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Ljudmila Korolewa. Die Rußland-Deutschen: Schicksal, Menschen, Zeit

Ausführung: Ljudmila Aleksandrowna Korolewa, 11. Klasse der städtischen allgemeinbildenden Mittelschule No. 3 in der Ortschaft Schuschenskoe

Leiterin: Larisa Witalewna Swinzowa, Lehrerin für Geschichte und Sozialpolitik

Inhalt

1. Einführung
2. Wie alles begann
3. Krieg
4. Tauwetter. Das Leben fängt gerade erst an.
5. Gilgenberg und die Zeit
6. Schluß

Heutzutage findet in unserer Welt ein globaler Migrationsprozeß statt. Menschen ziehen vom Dorf in die Stadt, aus einem Land in ein anderes. Und das ist ganz normal. Wenngleich es im Zusammenhangmit dieser Migration sehr viele Probleme gibt. Wie werden sie dich aufnehmen in der neuen Gesellschaft? Werden sie dir die Möglichkeit geben, ganz normal zu leben und zu arbeiten? Werden sie dich in deinen Rechten einschränken? Aufgabe dieser Arbeit ist das Studium und die Erforschung der „deutschen Frage“. Das Material dazu stammt im wesentlichen aus einem Interview (vom 20.09.2004, durchgeführt in der Siedlung Schuschenskoe im Hause des I.D. Gilgenberg), aus dem Informationen über das Leben und die Tätigkeiten eines Rußland-Deutschen gewonnen wurden. Beim Zusammentragen und der späteren Bearbeitung des Materials war maßgeblich die Leiterin des Projektes, L.W. Swinzowa, behilflich. Große Hilhsbereitschaft bewiesen auch die itarbeiter des historisch-ethnographischen Museums „Schuschenskoe“ und die Bezirkszeitung „Leninskaja Iskra“.

Wie häufig sehen wir, wieviele Menschen aus anderen Ländern in unser Land kommen. Dafür gibt es viele Gründe: Arbeit, Ausbildung, Familiengründung. Viele tausend Ausländer leben in Rußland, zahlen Steuern, ebenso wie die russischen Bürger.

Aber häufig werden sie, sowohl in moralischer, als auch in materieller Hinsicht, eingeschränkt. Das war immer schon ein Problem. Die Massenbesiedlung durch Deutsche aus den an Rußland angrenzenden Territorien begann wären der Herrschaft Katharinas II. Spezielle Verordnungen und Erlasse der Zarin eröffneten dafür breite Möglichkeiten. Im Jahre 1763 wurde Dobrinka gegründet – die erste deutsche Kolonie an der Wolga. Später entstanden Kolonien im Nord-Kaukasus und in der Ukraine. Manche mögen vielleicht sagehn, da0 sie Deserteure waren. Aber das stimmt nicht. Die Rußland-Deutschen wirkten aktiv am gesellschaftlichen Leben des Landes mit. Es genügt, sich an die Namen von W.I. Dal (Dahl?) zu erinnern – den Schöpfer des „Erklärenden Wörterbuchs der lebendigen großrussischen Sprache“, E.I. Guber, der als erster den „Faust“ ins Russische übersetzte, Leutnant P.P. Schmidt ... Mehr als 700 Wolgadeutsche waren Teilnehmer des Pugatschewsker Aufstandes. Sie nahmen aktiv am Großen Vaterländischen Krieg teil. Sie verteidigten ihr Vaterland vor dem Feinde, ja, ganz recht – ihr Vaterland. Sie liebten Rußland, ungeachtet der Tatsache, daß sie deutscher Nationalität waren. Aber aus irgendeinem Grunde gab es bereits die ausgeprägte Tendenz, daß man die Rußland-Deutschen für nichts besseres als für deutsche Eindringlinge hielt, welche die Unabhängigkeit des Landes bedrohten. Eine schwere Zeit mußten die Sowjet-Deutschen durchmachen. In diesem Lande leben sie bereits seit 230 Jahren – länger als andere Völker, aus denen sich sein Völkergemisch zusammensetzt. Aber nach der hinterlistigen Einschätzung der Sowjets sind sie trotzdem keine / gehören sie immer noch nicht zu den „fest Verwurzelten“. Man gibt ihnen kein Land. Und wenn sie nach Deutschland zurückgehen, dann werden die Rußland-Deutschen dort zu Bürgern zweiter Klasse. Poluchaetsa / sie werden zu Fremden unter ihresgleichen. Die Sowjet-Deutschen waren in ihren Menschenrechten unterdrückt und der Ausbeutung durch den Staat ausgesetzt.

