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Das Leben in Reinschrift

Rosa Lewina, 9. Klasse, 663660 Region Krasnojarsk, Kreis Irbej, Siedlung Stepanowka. Allgemeinbildende Mittelschule, Stepanowka.

Wissenschaftliche Leitung: Viktor Jakowlewitsch Oberman.

2005.

Während des Großen Vaterländischen Krieges wurden 11 Familien repressierter Deutscher in die Siedlung Stepanowka verschleppt; mit Familienangehörigen waren es insgesamt 49 Personen (Über meine Landsleute, S. 57). Bei ihnen handelte es sich hauptsächlich um ehemalige Einwohner der Republik der Wolgadeutschen, deren Umsiedlung und Deportation auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Aussiedlung der Deutschen aus den Wolgagebieten“ durchgeführt wurde. In den Monaten September und Oktober wurden 446.480 Deutsche verschleppt. Bis Ende 1942 waren aus sämtliche Gebieten 799.459 Deutsche deportiert worden (Das gestrafte Volk, S. 100).

In unserem Irbejsker Kreis wurden 291 Familie mit einer Gesamtzahl von 1.263 Personen verstreut angesiedelt (Über meine Landsleute, S. 58). Unter den Ausgesiedelten befand sich auch die Familie des Aleksander Johannowitsch Leonhardt und seiner Ehefrau Lidia Filippowna mit ihrenKindern: Maria - geb. 1930, Aleksander – geb. 1931, Wladimir – geb. 1935, Robert – geb. 1939, Wiktor – geb. 1941. Einer von ihnen, Robert Aleksandrowitsch – ist mein Großvater. Maria Aleksandrowna heiratet den ausgesiedelten Jakob Karlowitsch Oberman. Weiter unten werde ich versuchen, meine Ahnentafel näher zu erklären. Aber zunächst soll von Jakob Karlowitsch die Rede sein, der bereits seit beinahe 60 Jahren in unserer Siedlung lebt (Anhang 1).

J.K. Oberman wurde am 16. Januar 1926 als Sohn eines Bauern im Gebiet Saporoschje, Kreis Kujbyschew, Ortschaft Miskoje, geboren. Beide Eltern arbeiteten in der Kolchose. Der Vater hieß Karl Iwanowitsch. Die Mutter, Emilia Petrowna, arbeitete im Kindergarten. Die Eltern waren bereits alt; an die Großeltern kann Jakob Karlowitsch sich nicht mehr erinnern. „In unserer Familie gab es zwei Töchter und zwei Söhne – Iwan und ich. Die Großeltern hatten viele Kinder. Mutters Ehemann starb während des Bürgerkrieges, er kämpfte für die Roten. Später heiratete sie ein zweites Mal – Karl Oberman. Die Töchter stammten aus erster Ehe, Iwan und ich aus der zweiten mit Karl Iwanowitsch. Vier waren zu viert. Später wird das Schicksal uns auseinanderreißen“.

Jascha Oberman ging im Nachbardorf zur Schule. Das Lernen fiel ihm leicht. Wenn man danach urteilt, dass er die 7-Klassen-Schule beendete, besaß seine Familie offenbar die Möglichkeit, dem Sohn eine gute Ausbildung zu geben. Der Unterricht wurde in Deutsch abgehalten; die zweite Sprache, ind er unterrichtet wurde, war Ukrainisch. Es ist anzunehmen, dass die Muttersprache Deutsch war, wenn man hauptsächlich in dieser Sprache unterrichtete.

Das konnte der Fall sein, wenn es sich um ein deutsches Dorf handelte. Jakobs Schwester war zum Beispiel mit einem Chochol (umgangssprachl. für „Ukrainer“; Anm. d. Übers.) verheiratet, aber sie sprachen alle Deutsch. Die umliegenden Siedlungen trugen keine Namen, sondern Nummern. Das Dorf, in dem Großvater Jascha wohnte, hatte die Nr. 11, daneben lagen Nr. 9, 10, 2, 6, 7, 8. Die Frage, ob es in der Schule eine Pionierorganisation gegeben habe, beantwortete Jakob Karlowitsch verneinend, an so etwas kann er sich nicht erinnern. „Ein deutscher Bauer ... unterstützt in keiner Weise iregendwelche Bemühungen, dass die Dorfjugend zu den Pionieren oder in die Kommunistische Jugendorganisation angelockt wird. Die jungen Leute zeigenmit den Fingern auf jene, die in der Pionierbewegung mitmachen“

(Das gestrafte Volk, S. 30). Der Staat übte wohl Nachsicht in politischen Fragen, mit dem Ziel, mögliche Konflikte zu glätten, denn die deutsche Bevölkerung wollte nicht aktiv am politischen Leben teilhaben. Bei ihnen waren die Familientraditionen sehr stark ausgeprägt, die meisten von ihnen waren Gläubige. Sie mochten viel lieber hart arbeiten und dadurch ihre Wirtschaft voranbringen. In der Schule saß Jakob auf der gleichen Schulbank wie Jewgenij Oberman, geb. 1923. Weiter unten werden wir von seinem Schicksal berichten. Jewgenij besaß ausgezeichnete künstlerische Fähigkeiten. Er wird später Zeichenlehrer und Künstler werden. Heute lebte er in Deutschland. Ab 1939 wurden alle Fächer in der Schule nur noch in Russisch unterrichtet, allerdings blieben die Deutsch- und Ukrainisch-Stunden. „Es war sehr schwer Ukrainisch zu reden. Der Lehrer war ein waschechter Ukrainer, und genau so unterrichtete er auch. Anfangs war es nichts Halbes und nichts Ganzes, aber nach und nach lernten wir es doch.

Der Kreis Kujbyschew hieß früher Luxemburger Kreis. Das bekräftigt meine Vermutung, dass die Dörfer dort deutsch waren. Jakob Karlowitsch sagt, dass in der Heimat jedes Dorf eine Nummer trug. Und hier in Sibirien besaßen die Lagerpunkte auch alle Nummern, z. B. Nr. 5, 7, 20 – so bezeichnete man die Lageraußenstellen, wo jeweils 150-250 Häftlinge gehalten wurden, die in der Holzfällerei arbeiteten. Diese Bezeichnungen: „fünfte“, „siebte“, „zwanzigste“ sind bis heute erhalten geblieben. Sie finden immer noch im Wortschatz der Fischer, Taigabewohner, Jäger und Holzarbeiter Verwendung.

