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Der Mensch – das klingt stolz …

Autor: Stanislaw Jurewitsch Kotschergin
geb. 11.02.1990, Mitglied des Kreises „Historische Heimatkunde“

Projektleiterin: Swetlana Nikolajewna Kozjuba,
Lehrerin für Geschichte und Leiterin des
Kreises „Historische Heimatkunde“

Region Krasnojarsk,
Bezirk Scharypowo, Siedlung Ingol
Nichtstaatliche allgemeine Lehreinrichtung „Allgemeinbildende Mittelschule N° 47“
Offene Aktionärsgesellschaft der „Russichen Eisenbahn“

In diesem Jahr sind 14 Jahre seit dem Tag vergangen, an dem das Gesetz „Über die Rehabilitation der Opfer politischer Repressionen“ herauskam. Seine Aktualität besteht darin, daß viele tausend Menschen – Bürger des sowjetischen Staates – unterdrückt wurden, und viele von ihnen haben bis heute ihren guten Ruf offiziell nicht wieder zurückerhalten. Aber das darf so nicht sein. Jedes Jahr am 30. Oktober, dem Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, erinnern wir uns dieser Menschen.

Von 1930 bis 1955 wurde die Region Krasnojarsk in ein Zwangsarbeitsgebiet mit zahlreichen Zonen verwandelt: „KrasLag“, „NorilLag“ und andere. Die allgemeine Zahl der Häftlinge und Sonderumsiedler betrug 545.000 Personen aus 37 Nationalitäten und mit verschiedenen sozialen Zugehörigkeiten. Einer der Bezirke Sibiriens, in die Sonderumsiedler verschleppt wurden, war der Bezirk Scharypowo in der Region Krasnojarsk. Auf seinem Territorium gab es keine Lager, aber das heißt nicht, daß die politischen Verfolgungen hier keine Spuren hinterlassen hätten. Laut Angaben der Scharypowsker Bezirksabteilung für Sozialfürsorge waren es 138 Personen, die repressiert und während der Dauer der Repressivmaßnahmen in den Scharypowsker Bezirk verschleppt wurden.

Einen besonderen Stellenwert in der Geschichte der politischen Repressionen nehmen die Rußland-Deutschen, vor allem deren Kinder, ein. Über einen dieser Männer möchte ich gern berichten.

Das Gebiet Saratow, Dorf Gussenbach (Hussenbach), 1937. Ein großes Haus, zweiflügelige Glastüren, eine wunderschöne Standuhr. Im Hause verbreitet sich der Duft von frisch gebackenem Kürbisbrot. Der wunderschöne Garten und der Vorratsraum - voll von saftigen, reifen, erst kürzlich gepflückten Äpfeln. Hier lebte die einfache deutsche Familie von Georg
Kondratjewitsch Marker. Außer ihm und seiner Frau Kathrin Genrichowna – die vier Kinder: Heinrich, Maria, Amalia (Maria) und David.

All das endete innerhalb einer einzigen Stunde: in der Nacht kam ein „Schwarzer Rabe“ angefahren, Leute in schwarzen Ledermänteln betraten das Haus und verhafteten den Familienvater und Ernährer. Kurz darauf wurde der Krieg ausgerufen. Allen Deutschen gab man 24 Stunden Zeit zum Packen ihrer Sachen. Kathrin Genrichowna schaffte es noch rechtzeitig die alte schwarze Truhe und ein wenig Gepäck bereitzustellen. Die Einwohner des Dorfes Hussenbach versammelten sich in einem Haus, wo sie in der Nacht Weißbrote buken, und am nächsten Morgen ging es dann auf nach Sibirien. Man kann sich unmöglich vorstellen, unter welchen Bedingungen die Menschen transportiert wurden. Man brachte sie in die Region Omsk, in den Taurischen Bezirk, ins Dorf Trijutino. Dort begegnete man der Familie mit Verachtung und nannte sie alle Faschisten; die Ortsansässigen schauten mit finsteren Mienen auf sie herab, so daß sie sich überhaupt nicht trauten, auf die Straße zu gehen. Schon bald daruf wurde die Familie auseinandergerissen, und sie sollte nie mehr beisammen sein.

