wasilewna nur Weihnachten und Ostern. Sie kann auch noch einige warme deutsche Gerichte zubereiten. Deutsch spricht sie nicht, dafür aber Tartarisch und Russisch. In Deutschland hat sie Verwandte, mit denen sie in Verbindung steht. Sie hat als Lehrerin in der Ortschaft Dolgowo gearbeitet.

Nina Michailowna Isatschenko (Beljakowa)

Bevor wie Nina Michailowna aufsuchten, riefen wir sie zunächst an und baten sie, uns bei Gelegenheit ihre Geschichte zu erzählen. Nina Michailowna sagte uns, daß es ihr sehr schwer fiele, sich an jene Ereignisse zu erinnern, aber sie erlaubte uns dennoch, sie zu besuchen. Obwohl wir uns mit ideser Frau gerade erst bekannt gemacht hatten, sprach sie mit uns, als wären wir Verwandte, und wir empfanden es als sehr angenehm, uns mit ihr zu unterhalten.

Geboren wurde sie am 02.11.1935 in der Stadt Murmansk. Der Vater arbeitete als Ingenieur der nördlichen Eisenbahnlinie auf der Halbinsel Kola. Die Mutter war als Zuschneiderin tätig. In der Familie gab es nur ein Kind, Tochter Nina Michailowna Isatschenko. Sie hatten eine schöne Wohnung. Im Februar 1938 wurde der Vater, Michail Sergejewitsch Beljakow, verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt. Grundlage dür die Verhaftung war die Tatsache gewesen, daß Michail Sergejewitsch seine herkunft verheimlicht hatte: er war der Sohn eines Kulaken. Er war zahlreichen Foltern ausgesetzt; unter anderem kam er auch auf den elektrischen Stuhl.Aber Michail Sergejewitschs Ehefrau, Maria Andrejewna, beschloß, den Versuch zu wagen, auf seine Verurteilung Einfluß zu nehmen, um eine Abänderung des Strafmaßes zu erwirken. Ihr Bruder arbeitete als Leiter des NKWD, und es gelang ihm, eine Begegnung zwischen Maria Andrejewna und Stalin höchstpersönlich zu erreichen. Danach wurde das Urteil angefochtet und in eine zehnjährige Gefängnisstrafe mit anschließender Zwangsansiedlung in <lagern an der Kolyma abgeändert. Der Vater verbrachte 18 Jahre an der Kolyma. Er lebte in der Siedlung Jagodnoje im Gebiet Magadan. Dort heiratete er ein zweites Mal – ebenfalls eine Zwangsarbeiterin und Bewohnerin der Kolyma. Mit ihr hatte er Kinder. Nach Stalins Tod im Jahre 1956 wurde das Verfahren gegen den Vater überprüft und aus Mangel an Tatbeständen eingestellt. Den Ort verlassen durfte er erst im Jahre 1961, nachdem er bereits ein kranker Mann und zum Krüppel geworden war. 1970 starb er.

Nach der Verhaftung des Vaters fand in der Wohnung eine Haussuchung statt; anschließend wurde der gesamte Besitz konfisziert und der Ehefrau mitsamt ihrer kleinen Tochter befohlen, innerhalb von 24 Stunden Murmansk zu verlassen. Sie durfte nichts weiter mitnehmen, als einen Koffer voll Kleidungsstücke. So gelangten sie nach Astrachan, wo die Eltern des Vaters wohnten. Dort lebten sie mehr als drei Jahre. Danach zogen sie ins Gebiet Pensa um, wo nach dem Tode der Schwester der Mutter vier Kinder allein zurückgeblieben waren. Dort gab man ihnen eine Zweizimmerwohnung. Maria Andrejewna nahm die Waisen in ihre Familie auf und zog sie groß. Sie lebten in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Nach einiger Zeit war die Mutter gezwungen wieder zu heiraten, um die Kinder ernähren zu können. Als Efefrau eines Volksfeindes war die Mutter ständig Erniedrigungen, Beleidigungen und Vorwürfen ausgesetzt. Bei der kleinen Nina entstand so die Meinung, daß, wenn man jemanden einen Voksfeind nannte, dies dann auch der Tatsache entsprach. Sie begriff nicht, daß man einen Menschen auch böswillig verleumden konnte. Maria Andrejewna fühlte sich durch die eigene Tochter gekränkt und erklärte manchmal unter Tränen: „da zieht man jemanden groß, und bekommt dafür den ganzen Segen ab“ (im Sinne von: „Undank ist der Welten Lohn; Anm. de. Übers.). 1942-43 wurde die Mutter schwerkrank, und die fünf Kinder kamen auf Ansuchen der Kreisabteilung für Volksbildung ins Kinderheim der Stadt Pensa. Wenig später starb sie. Nina Michailowna beendete in Pensa insgesamt 8 Schulklassen. Nina Michailowna beendete die Schulzeit in der Stadt Jessentuk im Kaukasus (9.-10. Klasse). Dort immatrikulierte sie am Lehrer-Institut, um Physik und Mathematik zu studieren. Nachdem sie das Studium am Institut beendet hatte, begab sie sich mit einem Komsomolzenreiseschein in den Pirowsker Bezirk.