Noch vor Beendigung der Schule nahm Jascha Oberman an den Sommer-Kolchosarbeiten teil. Alle Kinder zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr gingen schon aufs Feld und leisteten den Erwachsenen die Hilfe, die ihren Kräften und Möglichkeiten entsprach. „Ich erinnere mich an das erste Mal, als der Brigadier mich aufs Feld holen ließ. Meine Aufgabe bestand darin, ein paar Pferde zu lenken. Ich saß oben auf dem Pferd und hielt die Zügel in der Hand.

Und die Erwachsenen saßen auf einer sogenannten „Samoskidka“, einer Art Getreide-Mähmaschine mit automatischer Abwurfvorrichtung. Das war so eine Konstruktion, ähnlich den Flügeln kleiner Windmühlen, an denen Harken oder Rechen befestigt waren. Diese Maschine warf von oben fertige Heugarben herab. Ich war sehr müde, die Beine schmerzten, und vom langen Sitzen im Sattel war mein Hinterteil ganz wundgerieben. Als wir anhielten, um uns auszuruhen, setzte sich der Brigadier und fing an zu rauchen. Und ich überlege mir, wie ich am besten schnell nach Hause kommen könnte. Ich mußte mich krank stellen und sagen, mein Bauch täte weh. Und da hat der Brigadier mich nach Hause gehen lassen. Ich hatte zu einer List greifen müssen. Damals war ich 7 – 8 Jahre alt. Und so arbeiteten wir jedes Jahr in den Sommerferien auf der Kolchose“.

Die dörfliche Lebensweise verlangte auch vor der Kollektivisierung, zu allen Zeiten, die Mitwirkung der Kinder. Was erreichte man damit? Auf der einen Seite tatkräftige Unterstützung, Hilfe. Auf der anderen Seite wurde ihnen dadurch die Liebe zu Fleiß und Arbeit anerzogen. Ein Junge konnte bei Beendigung der 7-Klassen-Schule in gemeinsamer Arbeit mit den Erwachsenen viele Arbeitsgänge erledigen. Und wenngleich er ungern frühmorgens aufstand, so mußte er doch dem Brigadier, der jeden Morgen bei den Kolchosbauern von Haus zu Haus ging und die Leute zur Arbeit aufforderte, Folge leisten.

Jascha mußte sich überwinden zur Arbeit zu gehen. Und obwohl er müde war, ihm Hände und Rücken schmerzten, wußte er, dass man es dort nicht begrüßen würde, wenn er sich weigerte und vor der Arbeit drückte. Zuhause meinten sie: arbeiten muß man. Damals sagte die Mutter ein paar freundliche, lobende Worte. Und der Junge härtete sich mit der Arbeit ab, wurde zäh und ausdauernd, rief in sich ein Gefühl von Verantwortung wach und zeigte, dass er ein Gewissen besaß. In der Freizeit spielt er mit seinen Freunden. Nach und nach gewöhnt sich Jakob Karlowitsch an die Kolchosarbeit. Zum Jahr 1940 hin, als er die 7-Klassen-Schule beendete, verstand er es, gut mit Pferden umzugehen, sie ein- und auszuspannen und sie zu pflegen. All das kommt ihm später noch zugute, als das Leben seiner Familie eine jähe Wendung nimmt und er in völlig neue, viel rauhere und in manchem sogar tragische Lebensbahnen hineingerät. Der Fleiß und die Liebe zur Arbeit, die ihm seit frühester Kindheit anerzogen wurden, wohnen ihm sein Leben lang inne. Und heute, im Alter von beinahe 79 Jahren, arbeitet er immer noch.

„Nach Beendigung der Schule ging ich noch einmal hin, um mein Zeugnis, meine Beurteilung, entgegenzunehmen. Bis zur Schule waren es ungefähr drei Kilometer. Dort befand sich eine nicht ganz vollständige Mittelschule, d.h. eine 7-Klassen-Schule. Unterwegs gab es ein Sonnenblumenfeld. Dort arbeitete man bereits mit Traktoren der Marke ChTS (aus den Charkower Traktorenwerken). Früher hatte man das Feld mit Pferden bearbeitet; ich hatte das auch machen müssen. Wir jäteten das Unkraut. Na ja, das heißt, ich blicke auf - da kommen die Mädels, meine Klassenkameradinnen, geradewegs auf den Traktor zugelaufen, auf dem ich sitze. Sie übergaben mir meine Beurteilung und ein Geschenk – einen Füllfederhalter mit Tinte. Was glaubt ihr, was das für eine große Auszeichnung war! Auf diese Weise begann ich bereits meine ständige Werktätigkeit“. Der junge Jakob arbeitete auf dem Traktorenanhänger. Sie pflügten, säten, züchteten Pflanzen, und wahrscheinlich kam im Kopf des Burschen niemals der Gedanke auf, dass er in der Zukunft einmal Holzfäller sein und sein Leben lang mit Waldwirtschaft zu tun haben würde. Und auch auf diesem Gebiet wird er ein erstklassiger Fachmann sein. Im Herbst gab man dem jungen Kolchosbauern ein paar Pferde. Das eine hieß „Zigeuner“, das andere nannten sie aus irgendeinem Grund „Chiltschenko“. Und auf diesen Pferden mußten alle möglichen Arbeiten verrichtet werden. Die Aufgaben wurden vom Kolchos-Brigadier vergeben.