Ich möchte von einem Mann berichten, der die Schwierigkeiten und das menschliche Verhalten ihm gegenüber nicht fürchtete, der es in diesem Abschnitt seines Lebens verstand durchzuhalten, nicht zu zerbrechen und seinem Lande trotz des „Druckes“ von Seiten des Staates großen Nutzen zu bringen. Die Rede ist von Iwan Dawidowitsch Gilgenberg. Wenn über die Rußland-Deutschen gesprochen wird, sagt seine Frau oft: „Na,Wan, was bist Du denn für ein Deutscher? Du bist doch russischer als jeder echte Russe!“ Denn viele russische Menschen zeigen sich nicht so patriotisch und haben auch nichts für ihr Land getan.

Er wurde 1926 in dem Dorf Rosenthal geboren. Von frühester Kindheit an lebte er unter strengen Bedingungen. Die Familie war groß: vier Brüder, drei Schwestern, Oma, Mutter, Vater – insgesamt zehn Personen. Das Jahr 1931 ist charakterisiert durch den Beginn einer großen Hungersnot im Wolgagebiet, die zehntausende, hunderttausende Menschenleben dahinraffte. Sonderbrigaden waren kaum in der Lage, die ganzen Leichen wegzuschaffen und zu begraben, die in den Häusern und auf den Straßen lagen und verwesten. In dieser Zeit starben zwei Schwestern an Pocken. Bald darauf brachte der Vater sie ins Dorf Rosenthal zurück. Zu essen gab es immer noch nichts, und da schnitten sie die ganze Melde ab, die im Gemüsegarten wuchs. Alles, was irgendwie aus Holz war, hackten sie klein und verbrannten es zum Einheizen des Hauses. Kurze Zeit später starb der Vater. Iwan und seine Mutter waren schon ganz aufgedunsen vor Hunger und warten auch bereits auf den Tod. Es gab keine Hoffnung auf Rettung für die Hinterbliebenen. Sie waren dem Hungertod geweiht. Aber das Schicksal war ihnen wohlgesonnen und schenkte ihnen das Leben. Der Onkel rettete sie. Sobald er erfahren hatte, wie es um die Familie stand, kam er sofort angefahren und brachte sie zu seinem älteren Bruder in die Kolchose Nr. 596, die sich in der Kreisstadt Krasnij Kut befand. Er half der Mutter bei der Suche nach einer Arbeitsstelle und einer Behausung. Die Mutter arbeitete als Köchin in der Küche. Jeden Tag brachte sie ihnen heimlich, damit die Leitung nichts davon bemerkte, gekochten Brei. Und damit verkrochen sie sich dann unter ihre Decke und aßen ihn. Denn damals herrschten rauhe Zeiten: für nur 1 kg gestohlenes Essen bekam man 10 Jahre Gefängnis.

1935 fingen sie damit an, an die Arbeitenden jeweils 8 kg Mehl auszugeben. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten bereits vier von ihnen: die Mutter, die Schwester und zwei Brüder. Dem Hungertod waren sie entronnen. Jedoch nicht alle überlebten. Der Vater und zwei Schwesterlein kamen um. 1936 ging Iwan, nun neun Jahre alt, zur Schule; früher hatte er sie nicht besuchen können, denn er hatte nichts zum Anziehen. Auch der ältere Brunder ging in die Schule. Die anderen mußten arbeiten, um die Familie zu ernähren. 1937 kehrte die Schwester, die inzwischen geheiratet hatte, in die Kolchose zurück, weil ihrem Mann „als Volksfeind“ die Verhaftung drohte. In der kleinen, nur 17 qm großen Kate hausten zwölf Menschen.