Maria und David wurden in ein Kinderheim im Taurischen Bezirk (Dorf Stalinka) geschickt; danach sah die Mutter sie nur noch ein einziges mal. Das Kinderheim zählte 150 Kinder, die zwischen drei und achtzehn Jahre alt waren. Sogleich wurden Maria die schönen lockigen Haare abgeschnitten. Sie bekamen weiße Hemden angezogen und erhielten hölzerne Bettstellen, ein mit Stroh gefülltes Kissen, eine Matratze, ein Laken und eine Decke zugewiesen. Für die kalte Jahreszeit erhielten sie – Militärmäntel, Ohrenmützen und Stiefel aus Schweineleder, die man gefallenen Soldaten abgenommen hatte. Die Kinder konnten kein einziges Wort Russisch. „Das Essen war schlecht: nur gefrorene Kartoffeln, und deswegen hatte man ein ständiges Rauschen in den Ohren und im Kopf drehte sich alles. Dabei war das Vorratslager voller Getreide, Butter und Raffinadezucker. Gegessen wurde an einem langen Tisch; das Brot wurde stückchenweise ausgegeben; wenn du schnell genug die Hand darüberhalten konntest, hattest du Glück und konntest es essen; warst du nicht schnell genug, dann nahmen es sich andere. Wage nur nicht das zu petzen, sonnst wirst du Prügel beziehen und ein paar Fußtritte abbekommen.“ – erinnerte sich Maria Georgiewna. Keiner hatte einen Vornamen – sie trugen alle irgendwelche Spitznamen. Maria selbst wurde „Täubchen auf Rädern“ genannt. In der Einrichtung wüteten verschiedene Krankheiten: Malaria, Krätze, und für alle gab es die gleiche Behandlung – man wurde von Kopf bis Fuß mit Schwefelsalbe eingerieben und bekam jeweils sechs Chinin“-Tabletten pro Tag. Sie waren von Läusen zerfressen und wurden deswegen kahlgeschoren. Marias Bruder David erkrankte schwer, in seinen Ohren hatten sich Würmer gebildet; er wurde taub und blieb so sein Leben lang Invalide. Maria lief oft ins Dorf und ließ sich anstellen, um bei den Ortsansässigen Kartoffeln auszugraben. Dort wurde man großzügig bezahlt – sie gaben einem Borschtsch und Plinsen zu essen und stopften einem auch noch die Taschen voll. Sie brachte auch immer Essen für ihren Bruder mit. Für das „Fortlaufen zum Geldverdienen“ mußten sie 1,5 bis 2 Stunden „friedlich“ (reglos: Anm.d. Übers.) in der Ecke stehen; danach ließ man sie laufen. Die hungrigen Kinder liefen aus dem Kinderhaus fort zum Flüßchen hinunter, zogen ihre Oberbekleidung aus, Banden entweder die Jackenärmel oder die Hosenbeine zusammen, zogen sie über den Grund hinweg und fingen auf diese Weise ein paar kleine, und wenn sie Glück hatten, auch große Fische. In der Regel fiel der Fang jedoch klein aus. Dann breitete jeder seine Beute aus, und sie brieten sie auf dem großen Eisenofen samt Innereien, damit sie nur endlich das Hungergefühl nicht mehr spüren mußten. Sie aßen auch Bilsenkraut – davon erblindeten sie und mußten sich erbrechen. Die Zöglinge gingen zur Arbeit – sie beschafften Bruchweidenzweige oder banden Garben zusammen. Maria kann sich noch gut daran erinnern: als die Nachricht über das Ende des Krieges eintraf, waren sie gerade im Unterricht. Alle rannten auf die Straße hinaus. Jeder hatte irgendetwas in der Hand: einen Topf, einen Eimer, einen Löffel: alle trommelten, kreischten, küßten und umarmten sich. Sie waren voller Hoffnung und warteten darauf, daß morgen ihre Eltern sie abholen würden, aber das geschah nicht. Nach dem Krieg verbesserten sich die Bedingungen im Kinderheim ein wenig: die Kinder erhielten eine Einheitsuniform, die Mädchen – Röcke, zwei Mützen mit Rand und eine Matrosenbluse. Nun wurden sie auch gut verpflegt. Etwa zwei Jahre lang war Maria als Kindermädchen beim Kolchosvorsitzenden tätig. Bald darauf bekam sie einen Ausweis und fand eine Arbeit als Tellerwäscherin in der Kolchoskantine. Im alter von 17 Jahren wurde Maria erneut Kindermädchen, diesmal in der Familie von Boris Burlak. Ihre maßlose Liebe zu Kindern sowie die Gutmütigkeit des Mädchens zogen die Kleinen magisch an; sie hütete sieben fremde Kinder und begann dann im Kinderhort des Kindergartens zu arbeiten. Sie heiratete Boris und gebar Tochter Tatjana. Alles so, wie es bei anderen auch war: ein Haus, Arbeit, Kinder, eine kleine Wirtschaft. Fünf Jahre später kam ihre Mutter – als psychisch kranke Frau, abgemagert und ergraut.