Die friedliche Arbeit der Kolchosbauern wurde durch den Ausbruch des Krieges unterbrochen. „Im Juni 1941 begann der Krieg. Na ja, im Dorf durfte abends kein Licht mehr angemacht werden. Das Dorf war weit abgelegen. Es gab keinen Strom. Wenn man Licht brauchte, wurden Kerosinlampfen angezündet. Also, es vergingen ab dem 22. Juni etwa 10 Tage, und Anfang Juli wurden alle Arbeitsfähigen zusammengetrommelt. Und wenn du erst einmal Kolchosbauer bist, dann mußt du dahin, wo sie alle hingehen – auch wir Minderjährigen. Wir wurden auf große zweirädrige Karren verladen, auf denen man sonst Heugarben transportierte, und brachte uns an den Dnjepr. Wir sind wohl ungefähr 6-7 Stunden gefahren. Dort waren sehr viele Menschen. Nicht nur unsere Siedlung, sondern sämtliche ufernahen Bezirke hatte man mobilisiert, damit die Menschen Schützengräben ausheben sollten. Der Boden dort war einigermaßen eben. Soweit das Auge reicht – es wimmelt nur so von Menschen. Alles menschen. Der Graben war etwa 3 Meter tief, aber auf der Seite,von wo die Panzer kamen – betrug das Gefälle 7 Meter (Anhang 2). Der Panzer fährt hinein und stößt an die Wand, das Hindernis. So schnell kommt er da nicht wieder raus. Aber Soldaten-Zeugen sagen, dass sie sich diesen Gegebenheiten angepaßt haben: die einen jagen einen Panzer gegen die Wand, die anderen fahren mit voller Kraft über ihn hinweg und kommen durch. Die Erde aus den Gräben warfen wir auf unsere Seite. Am 18. September kam ein Kriegskommissar und händigte denen, die fronttauglich waren, den Gestellungsbefehl aus. Auch mein Neffe, Jewgenij Oberman, wurde einberufen. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen, obwohl nun schon 63 Jahre vergangen sind. Bis zum Geburtenjahrgang 1925 wurden alle eingezogen und fortgebracht. Ich wurde 1926 geboren und blieb deshalb in den Schützengräben. Nun waren nur noch wenige hier. Die Mädchen waren natürlich in der Überzahl. Die Leitung war aus irgendeinem Grunde fortgejagt worden. Und so gingen wir bereits Anfang Oktober alle nach Hause“.

Dieser Teil der Erinnerungen bezeugt, dass bis zum Krieg viele Dörfer in der Umgebung von Saporoschje noch nicht elektrifiziert waren. Man kann sich vorstellen, wie unbequem dieser Zustand für das Leben der Menschen war, für die Ausbildung der Halbwüchsigen. Und wenngleich in der Ukraine bereits das Dnjeproges (Dnjepr-Wasserkraftwerk; Anm. d. Übers.) gebaut worden war, hatte die Elektrifizierung noch keinen Einzug in die ländlichen Gebiete gefunden. Manchmal müssen wir auch heute, allerdings sehr selten, von Kerosinlampen Gebrauch machen, in besonderen Fällen, wenn die Stromleitung defekt ist oder das Licht abgeschaltet werden muß, weil Strommasten repariert werden müssen. Ich empfinde das als äußerst große Unbequenlichkeit. Dann wundet man sich, wie wohl die Menschen in früheren Zeiten ohne Elektrizität ausgekommen sein mögen? Was haben sie an den Winterabenden gemacht? Wie haben sie frühmorgens ihre hauswirtschaftlichen Arbeiten erledigt? Es scheint, als ob es sich eine Urgemeinschaft herausgebildet hat. Und für die Schüler gab es wenigstens eine kleine Freude: esgab viele triftige Gründe, dass man seine Lektionen nicht lernen und keine Hausaufgaben machen mußte. Also gibt es in jedem Haus eine Kerosinlampe oder, schlimmstenfalls, Kerzen - wie ehedem. Viele von uns besitzen Computer, auch in der Schule gibt es welche, - aber zuhause im Vorratsraum oder in der Kampe steht so eine Lampe. Komputer und Kerosinlamope – eine interesante Koexistenz! Aber beide sind nötig!

Warum zündete man an den Abenden auf dem Lande kein Feuer an? In seinen Aufzeichnungen gibt Jakob Karlowitsch keine Erklärung dazu ab, aber ich kann es mir denken. Es geschah vermutlich aus Gründen der Verdunklung, denn die Front kam der Heimat unseres Helden immer näher. Und obwohl es hier keine militärischen Objekte gab, so wurden doch von allen die in Kriegszeiten geltenden Regeln beachtet. Während der Zeit, als die Verteidigungsanlagen gebaut wurden, lebten die Arbeiter, unter ihnen acuh Jakob Oberman, in speziell ausgehobenen Schützengräben. Sie waren zickzackförmig angelegt, und dort, wo die Leute arbeiteten, entstand so eine Art kleiner Luftschutzraum. Sie bekamen Gemeinschaftsverpflegung. Alle Arbeiten wurden von Soldaten kontrolliert. Die gesamte Umgebung war getarnt, aber in den Gärten und Wäldern hielten sich Militärangehörige versteckt. Sie kamen und verlangten, dass von früh bis spät gearbeitet wurde. Sie warnten davor, dass alle, die den Versuch machten zu fliehen, vor das Kriegsgericht gestellt würden. Die jungen Leute verstanden noch nicht so ganz, was das für ein Gericht war, aber die Situation war angespannt, und die Halbwüchsigen arbeiteten genau so hart wie die Erwachsenen.