1941 – der Krieg mit Deutschland. Alle waren empört über den verräterischen Überfall auf unser Heimatland. Ebenso wie alle sowjetischen Männer brannten auch die deutschen, die nicht in der Armee dienten, darauf, an die Front zu kommen, um die Heimat zu verteidigen. Aber aus irgendeinem Grunde wurden sie nicht einberufen. Die Menschen verlangten eine Erklärung, aber niemand wollte sie ihnen geben. Im August 1941 wurden in allen Dörfern, die sich in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschenin der Umzingelung befanden, die Meldungen und Nachrichten zwischen den einzelnen Ortschaften unterbrochen. Die Leute konnten das Verhalten ihnen gegenüber nicht verstehen. Schließlöich waren sie doch bereit, ihr Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut zu verteidigen. Aber man hielt sie für Spione und Deserteure. Und in diesem für das Land so schwierigen Moment beginnt die Deportation. Erneut werden die bereits früher ausgeübten Praktiken der Zwangsverschleppung von Bürgern aufgrund ihrer Nationalität in entlegene Gebiete des Landes durchgeführt. Zuerst deportierte man einen großen Teil der Bevölkerung aus der autonomen Republik der Wolgadeutschen.

Am 28. August 1941 begann, basierend auf dem Ukas des Obersten Sowjet der UdSSR „Über die Umsiedlung der gesamten deutschen Bevölkerung aus der ASSR der Wolgadeutschen“, eine Umsiedlungsaktion, die mit der offensichtlich an den Haaren herbeigezogenen Information begründet wurde, daß „es unter der im Wolgagebiet lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione gibt, die auf ein Signal hin, welches sie von Deutschland erhalten werden, in den Kreisen, in denen Deutschen wohnen, Sprengungen vornehmen sollen“. Die Aussiedlung der Deutschen fand nicht nur aus der Wolgaregion statt, die bald darauf liquidiert wurde, sondern auch aus den Gebieten Satlingrad, Saratow und anderen Regionen des europäischen Teils der UdSSR. Zu Anfang des Jahres 1942 waren alles in allem etwa 1,1 Millionen Deutsche von der gewaltsamen Deportation betroffen. Zudem litten auch die Kriegsdienstleistenden deutscher Herkunft, die nun aus den Streitkräften abberufen und in die Trudarmee verlegt wurden, wo sie praktisch mit dem Status von Häftlingen eintrafen.

Der Massenterror auf nationalem Gebiet konnte natürlich nicht von einem einzigen Kollaborationismus provoziert worden sein, dessen Fakten tatsächlich gegeben waren, aber sie standen in keinem Verhältnis zu dem Ausmaß und der Wucht der aufeinander abgestimmten Repressionsmaßnahmen. Die offizielle Anklage mit dem Feind zusammenzuarbeiten stellte in der Tat nicht mehr dar, als der Anlaß für die von den Behörden durchgeführte Urteilsvollstreckung. Der wahre Grund wurzelte in der unmenschlichen sozialen Natur des stalinistischen Regimes, das sich von halbherzigen, mittelalterlichen Schuldkategorien leiten ließ. Aus geheimen Aufzeichnungen des Innenministers der UdSSR Kruglow wissen wir, dass am 1. Juli 1941bei den Organen des Inenministeriums insgesamt 2.562.830 Aussiedler und Sonderansiedler zusammen mit ihren Familienmitgliedern registriert waren. 1.093.490 davon waren Deutsche. Die Menschen wurden nach Kasachstan, Mittel-Asien, in den Ural, nach West- und Ost-Sibirien, in den Fernen Osten und den Hohen Norden geschickt. Mit einem Wort: die Leute sollten die unbewohnten Gebiete des riesigen Landes erschließen.

So geschah es auch mit Iwan Davidowich. Die Menschen wurden in Waggons geladen und auf der südlichen Eisenbahnroute nach Sibirien geschickt. Lange waren sie in den Güterwaggons unterwegs. Die von all den Strapazen und Entbehrungen Gepeinigten und Geschwächten kamen längst nicht alle in der Stadt Kansk an. Viele mußten bei Zughalten in der Erde verscharrt werden. Alle weigerten sich, Sowjet-Deutsche bei sich aufzunehmen. Diese Menschen wurdennicht gefragt, ob sie umsiedeln wollten oder nicht, und sie wurden in völliger Ungewißheit gelassen. Diejenigen, die dieses gesetz erlassen hatten, hatten nicht über die Menschen nachgedacht und auch nicht darüber, wie sich im folgenden ihr Leben gestalten sollte. Denn viele Familien starben aus, und die Leute begriffen nicht, weshalb man ihnen eigentlich eine Schuld zugesproche hatte. Sie hielten sich für Russen, für Patrioten ihres Landes. Schließlich gelangte I.Ds Familie in die Ortschaft Dserschinskoje, wo sich die leitenden Dorforgane ihnen gegenüber äußerst schlecht verhielten. Sie baten um eine Behausung, aber den verweigerte man ihnen. Sie versuchten zu beweisen, dass sie ehrbare Leute waren und dass sogar zwei ihrer Brüder an der Front waren, um das Vaterland zu verteidigen. Daraufhin bekamen sie zur Antwort: „Na, sieh mal einer an! Da haben wir ja ein paar schöne Verteidiger!“ Zuguterletzt konnten sie sie überreden, dass sie wenigstens ein Bad nehmen durften.