Ich meine, daß Maria Georgowna ein Mensch ist, den man in Großbuchstaben erwähnen müßte. Sie hat auf ihren Schultern nicht nur die ganze Schwere des Schicksals getragen, sondern niemals das Wichtigste im Leben verloren – Menschlichkeit. Das Schicksal spielte ihr nicht nur einmal übel mit: in ihren Armen starb der geliebte Enkel, der an Kinder-Hirnlähmung erkrankt war, und bald darauf ihr Ehemann. Und niemals hat jemand ein böses Wort über sie gesagt. Die hungrige Kindheit und schwere Jugendzeit machten sich bemerkbar – Maria Georgowna Burlak starb 2003 im Alter von 70 Jahren in der Siedlung Dubino, Bezirk Scharypowo.

Traurig und tragisch ist auch das Schicksal einer weiteren Einwohnerin aus unserem Bezirk – Lydia Juliuswna Krüger (Melitta Juliusowna), geb. 1928, gebürtig aus dem Dorf Chaliste, Landkreis Tartu (Wiljandi), Estland, die aus einer Beamtenfamilie stammte. Nachdem sie 10 Klassen am Gymnasium absolviert hatte, fuhr sie 1939 zusammen mit ihren Eltern nach Deutschland und ließ sich in der Nähe des Örtchens Botulitza nieder. Von 1945 bis 1947 hielt sie sich als Gefangene in einem polnischen Lager auf. Am 6. Juni 1947 wurde sie in die UdSSR repatriiert.

„Am 18. Juni 1947 wurde Krigar (so die Schreibweise des Nachnamens in der Akte) in der verbotenen Grenzzone aufgegriffen. Ihr Erscheinen in dieser Gegend erklärte sie während des Verhörs damit, daß sie sich auf dem Heimweg in ihrn Wohnort Chaliste verlaufen hätte, … und Dokumente hätte sie nicht, ….., denn man hatte sie ihr entwendet, als sie mit dem Zug nach Estland fuhr“ – so lautet der Beginn der über sie angelegten Akte. Gemäß Anordnung der vorübergehend bevollmächtigten Abteilung, des Leiters der 5. Abteilung, PO 106, Major Wenediktow, wurde Krüger im polnischen Lager von der polnischen Spionageabwehr angeworben, um für diese Spionagedienste zu leisten. Die Verhaftung erfolgte am 23. Juni 1947 zur Klärung der genauen Umstände des Falls, aber erkennbare Fakten für eine etwaige Spionagetätigkeit wurden bei Krüger nicht gefunden. Am 7. August 1947 wurde Krüger aus der Haft entlassen. Allerdings war der Fall damit noch nicht erledigt. Bereits am 2. September 1947 wurde sie von Sergeant N.A. Petuchow und dem gewöhnlichen Soldaten I.D. Fartyschew erneut, ohne Papiere, an der Eisenbahn-Station Tjuri in der Estnischen SSR festgenommen. Wieder wurde sie verhört und eine gefälschte Akte über ihren Fall angelegt: die vorherige Anordnung über die Einstellung des Verfahrens in Bezug auf die Bürgerin Krüger wurde für nichtig erklärt und die Anweisung über ihre Inhaftierung trat am 07.10.1947 – nach § 58-6 des Strafgesetzes der RSFSR – erneut inkraft.