Am 3. Oktober brachte man den Bewohnern von Mirskoje die Nachricht, dass sie sich ohne Wenn und Aber innerhalb von 24 Stunden bereitzuhalten hätten, dass man sie aussiedeln würde (Anmerkung 3). „Wir trafen die notwendigen Vorbereitungen, waren gezwungen die Wildschweine zu schlachten, und die Ukrainer halfen uns beim Einsalzen des Specks. Bis zu dem eitpunkt hatten wir unseren Speck nie gesalzen. Wir schütteten das Salz direkt in den Leinensack zu dem Schweinefleisch und packten für unterwegs getrocknetes Brot ein. Am 4. Oktober, abends, kam ein Fuhrwerk vor jedes Haus gefahren. Wir mußten unsere Sachen aufladen. Nur das Allernötigste durften wir mitnehmen, alles andere mußten wir zurücklassen. Allerdings gaben sie uns ein Stück Papier, auf dem wir den gesamten zurückgelassenen Besitz auflisten konnten, aber niemand machte Gebrauch davon. Sie verluden auch uns auf die Fuhrwerke und brachten uns dann zur Station Rosowka, 12 km von unserem Dorf entfernt. Wir fuhren zusammen mit Bruder Iwan, Schwester Olja (die ältere) und deren Tochter Lida. Unser Vater war 1940, als die Mutter starb, bereits alt. Wir lebtenmit dem Vater zusammen, aber es viel uns schwer, uns ausreichend um ihn zu kümmern, und so zog er zu seiner Tochter um. Und als wir dann weitertransportiert wurde, gerieten wir alle in verschiedene Waggons. Am 6., frühmorgens, setzte sich der Zug in Bewegung – er war voll mit Menschen. Es waren vorwiegend Deutsche, aber es gab auch gemischte Familien, in denen beispielsweise der Mann Deutscher war und die Ehefrau Russin oder Ukrainerin – oder umgekehrt. Sie wurden ebenfalls alle mit ihren Kindern verschleppt.

Sie beförderten uns in „Vieh“-Waggons. 120 Personen stopften sie in einen einzigen Waggon hinein. Jeder schlief auf den Sachen, die er mitgenommen hatte. Die erste Zeit war sehr schwer, aber dan hatten wir uns irgendwann an die Situation angepaßt. Wir fingen an, bei den Zughalten an den Stationen heimlich in den anderen Waggons unterzutauchen und zu suchen: dort rissen wir aus den Pritschen Bretter heraus und richteten damit in unserem Waggon einen zweiten Boden ein. Die jungen Leute begaben sich nach oben, die Alten blieben unten. Auf diese Weise fuhren wir dann weiter. Zu essen gab es nichts. Nur einmal, als wir schon in Sibirien waren, brachten sie uns an irgendeiner Station Tee. Und das war alles. Und sobald der Zug irgendwo hielt, rannten die Menschen los, um ihre Notdurft zu verrichten. In alle Himmelsrichtungen rannten sie auseinander“. Vom 6. Oktober 1941 bis zum 6. November war der Zug mit den Repressierten unterwegs. Dann kam er endlich in der Region Nowosibirsk, am Bahnhof „Promyschlennaja“ an. Die Brüder Jascha und Wanja, beide 15 und 16 Jahre alt, und ihre Schwester Olga Zimmer (sie stammte aus erster Ehe) mit ihrem kleinen Kind, hatten den schwierigen Herausforderungen der entbehrungsreichen Fahrt standgehalten und waren nach Sibirien gelangt. Einen ganzen Monat lang waren sie unterwegs gewesen. In unserer heutigen Zeit braucht man für die ganze Strecke nur 2-3 Tage und Nächte. Aber damals ... Nur gut, dass der Winter noch nicht voll hereingebrochen war, obwohl in Sibirien im November eigentlich schon Winter ist. Bereits auf dem Wege hierher hatten sie an den Stationen Ziegelsteine gefunden. Not entfachten sie ein Lagerfeuer, um sich aufzuwärmen oder heißes Wasser zu bereiten. Am häufigsten kochten sie sich Maisbrei. Dazu schütteten sie Mehl ins kochende Wasser, rührten die Masse um und aßen sie. Das war ihre Hauptnahrungsmittel. Unterwegs sollten die Deutschen kostenlos zweimal pro Tag eine warme Mahlzeit und 500 gr Brot pro Person erhalten“ (Das gestrafte Volk, S. 119). In Wirklichkeit aber gab man ihnen nichts zu essen.

Einen der Zugwaggons hatten Soldaten eingenommen, welche die Verschleppten bewachten. Aber irgendwelche Sonderkontrollen wurden nicht durchgeführt, denn „hier konnte man sowieso nirgendwohin flüchten. Wohin sollte man schon laufen?“ Die Menschen waren äußerst verschreckt. Als man den Zug losgeschickt hatte, waren bereits Kanonenschüsse zu ihnen herübergedrungen. Zudem wußte niemand, wohin sie gebracht werden sollten. Einige meinten, man würde uns in den Süden transportieren, aber als wir dann bis nach Charkow gekommen waren, drehte der Zug Richtung Osten ab. Die Menschen kamen schon selbst darauf, dass man sie nach Sibirien verschleppte. Unterwegs mußten wir unheimliche Bilder an uns vorbeiziehen lassen: totgeschlagene, nach der Bombardierung der Waggons verkohlte, bis zur Unkenntlichkeit entstellte und verstümmelte Leichen. „Du blickst hinaus, und siehst dort ein paar Fetzen und weibliche Knochen hängen“. Die zerbombten Waggons lagen unten, am Fuße eines Abhangs, und wenn neugierige Halbwüchsige bei den Zughalten aussteigen wollten, um sich das anzusehen, ließen die Soldaten sie nicht, sondern befahlen: „Setzt euch in euren Waggon“. Einmal beobachteten sie, wie ein ganzer Zug in Flammen stand. Einmal flog sogar ein Flugzeug über ihnen. Der vorliegende Auszug aus den Erinnerungen zeigt, dass der Staat ein ganzes Volk umsiedelte und sich währenddessen überhaupt nicht um sie kümmerte: die Menschen verloren alles, was sie sich erworben hatten, man erklärte ihnen nicht, wohin man sie bringt, sie wurden unter extrem schlechten Bedingungen transportiert, usw.

An der Station Promyschlennaja wurden die Umsiedler von den Kolchosvorsitzenden in Empfang genommen. „Sie wählten fünf Familien von uns aus und schickten uns dann zu fuß in ein Dörfchen namens Swobodka, das 18 km von der Station entfernt lag. Am 7. November setzten wir uns in Bewegung – alles war ganz weiß. In der Nacht war Schnee gefallen. Wir trugen unsere Schnürschuhe. Bei uns in der Heimat wußte man nicht, was Filzstiefel sind. So begrüßte uns Sibirien. Wir wurden bei einer alten Frau einquartiert, deren mann an der Front kämpfte. Sie hatte zwei Söhne, die waren etwas jünger als ich, so 12-13 Jahre alt.