1941 wurden der Ehemann der Schwester sowie der Bruder in die Trudarmee geholt. Und sie blieben ohne jegliche Existenzmittel zurück. Der Vater ging von Hof zu Hof, hackte Brennholz, sägte, scheuerte Fußböden und fand später eine Arbeit in der Produktionsgenos-senschaft, wo Sachen für die Front genäht wurden. Der Bruder des Ehemannes und der leiblichen Bruder wurden in die Lager von Nischnjaja Tuguscha abtransportiert Sie schreiben, dass sie von dort nicht mehr zurückkehren würden. Bald darauf beschlossen Mutter und Schwester sie zu besuchen. Sie waren zutiefst erschüttert. Bruder Karl und der Ehemann der Schwester Iwan waren völlig entkräftet und erschöpft. Iwan sagte: „Wir haben uns keines Verbrechens vor unserem Vaterland schuldig gemacht, wir haben ein anderes Los verdient“. Anfang August 1941 erfuhren sie, dass der Bruder und der Mann der Schwester umgekommen waren. Nachdem Mutter und Schwester nach Huase zurückgekehrt waren, sagte man I:D., er solle zur Kommandantur kommen. Dort schlugen sie ihm zwei Zähne aus, schlugen ihn auf den Kopf und renkten ihm den linken Arm aus. Sie meinten: „Sieh zu, dass du nach Hause kommst und deine Brut zusammentrommelst. Morgen geht’s abnach Kansk!“

Nach ihrer Ankunft in Kansk schickte man sie weiter nach Ujar, und von dort nach Krasnojarsk zur Station „Jenisej“. Anfang September 1941 verlud man sie auf den Dampfer „Spartak“ und transportierte sie ab in den Norden. Auf die Frage, wohin man sie bringen würde, erhielten sie die Antwort: „Nach Agapitowo“. Es fehlte an Lebensmitteln, viele starben, an den Haltestationen stiegen die Menschen aus, pflückten wilden Lauch und aßen ihn dann. Am 17. September 1942 wurden sie in Agapitowo ausgeladen. Dort beschlossen sie, zunächst den Vorsitzenden ausfindig zu machen, um Lebensmittel zu organisieren und die Frage der Behausung zu klären. Während sie die Umgebung durchstreiften, entdeckten sie eine Fischerkate, in der ein alter Mann und eine alte Frau wohnten. Sie fragten: „Wo ist denn hier das Dorf Agapitowo?“. Der Alte fing an zu lachen und antwortete: „Dies alles hier ist Agapitowo“. Die Mehrheit der Dorfbevölkerung bestand aus Frauen, der männliche Anteil waren Jugendliche im Alter von 15-16 Jahren. Nach dreitägigem Aufenthalt in der Siedlung kamen drei Männer zu ihnen und sagten, dass man hier die Kolchose „Roter Oktober“ errichten wolle. Die Frauen hörten ihnen gar nicht zu, sondern weinten nur. Aber der Oberst sagte ihnen, dass sie umkämen, wenn sie nicht mit anpacken und sich ins Zeug legen würden. Und sie begannen zu bauen, indem sie Gruben für ihre zukünftigen Erdhütten aushoben. Als die ersten starken Fröste einsetzten starben viele Menschen.