Am 13. Oktober 1947 machte Lydia Juliusowna ihre Aussage gegenüber dem Untersuchungsrichter der Ermittlungsabteilung des MGB der Estnischen SSR – Hauptmann Glaskow. Im Verlauf der Überprüfung dieser Aussage wurde festgestellt, daß sie am 03. Juli 1947 als Repatriantin in Kiew eingetroffen war und vom 09. bis 18. Juli 1947 am Kontrollpunkt der Luftbeobachtung nahe Kursk gelebt hatte, an dem sich drei Soldaten befanden. Dort sammelte sie Informationen, die den betreffenden Punkt, der ganz in der Nähe des Militärlagers lag, näher zu charakterisieren. Die Aufzeichungen waren in deutscher Sprache vorgenommen worden, und zwar in einer Kodierung, wie sie die Kinder in der Schule oft benutzt hatten. Vom Inhalt her sehr naiv – waren dort 275 Soldaten, Panzer und Geschosse aufgelistet. In den nachfolgenden Verhören verkündete Krüger, die ihre Verbindung zu den Personen, welche die Spionagetätigkeit auf dem Territorium der Estnischen SSR durchgeführt hatten, überhaupt nicht leugnete, daß sie mit der Spionagearbeit einverstanden gewesen sei, weil sie schon als Kind eine Neigung zu Abenteuern und kritischen Erlebnissen entwickelt hatte. Auf Grundlage des vorgebrachten § 63 des Strafgesetzes der RSFSR, von dem sich der Ermittlungsrichter in seiner Entscheidung lenken ließ, ordnete selbiger an, daß L.J. Krüger sich einem psychiatrischen Gutachten unterziehen müsse. Am 29. Oktober 1947 kam eine Expertenkommission zu dem Schluß, daß Krüger an einer schweren Form von Psyhopathie leide, die mit einer hysterischen Verlaufsform und einem Ercheinungsbild pathologischer Verlogenheit einhergehe und sich auch in pathologischen Phantasien äußern würde. Des weiteren empfahlen sie, ihr eine Zwangsbehandlung zukommen zu lassen. Gemäß Bestimmung aus dem Kriegsgericht beim MWD der Estischen SSR vom 08.12.1947 wurde das Verfahren gegen Krüger auf Grundlage der § 11 und 24 des Strafgesetzes der RSFSR im Zuge der Strafrechtsordnung eingestellt und Lydia Juliusowna zur Zwangsheilung auf die Isolierstation eines psychiatrischen Krankenhauses geschickt. Später wird sie von dort entlassen, weil sich keine Anhaltspunkte für eine psychische Verwirrung ergeben hatten.

43 Jahre später, am 04.10.1990, wurde L.J. Krüger vom Obersten Gericht der Estnischen SSR, auf Grundlage eines Ukas des Präsidiums des Obersten Gerichts der Estnischen SSSR vom 19.02.1990, rehabilitiert. Seit ihrer Rehabilitation lebt Lydia Juliusowna Krüger in der Ortschaft Aschinskoje.

In der Geschichte jedes beliebigen Landes gibt es tragische und, vom moralischen Standpunkt gesehen, schändliche Seiten. Dazu gehören auch die Ereignisse der 1930er bis 1950er Jahre . Und die Frage bezüglich der Rechtfertigung und Nichtrechfertigung der politischer Repressionen jener Jahre ist bis auf den heutigen Tag interessant. Jetzt bemüht sich die Regierung jene Entbehrungen zu kompensieren, welche die „Politischen“ erleiden mußten. In diesem Zusammenhang erging eine ganze Reihe von Gesetzen und Anordnungen, mit denen das Etikett „Volksfeind“ von diesen Menschen wieder genommen wurde. Es wurde auch materielle Unterstützung in Form von Geldzahlungen als Rente bewilligt. Aber all diese Schritte können die Menschen doch nicht dazu zwingen, die Kränkungen und Enttäuschungen sowie den Haß auf das stalinistische Regime zu vergessen. Tausende von ihnen durchlebten die ihnen aufgezwungenen Schicksale, Zehn-, Hunderttausende wurden getötet, eine riesige Anzahl Kinder verlor ihre Eltern und lernte nie kennen, was Kindheit bedeutet. Aber trotz all der auf ihr Los entfallenen Leiden, waren und blieben sie doch Staatsbürger und Patrioten ihres Landes, das mit ihnen so wenig mütterlich umgesprungen war. Sie blieben Menschen. Denn „Mench – das klingt stolz!“ – Bisweilen werden einem Fragen gestellt wie: „Wozu über die Vergangenheit grübeln? Hirngespinste wecken?“ – Es gibt darauf nur eine Antwort: „Man muß die Vergangenheit kennen!“ Unter anderem auch deswegen, um in der Zukunft derart unverzeihliche Fehler nicht noch einmal zu wiederholen.

Anhang


Maria Georgowna Burlak
(Mädchenname: Amalia Georgowna Marker, 1933-2003)


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