Und sobald wir in diesem Dorf auftauchten, gab es sogleich einen Menschenauflauf. Sie sehen uns an, wollen feststellen, ob wir Hörner auf dem Kopf haben! Die Jungs hören zu, was die Erwachsenen sagen, und schreien manchmal so etwas wie „Faschist“ und andere Beleidigungen dazwischen. Das mußte man alles durchmachen und aushalten“.

Der Empfang der Deutschen auf sibirischem Boden spielte sich immer mit dem gleichen Szenario ab. Die Sibirjaken kamen gemeinsam aus ihren Behausungen, um sich die neu Zugewanderten näher anzusehen. Die allererste Haltung gegenüber den Verbannten war feindselig. Dafür gibt es eine ganz natürliche Erklärung – der Krieg richtete sich gegen Deutschland, gegen die Deutschen, der Haß auf die Faschisten übertrug sich in Haß auf die russischen Deutschen. Und, wie Jakob Karlowitsch sagt, mußte man das alles durchstehen.

Die Frau, die dem halbwüchsigen Jascha Unterkunft gewährte, schien für ihn ein „altes Mütterchen“ zu sein. Aber ich denke, dass, wenn sie zwei Kinder hatte und ihr Mann an der Front war, es sich einfach um eine erwachsene Frau gehandelt hat. Am neuen Aufenthaltsort mußten die gerade Angekommen sofort anfangen zu arbeiten. Genau wie in der Heimat. Jascha erwarteten Kolchosarbeiten, darunter auch ihm vertraute Tätigkeiten mit Pferden. Mit einem Unterschied: zuhause in Saporoschje gab es solche Winter nicht. Aber hier mußte man nun unter kältesten Bedingungen überleben. So wies der Brigadier den Neuankömmlingen verschiedene Aufgaben zu: Brennholz befördern, Getreide transportieren. Im Frühjahr ging ich als Pferdetreiber, arbeitete unermüdlich, legte die Hände nicht in den Schoß. Bruder Iwan arbeitete auch – und Schwester Olga .... Jeder hatte nur ein Ziel vor Augen: „Wenn sie einem doch nur einen Brotkanten gaben, irgendeine Essensration“. Sie fristeten ein Hungerdasein. So vergingen die Jahre 1941 und 1942.

Und dann kam eine neue Herausforderung. Einmal, im September 1942, bemerkte Jascha, dass der Brigadier aus dem Vorratslager für sich persönlich Getreide wegnahm. Der Junge, der nun schon 17 Jahre alt war, stopfte sich ebenfalls 1-2 kg Korn zwischen Brust und Kleidung, in der Meinung, wenn der Brigadier das tat, dann dürfe er dies auch. Nur um die Familie zu unterstützen, war Jascha gezwungen diesen Diebstahl zu begehen. Und jener Brigadier verpfiff den Jugendlichen aus unbekannten Motiven an die Miliz. Es begann eine strafrechtliche Verfolgung der Angelegenheit. Es kam eine Vorladung, aber der Kolchos-Vorsitzende sagte, er brauche dort erstmal nicht hinfahren. Vielleicht brauchter er die arbeitenden Hände. Möglicherweise dachte er auc, dass der Fall zu den Akten gelegt würde. Auf die zweite Vorladung reagierte er genauso. Erst als die dritte Aufforderung eintraf, schickte der Vorsitzende Jakob zur Miliz. „Es war Neujahr. Er sagt zu mir: mach dich fertig, wir fahren los. Genau am Neujahrstag 1943 kam er abends bei uns an, am 1. Januar. Wir ritten 30 km weit und übernachteten dann. Und am nächsten Morgen ritten wir weiter, bis zur Station Podunskaja – ja, so hieß sie. Dort fand diese Gerichtsverhandlung statt. Und er hat mir die ganze Zeit gesagt: nimm es dir nicht so zu Herzen, hab keine Angst, es wird dir nichts geschehen. Vielleicht brauchst du das bloß in der Kolchose abarbeiten. Und so machte ich mir auch weiter keine Sorgen. Am 2. Januar war die Verhandlung. Und das war’s! Man ließ mich beim Dorfsowjet zurück. Ich legte mich neben dem Ofen auf ein paar Stühlen nieder. Kein Mensch war dort, aber ich hegte auch nicht den Gedanken fortzulaufen. Wohin sollte ich denn schon rennen? Du weißt keinen Ausweg. Ungefähr um 8 Uhr kommt eine Frau herein. Sie sagt, ich soll mich fertigmachen, wir wollen losfahren. Na ja, und so fuhren wir zur Station Promyschlennaja, ins Untersuchungsgefängnis. Dort verbrachte ich eine Nacht.

Am nächsten Tag schicken sie mich ins Nowosibirsker Gefängnis. Dort verbrachte ich fast zwei Monate. Am 25. Februar wurde ich mit einem Häftlingstransport nach Gornaja Schorija geschickt. Dort war ein Lager, ein echtes Lager, und was für eins! (Anmerkung 4, Punkt 18). Die Menschen wurden transportiert, transportiert, transportiert ... Sie starben ... Es ist Krieg, wer achtet da schon auf den Menschen? Wir aßen Bärlauch. In großen Bottichen zerstampfen wir, die Häftlinge, Rübenblätter – und ernähren damit die Leute. Die Hälfte von ihnen ist wohl auch hier gestorben ... Sie arbeiteten im Steinbruch. Tagsüber, während der Mittagspause, sprengten sie Steine, die Menschen versteckten sich, gingen in Deckung, und die Sprengmeister machten ihre Arbeit. Und danach luden wir die ganzen Brocken auf ein Förderband, verladen sie in Loren, und dann muß das Gestein in kleine Stückchen zerschlagen werden, die nicht größer als 5 cm sein dürfen. Das machten wir mit Vorschlaghämmern. Es war Herbst, den ganzen Tag über regnete es, den ganzen Tag zerschlugen wir Steine. Wenn wir abends in die Baracke zurückkehrten, waren wir bis auf die Haut naß. Bettdecken und Kissen gab es nicht. Alles was du anhattest, war gleichzeitig auch dein Bettzeug. Unterziehjacke, Matrosenjacke, was sie uns gegeben hatten, und für die Füße hatten wir Schnürschuhe bekommen. Sie trugen den Spitznamen TschTS. Die Schuhe kamen unter den Kopf, die Matrosenjacke über den Kopf, ... und so schläfst du ... TschTS – das sind solche Schuhe mit Sohlen aus Teilen alter Gummireifen – und an der Oberseite waren sie auch aus Gummi. Ich bekam eine Erkältung, wurde krank, und kam beinahe nicht wieder auf die Beine. Aber irgendwie schaffte ich es, mich trotzdem mühsam wieder hochzurappeln. Ich kam in die Krankenabteilung, der Doktor half mir“.