Zum Frühjahr 1943 waren von der riesigen Menge der Repressierten, die im Herbst 1942 angekommen waren, nur noch etwa hundert übriggeblieben, die wie durch ein Wunder überlebt hatten. Sie hatten keine Kraft, die Toten zu bestatten. Deshalb wurden die Entschlafenen unweit der „Zeltstadt“ zu Stapeln aufgeschichtet. Anschließend brachte eine Spezialbrigade sie auf selbstgebauten Schlitten fort und verscharrte sie im Schnee. So fand auch I.D. eine Beschäftigung beim Abtransport der Toten. Und die leitenden Angestellten der Behörden hielten vor den Augen der unglücklichen Menschen Saufgelage ab und ergaben sich mit den jungen Mädchen dem Laster. Man zwang sie dazu; sie wurden schwanger, schwiegen jedoch. Und überhaupt – sie konnten ja mit niemandem darüber reden.

Im Tausch gegen Gold gaben die Kommandanten einem Essen. Die Menschen waren strengsten Bedingungen ausgesetzt. Es gab noch nicht einmal eine Waschgelegenheit. Die Läuse peinigten sie bis aufs Blut; sie waren überall. I.D. selbst wusch sich über ein Jahr nicht. Um dennoch irgendwie der Läuseplage zu entgehen, übergoß er seine Kleidung mit kochendem Wasser. Und danach verschwanden die verfluchten Insekten. Ende Dezember schickten sie I.D. zum Heuholen. Es herrschten minus 50 Grad Frost. Bekleidet war er mit einer zerfetzten Wattejacke, an den Füßen grobe Überschuhe mit Sackleinen umwickelt. Der Fluß war zu der Zeit mit einer dicken Eisschicht bedeckt. I.D. stieg ab, um unter dem Schlitten das Eis wegzugraben, denn es war an der Zeit loszufahren. Aber er brach ein. Irgendwie gelang es ihm, aus dem Wasser zu klettern und noch viele Kilometer, naß wie er war, weiterzulaufen, bevor er endlich beim Fischlager ankam. Am nächsten Tag brachten sie ihn nach Igarka ins Krankenhaus. Dort lag I.D. insgesamt 76 Tage und wurde im März 1944 entlassen. Danach bracuhte es noch lange Zeit, bis die Wunden endlich zugeheilt waren. Ohne Krücken war er nicht in der Lage, sich auf die Füße zu stellen. Da Iwan Davidowitsch nicht zum ständigen Arbeiterbestand der Station für Reparaturen und mechanische Arbeiten gehörte, bekam er auch keine „Brotkarten“, und so mußte er sich von allen möglichen Abfällen aus den Kantinen ernähren.

Im Winter 1942-43 beerdigten sie drei ihrer Kinder, im Herbst 1943 starb die Schwester, und im Juni 1944 die Mutter; zurück blieben zwei neffen, die I.D. mit großer Mühe in ein Kinderheim gab, denn damals galten sie als „Volksfeinde“. So blieb I.D. im Sommer 1944 allein zurück. Er wurde zum Fischer ernannt, bald darauf wurde er Jäger.

1944 heiratete Iwan Davidowitsch, Ende 1945 wurde Tochter Elvira geboren, 1947 Sohn Robert. 1950 kam noch Sohn Viktor hinzu, 1952 Tochter Erika und 1958 Tochter Maria.

Nach dem Krieg begann ein etwas glücklicherer Abschnitt im Leben des I.D. 1947 ernannte man ihn auf der Arbeit zum Wirtschaftsleiter und stellvertretenden Vorsitzenden der Kolchose, wo er bis 1952 in diesem Amt tätig war. Danach wurde er an seinen Wohnort Agapitowo in der Region Karasino versetzt, und man bot ihm an, dort als stellvertretender Vorsitzender der kolchose „Budenowez“ (Reiter der Budjonny-Armee; Anm. d. Übers.) zu arbeiten. 1953, nach dem Tode Stalins und der Erschießung Berijas, erwachte der Norden zu neuem Leben. Natürlich wurden nicht alle Beschränkungen aufgehoben, aber das bloße Gefühl frei zu sein machte die Menschen froh und flößte ihnen die Hoffnung auf den Beginn einer besseren Zeit ein.