Während ihrer Schulzeit waren die Beziehungen zu den Klassenkameraden gut, nur gelegentlich erwähnten sie in ihren Gesprächen, daß der Vater ein Volksfeind war.

Nach Stalins Tod wurde das Leben ein wenig leichter. Sie hofften auf die freilassung des Vaters.

Obwohl sie jetzt in Rente ist, muß sie trotzdem, aus Geldmangel, an der Abendschule als Lehrerin für Physik und Mathematik weiterarbeiten. Ihre Lebensarbeitszeit beträgt nunmehr 50 Jahre.

Auf die Frage nach ihrer Einstellung zur Sowjetmacht und zur KPdSU antwortet sie eindeutig:
„Die kommunistische Gesellschaft ist richtig, die KPdSU ist eine richtige und gute Partei. Ich bin nie Kommunistin gewesen, aber ich unterstütze die Ideen der Partei“.

„Ja! Ich bin ein Opfer der Repressionen. Aber an meiner unglücklichen Kindheit, genau wie an hundertausend anderen auch, ist der böse Stalinismus. Ich habe keine Veranlassung, die Sowjetmacht und die Kommunisten zu hassen, wie es jetzt die undankbaren Leute tun, die unter der Herrschaft der Kommunisten kostenlose Bildung, medizinische Versorgung und einen Lohn entsprechend der von ihnen geleisteten Arbeit erhalten haben,, damals, als sie noch die Gewißheit hatten, daß sie und ihre Kinder den folgenden Tag erleben würden. Ich sehe den Fehler der Kommunisten darin, daß sie nicht nur würdige Menschen in die Partei aufgenommen haben, die in schweirigen Zeiten einfach ihr Parteibuch im Stich ließen und irgendwohin verschwanden...

Wir, die Russen, haben uns vom Sozialismus und von unserem wilden Kapitalismus entfernt. In der zivilisierten Gesellschaft sollte es derartige Unterschiede zwischen Armen und Reichen nicht geben, die Menschen sollten im Alter versorgt sein, und Kinder müßten die Gewißheit auf den morgigen Tag, auf ihre Zukunft haben. Leider ist das bislang in Rußland noch nicht so ...“.

Für uns war es sehr interessant zu erfahren, wie die Leute früher lebten, unter welchen Bedingungen, und nachdem diese bemerkenswerten Menschen ihre Geschichte erzählt hatten, begriffen wir, daß all das für sie sehr kompliziert und schwer war. Aber trotz all dieser Widrigkeiten sind sie doch sie selbst geblieben. Sie haben uns sehr freundlich aufgenommen, obwohl es ihnen sehr schwer fiel, sich an alles zu erinnern, was in ihrer Seele begraben liegt. Einige weigerten sich sogar mit uns zu reden. Aber wir verstehen, wie ihnen zumute ist, es ist sicher, weiß Gott, schwierig für sie.

Abschließend kann man sagen, daßß all diesen Menschen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. Wir haben erfahren, daß sie aus ein- und demselben oder aus benachbarten Dörfern stammen, zu derselben Zeit in denselben Bezirk deportiert wurden. Und es sind eben die Wolgadeutschen, die im Jahre 1941 verschleppt wurden.

Dieses Interview rief in uns eine Menge neuer Eindrücke und Emotionen hervor. Wir empfanden es als angenehm. mit solchen menschen zu arbeiten, und wir werden unsere interessante Tätigkeit fortsetzen.


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