In diesem Teil der Erzählung gibt es ein interessantes Detail, daß nämlich der Kolchos-Vorsitzende Oberman erst beim Eintreffen der dritten Vorladung zum Gericht bringt. Wie kam das? Immerhin ist doch Krieg, es herrscht militärische Disziplin. Aber offensichtlich hatte der Wirtschaftsleiter nicht zum ersten mal so einen Jakob (gemeint ist: „ ...so einen Deutschen...“; Anm. d. Übers.) zum Gericht gebracht. Er wußte, daß man denjenigen nicht vor der dritten Vorladung zur Verantwortung ziehen würde. Dadurch gab er dem Burschen die Möglichkeit, noch einige Zeit in Freiheit zu verweilen, während er für die Kolchose ein paar Monate lang die jungen, kräftigen Arbeitshände ausnutzen konnte. Hier erfahren wir, wie „gut“ man die Menschen im Lager verpflegte, wir lernen, wo man sich die Arbeitskraft der Gefangenen zunutze machte. Außer in der Waldwirtschaft, was mir durch unsere lokale Geschichte bekannt ist, wurde auch noch in Steinbrüchen gearbeitet. Meine Aufmerksamkeit wurde durch das TschTS angezogen, und ich bat die Geschichtslehrerin um Auskunft. Höchstwahrscheinlich bedeutet das Tscheljabinsker Traktorenwerk. Aber warum nannten die Häftlinge ihr Schuhwerk so? Vielleicht, weil mit solchen Schuhen im Schmutz herumlaufen konnte, genau wie ein Traktor? Oder weil sie eine große Geländegängigkeit besaßen? Man kann sich nur wundern über die Volksweisheit, die auch in dieser Angelegenheit einen Spitznamen erfand, verschiedene Bezeichnungen ... TschTS – eher eine scherzhafte Bezeichnung mit der Bedeutung, daß Menschen, die in eine schwierige Situation geraten sind, trotzdem Menschen geblieben sind, wenn sie immer noch die Kraft zum Scherzen fanden.

So vergingen zwei Jahre. Am 2. Januar 1945 erwartet den nun fast neunzehnjährigen Jakob Oberman die Freilassung aus dem Lager. Lange Zeit wartet Jascha darauf, daß man ihn in die KWTsch (Kultur-und Erziehungsabteilung; Anm. d. Übers.) rufen würde, um ihm die frohe Kunde mitzuteilen. Aber man ließ ihn nicht holen, und so ging er schließlich selbst dorthin, um sich nach seiner Angelegenheit zu erkundigen. Die Antwort war niederschmetternd: du wirst bis auf weiteres hierbleiben. Natürlich war Jakob verwirrt und verstimmt – er hatte doch seine Strafe verbüßt, und nun ließen sie ihn nicht frei. Er mußte auf die Entscheidung über sein Schicksal bis zum 25. April 1945 warten, das heißt beinahe vier Monate. „Bis auf weiteres“ warteten auch noch zwei andere Männer und zwei Frauen. Sie bekamen den Befehl: zur Fahrt nach Kansk fertigmachen. „Und wir begriffen, daß wir dem Folge zu leisten hatten: wohin sie uns schickten, dorthin hatten wir auch zu gehen“ (Anhang 3).

„Und so fuhren wir dann. Am 1. Mai, morgens, fuhren wir nach Kansk. Es war ein sonniger Tag. Dort in Kansk war wieder diese große Durchgangszone, das gleiche Lager. Na ja, wahrscheinlich, so denke ich, werden sie dir noch mehr aufbrummen. Dort registrierten sie uns. Was sie dort genau alles hin- und aufschreiben weiß der Teufel. Aber Tatsache ist die, dass sie zum Schluß sagten: „Nun kommt mal mit!“ Wir verließen den Durchgangssektor, und jemand zeigt uns: dort drüben, da steht diese kleine Kate - gar nicht weit von der Lagerzone. Na, geht schon, dort wohnen eure Arbeitsarmisten. „Die Trudarmee stellte sich als System der Arbeiterfront dar (es gab dort Einheiten, Kolonnen, Brigaden), die in sich Elemente militärischer Organisation, Strukturen der Lagerordnung sowie Produktionsaktivitäten vereinigte. (Das gestrafte Volk, S. 123)“. Wir gingen also dorthin und erhielten eine neue Ausrüstung. Ab dem 3. Mai 1945 befand ich mich in der Arbeitsarmee (Anhang 5a). Das Trudarmisten-Leben nahm seinen Lauf. Wir lebten in Lagerzonen, die mit Stacheldraht eingezäunt waren und von bewaffneten Wachmannschaften beobachtet wurden. In Kansk blieb ich bis zum Monat August; hier geriet ich in den Pferdepark. Bis Juli war ich Pferdepfleger. Im Juli sammeln sie uns zum Holzabflößen, Und ich werde nach Strelka geschickt – das liegt im Irbejsker Bezirk. Man bringt uns zum Holzwegräumen hierher. Mit dieser Arbeit kommen wir nach und nach von Strelka bis zur Mündung des Kungus voran. Inzwischen war es August geworden. Holz wegräumen, das bedeutet Flußbett und Ufer von herumliegenden Baumstämmen säubern und sie mit der Strömung abzuflößen. Wir arbeiteten 20 km am Flüßchen entlang.