Als die Menschen dem Rundfunkempfänger lauschten, aus dem über Stalins Tod berichtet wurde, meinte eines der Parteimitglieder zu ihnen: „Alle aufstehen, Mützen vom Kopf, ihr Feindesbrut! Und weint gefälligst! Ihr braucht gar nicht erst darauf zu hoffen, dass wir euch jetzt, da der Vater unserer Heimat gestorben ist, in die Freiheit entlassen. Nein, ihr werdet auch ohne ihn bittere Tränen vergießen. Wir werden euch schon dazu zwingen, den gesamten Norden aufzugraben!“

1956, nach dem 20. Parteitag der KPdSU atmete das Volk auf, man hatte es aus der stalinschen Gewaltherrschaft entlassen. Innerhalb von zwei-drei Jahren entvölkerten sich die Ufer des Jenisej, sie verödeten, alle fuhren irgendwohin fort. I.D. wollte noch etwas lernen. 1957 schloß er die Abendschule ab, wurde in die Partei aufgenommen, und 1958 schickte ihn das Staatskomitee der KPdSU zum Studium in die reginale sowjetische Parteischule, die sich in der Stadt Minusinsk, in der Region Krasnojarsk, befand. Im Juli 1958 legte I.D. seine Zulassungsexamina abund zog im August aus Karasino im Gebiet Igarka in die Stadt Minusinsk um. Iwan Davidowitsch arbeitete und lernte, um seine Familie zu ernähren. Er versuchte bei den minusinsker Behörden eine Wohnung zu beschaffen, aber man blickte nur von oben auf ihn herab und fragte: „Wußten Sie eigentlich, wohin Sie gefahren sind?“

Das Lernen viel ihm sehr schwer. Nach 18-jähriger Lernunterbrechung kam er irgendwie nicht wieder ins richtige Gleis. 1961 beendete Iwan Davidowitsch schließlich die regionale Krasnojarsker Parteischule mit Auszeichnung auf dem Fachgebiet eines Agronomen und Organisators. 1962 begann er ein Fernstudium am Krasnojarsker Institut für Landwirtschaft, das er 1966 beendete. Später schickte ihn das Gebietskomitee der KPdSU als stellvertretenden Direktor der Sowchose „Schtschetinkono“ in den Kreis Jermakowo. Dort arbeitete er bis April 1962. Im selben Monat versetzte ihn der Minusinsker Sowchosen-Trust als Ober-Agronom in die Sowchose „Sibirien“ im Schuschensker Kreis. Damals stand der Anbau von Kulturpflanzen auf dem Land auf einem äußerst niedrigen Niveau. Es wurden nur jeweils 10-12 Zentner Getreide geerntet. Aber mit der Ankunft Iwan Davidowitschs erreichten die Ernteerträge im Jahre 1967 bereits eine Größenordnung von 30,8 Zentnern. Erst hier im Schuschensker Kreis konnte I.D. zum ersten Mal in seinem Leben seine ganze Schaffenskraft zeigen und frei arbeiten, unbeobachtet vom MWD-Kommandanten, und hier bekam er auch erstmalig die offizielle Anerkennung als Spezialist, als Staatsbürger, als Kommunist. Er gab sich ganz seiner Arbeit hin. Er arbeitete Tag und Nacht ohne freie Tage. Denn nur so konnte man gute Ergebnisse in der landwirtschaftlichen Produktion erzielen. Viele Male schlug man ihm eine andere Arbeit vor, bei den regionalen Behörden, als Direktor der Sowchose, als Leiter der Verwaltung. Aber er blieb zeitlebens Agronom. 1968 erhielt Iwan Davidowitsch seine erste Auszeichnung von der Regierung – die „Medaille für Arbeitsverdienste“. 1970 bekam er einen Orden - das „Ehrenabzeichen“. 1976 sprachman ihm den Titel „Verdienter Agronom der RSFSR“ zu, 1986 wurde ihm der Orden des „Roten Banners der Werktätigen“ verliehen. Außerdem bekam er viermal das Banner eines „Bestarbeiters der sozialistischen Landwirtschaft der RSFSR und UdSSR“ ausgehändigt. In dieser Zeit erhielt er auch sieben Medaillen der Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft in der UdSSR (eine goldene, zwei silberne und vier bronzene).

An seinem Gebrutstag, am 14. September, ungeachtet der Tatsache, dass er am heutigen Tag bereits sein 76. Lebensjahr vollendet, wird er die Glückwünsche und Dankesbekundungen von Vertretern verschiedener Gesellschaften und Organisationen entgegennehmen.

Gilgenberg ist ein wohlwollender Mensch, ihm ist nichts gleichgültig, er hat Anteil am politischen und gesellschaftlichen Geschehen seines Bezirkes. Und 2001 wurde er mit dem Banner „Verdienter Einwohner von Schuschenskoje“ ausgezeichnet. Aber das Paradoxe daran ist, dass er Angst davor hat, die kleine Tafel am Haus anzubringen, denn vereinzelte Verrückte werden anfangen, vor seinem Fenster zu rufen: „Rußland den Russen!“

Iwan Davidowitsch mußte eine Zeit schwerer Mühen und Erniedrigungen durchmachen. Aber er überwand sie mit Würde. Er liebt sein Rußland, und auf die Frage: „Würden Sie in Deutschland leben wollen?“ antwortet er ohne zu zögern: „Niemals!“ Er ist ein wahrer Patriot seines Landes. Und im Unterschied zu dieser sogenannten „Skinhead“-Bewegung, die der Meinung ist, „Rußland den Russen!“, die überhaupt nichts Gutes für Rußland getan haben, die Ausländer prügeln und töten, hat Iwan Davidowitsch sehr viel gemacht. Trotz seines teilweise grausamen Lebens konnte er Erfolge erzielen, empfand keinen Haß auf Rußland und liebt die russische Erde.

Heutzutage ist die Frage der Rußland-Deutschen ebenfalls ein Problem. Die Rußland-Deutschen leben in verschiedenen Gebieten Rußlands. Und sie wünschen sich die Autonomie.

Bonn fördert die Idee hinsichtlich des Wolgagebietes, weil man das für möglich hält. In der Hoffnung, die Immigration von Sowjet-Deutschen abbremsen zu können, ist Bonn bereit, Geld und technische Mittel zur Verfügung zu stellen. Aber ihrem wirklichen Bestimmungszweck könnten diese Subventionen nur dann dienen, wenn man sie auch an eine perspektivensichere Adresse richten kann. Das Einzige, was die Rußland-Deutschen brauchen, ist ein Stückchen annehmbare Erde, wo sie alle zusammen auf Dauer ansiedeln können. Ihr russisches Heim. Die Aufgabe ist einfach und leicht zu entscheiden, zumindest deswegen, weil das gesuchte Territorium nicht zwingend an einen bestimmten Ort gebunden sein muß. Und Land gibt es in Rußland doch soviel es einem beliebt. Im Nicht-Schwarzerdegebiet zum Beispiel, an der Grenze der Gebiete Moskau, Smolensk, Twersk. Das Gebiet ist menschenleer und verfallen. Auf einer Linie von Nowgorod – Pskow bis nach Brjansk sind, statistisch gesehen, eineinhalb alte Menschen auf 100 Hektar nutzbarem Ackerland verblieben. Eine Umsiedlung in die westliche Umgebung von Moskau von 1-1,5 Millionen Deutschen aus den asiatischen Republiken wüde die Hauptstadt von dem jährlichen Alptraum des sogenannten „Lebensmittel-Programms“ erlösen. Der Platz würde für alle reichen. Aber in der heutigen ethnopsychologischen Situation riskiert es unser eingeschüchterter Rußland-Deutsche nicht, sich in einenOrt kriegerischen Ruhmes zu stürzen, ohne von der oberen Etage eine Garantie und von der unter eine ausdrückliche Aufforderung dazu erhalten zu haben. Gerade deshalb emigrieren die Rußland-Deutschen aus Rußland, denn sie haben keine Hoffnung darauf, dass man sie hier als zu den Ihrigen gehörend aufnimmt. Aber das liegt in unseren Kräften, in der Kraft eines jeden von uns.

Bibliographie

1. Buch für Lehrer „Geschichte der politischen Repressionen und des Widerstandes gegen die Unfreiheit in der UdSSR“. – Moskau: Verlag Vereinigung der „Moskauer Stadt-archive“, 2002.

2. Schicksale und Menschen. – Gesprächspartner Nr. 5, Dezember 1988.

3. Represionen gegen die Rußland-Deutschen. Das gestrafte Volk. – Moskau, „Zwenia“, 1999.

4. Anerkennung der Landsleute. – „Krasnojarsker Arbeiter“, August 2001.

5. „Der Dritte“, - „Krasnojarsker Arbeiter“, September 1986.


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