Eines Tages traf Daniil Iwanowitsch Winnik ein. Er war Meister im Stepanowsker Forstrevier. Er kam zusammen mit Konrad Funk. Sie kamen auf Pferden angeritten. Dann wählten sie vier von uns aus. Ich war auch dabei. Sie suchten nach solchen, die schon Ahnung von Waldarbeiten hatten, und so nahmen sie auch mich. Am nächsten Morgen setzten wir uns in Bewegung. Winnik setzte sich auf die Kalesche, während wir vier zufuß gingen. Na ja, aber irgendwann ab der Anhöhe setzten auch wir uns auf das Fuhrwerk. Was hatten wir denn schon groß an Sachen dabei! Wir fuhren bis nach Strelka, dann weiter bis nach Agul, Minuschka, Galunka, Romanowka Stariki, Sobolewka (Anhang 5). Das schafften wir alles an einem Tag. Im August sind die Tage lang. In Sobolewka, in der Nähe des Berges, errichteten wir unser Nachtlager. Winnik fuhr mit den Pferden weiter. Wir überlegen, wo er wohl die Nacht verbringen wird. Aber er durchwatete das Flüßchen und begab sich nach Stepanowka. In Sobolewka gab es schon keine Häuser mehr. Hier und da standen ein paar Pfosten, eine paar Zäune ... Wir entfachten ein Lagerfeuer, aßen zu Abend, was gerade so da war. Die Holzpfosten am Ufer waren zerbrochen; wir verwendeten sie für unser Feuer. Am Morgen erwachten wir. Was nun? Alle waren neu hier. Aber Konrad war schon mal hier gewesen. Er fuhr uns nach Stepanowka. Das Wetter war gut. Wir pflückten Beeren. Wir hören, daß Winnik ein Lied singt, und Danil Iwanowitsch fährt mit dem Boot. Er kommt herangeschwommen, wir verfrachten unsere Taschen, Konrad geht an die Ruderstange und Winnik fährt mit ihm. Und wir gehen auf dem angewiesenen Pfad. Wir gingen und gingen und gingen. Wir gehen auf das erste Haus zu, weit und breit ist niemand zu sehen, nur hohe Baumstümpfe. Weiter weg sahen wir eine Straße, dort begann die dörfliche Gegend“.

Auf diesem Wege also gelangte Jakob Karlowitsch in das Dorf Stepanowka, wo er inzwischen seit beinahe 60 Jahren mit seiner Familie lebt. Und arbeitet. Er beendete weder die Berufsschule noch irgendewelche Lehrgänge, aber arbeiten – das kann er. In der Heimat eignete er sich landwirtschaftliche Fachkenntnisse an, im Lager – den Umgang mit dem Vorschlaghammer. Hier lernte er, wie man Holz abflößt, Bäume fällt und anderes. Und immer war es schwere körperliche Arbeit.

Ab 1945 unterlagen die Verschleppten nicht mehr irgendwelchen besonderen Kontrollen. Dafür mußten sie sich aber einmal im Monat, mitunter auch seltener, abhängig von den jeweiligen Umständen und Gegebenheiten, beim Offizier der Sonderkommandantur melden und registrieren lassen, also unterschreiben, daß sie sich am Ort befanden. Niemand besaß das Recht, sich über die Grenzen des Bezirks hinaus zu entfernen. „Die Sonderumsiedler sind nicht berechtigt, sich ohne Erlaubnis der NKWD-Sonderkommandantur weiter als innerhalb des Bezirk, in denen sich die Wohnsiedlungen befinden, zu entfernen ... sind verpflichtet, drei Tage im voraus über alle Veränderungen bezüglich der Anzahl der Familienmitglieder Mitteilung zu machen ...“ (Sammlung von Gesetzes- und Normativ-Akten. Moskau 1993, S.113). Eine solche Einschränkung verletzte die Rechte der Bürger, aber man mußte sich unterwerfen. Die Verschleppten wurden zu Halbfreien, sie konnten frei arbeiten, nach freiem Willen halbhungrig bleiben, oder ihren Gedanken freien Lauf lassen und sich zwischen den einzelnen Arbeitsobjekten frei bewegen.

Die Hauptarbeit ist das Holzabflößen. „Die Flößarbeiten dauerten bis zum Spätherbst an, und zur Sommerzeit bauten wir Dämme (Wasserbautechnische Anlagen in der Art von Erdwällen, S. 310, Neues enzyklopädisches Wörterbuch, Moskau, 2002). Die Überreste der Dämme kann man heute noch am Fluß sehen, allerdings sind sie bereits ziemlich zerstört.

Die Dämme wurden zu dem Zweck gebaut, daß das Holz bei Hochwasser nicht in die Nebenarme und die Flußniederungen hineingetrieben wurde. Und falls es auseinandertrieb, mußte man es anschließend herausziehen. Das hatte sich bewährt. Später sagten alle, daß das eine richtige Idee gewesen war. Der Dammbau wurde vom Chef der Außenlagerstelle geleitet; man hatte eigene Oberingenieure und Meister. Alles wurde per Hand gemacht, Axt und Säge waren die wichtigsten Werkzeuge“. Es fällt auf, daß Jakob Karlowitsch mehr über Produktionsangelegenheiten spricht, als über den Alltag, über sein persönliches Leben, seine Interessen ... . Diese Gewohnheit gute Arbeit zu leisten hat er von seinen Eltern mitbekommen; sie ist seit seiner Kindheit tief in seinem Bewußtsein verwurzelt. Als Rußland-Deutscher erledigte er alles pünktlich und akkurat. Als er dann unter neuen Bedingungen arbeiten mußte, erlernte er alles, was man für das Holzabflößen wissen mußte. Er erlernte auch, wie man Dämme baut. Es wurde folgendermaßen gemacht: Ausgehend von einer Analyse der vorangegangenen Flößarbeiten, wurde für die Reviere, die befestigt werden sollten, ein Plan ausgearbeitet. Zur Sommerzeit stellte man „Böcke“ auf dem Eis auf – einen Baumstamm bis zu 5 m Länge auf zwei Füßen. In das Eis wurden Aushöhlungen geschlagen, in die man die Füße hineinließ, damit sie bis auf den Grund des Flusses reichten, um die Standfestigkeit dieser „Böcke“ sicherzustellen. Die Entfernung zwischen ihnen betrug 3-5 Meter. Manchmal, wenn der Wasserdruck hier besonders hoch war, steckte man noch zusätzlich Pfähle zwischen die „Böcke“. Das waren 2-3 m lange, nicht sonderlich dicke Pfosten aus Purpurweidenruten, die unten an drei Seiten angespitzt wurden. Warum nur an drei Seiten und nicht an vier? Mein Gesprächspartner erklärte mir, daß ein Pfahl mit drei Kanten sich unter der Einwirkung von äußeren Kräften nicht so leicht lockert und wackelig wird und sich nicht so schnell aus dem Boden herausdrückt, wenn dieser gefriert und dann wieder auftaut. Anschließend steckten die Flößer Sträucher senkrecht zum Flußbett auf, deren Gezweig eine Länge von 3-4 Metern, gerechnet von der höchsten Stelle des Ufer, bis auf Menschengröße oder noch niedriger hatte, abhängig von der jeweiligen Uferhöhe. Von oben umwickelten sie den Strauch mit Gerten, die sie untereinander mit Draht verschnürten. Eine solche künstliche Vorrichtung senkte sich beim Schmelzen des Eises auf das Ufer herab. Sand und Müll, vermischt mit Schlick, blieben darin hängen. Niedergedrückt vonm Gesträuch verwandelte es sich in ein Hindernis für das abflößende Holz, das gegen denn Damm prallte und dann, am Flußbett entlang, weiterbewegte. Übrigens lernte ich hier eine interessante, selbstgebastelte Vorrichtung mit der Bezeichnung „baba“ oder „babka“ („Ramme“; Anm. d. Übers.) kennen, mit deren Hilfe Pfähle eingeschlagen wurden (Holzklotz zum Einschlagen von Pfählen. Neues enzyklopädisches Wörterbuch, S. 82). Eine „baba“ wurde aus einem untergegangenen, mit Wasser vollgesogenen Stamm gefertigt. Meistens handelte es sich dabei um Lärchenholz, das, wenn es eine Zeit lang im Wasser gelegen hatte, sehr fest und schwer wurde. Man sägte einen kleinen Klotz davon ab, so dass vier Mann ihn hochheben konnten, und schlug vertikal vier Metallklammern hinein (Anhang 6). Auf das Kommando des Brigadiers wurde die „Ramme“ hochgehoben und auf den Pfahl fallengelassen. Hier mußte die Arbeit genau untereinander abgestimmt sein; niemand konnte sich hinter dem Rücken seines Kameraden verstecken. Und so erfüllten die Flößer in gemeinsamer Arbeit, bei dürftiger Verpflegung, die Normen, das Plansoll, die gestellten Aufgaben ... Und die Dämme?

Sie taten zehn Jahre lang ihre Dienste. Aufgrund ihrer Existenz erhöhte sich die Geschwindigkeit beim Abflößen. Und in den Folgejahren war das für die Flößer schon eine große Arbeitserleichterung. Außerdem schützte der Damm, der oberhalb des Dorfes angelegt worden war, bei Hochwasser vor Überschwemmungen. Auf diese Weise war der Flößer Jakob Karlowitsch von 1945 bis 1953 tätig. Fortgerissen aus der heimatlichenUkraine, durch den Willen des Schicksals, genauer gesagt – durch das von der Regierung erlassene Dekret, in die Weiten Sibiriens hineingeworfen, verstand er es, sich an das rauhe Klima zu gewöhnen, sich die für Waldarbeiten erforderlichen Fähigkeiten anzueignen, sich im neuen Arbeitskollektiv einzuleben, die Besonderheiten des sibirischen Charakters zu erlernen und ziemlich gut mit der russischen Sprache umzugehen ... In den erhalten gebliebenen Dokumenten sah ich die sehr schöne Handschrift meines Helden. Und was interessant ist: in seinen Aufzeichnungen sind ihm, allerdings äußerst selten, Schimpfwörter „herausgerutscht“, wie z. B. „Sch...“ oder

„Ar...“. Nachdem er ein Sibirjak geworden war, nahm er auch einen nicht wegzudenkenden Teil der sibirischen Umgangssprache an – die typischen Mutterflüche, die er allerdings nur in ganzen seltenen Fällen gebrauchte. Bei uns gibt es auch heute Männer und Frauen, die waschechte Mutterflüche aussprechen.

Kehren wir zu den Flößarbeiten zurück. „Auf dem Fluß kann man keine große Geschwindigkeit entwickeln. Daher mußten wir Schwimmbaracken bauen, mit denen wir dann auf dem Wasser fuhren (Anhang 7). Die Baracke wurde im Winter am Ufer errichtet. Sie war 20 Meter lang und 17 Meter breit. Zuerst bauten sie ein Floß aus geschälten Kiefernstämmen. Um sie miteinander zu verbinden sägten und schlugen sie Vertieferungen heraus, die sich zum Ende hin immer mehr verjüngten. In diese Stellen schlug man spezielle Dübel aus Fichtenholz ein, denn diese Holzart ist nicht so brüchig und spröde und verträgt Feuchtigkeit ziemlich gut. Solche Dübel wurden also aus dem Holz gehauen, angepaßt und dann entsprechend eingeschlagen. Ich und mein Kamerad namens Neu gingen los, um extra dafür Fichten auszusuchen. Die Dübel wurden an drei Seiten angespitzt: von unten und seitlich, wie bei einem Trapez. Dadurch bekamen sie das Aussehen eines Keiles, der es den Baumstämmen nicht erlaubte, sich nach den Seiten hin auseinander zu bewegen. Um die Dübel einzuschlagen, stellte man einen kleinen Bock auf, hängte eine „baba“ aus dem Wurzelstock einer Lärche von etwa 1 Meter Länge daran. Anschließend rüttelten sie heftig daran und schlugen auf den Dübel. Auf diese Weise trieben sie den Dübel hinein. 15 Stück gab es davon, und sie wurden im Abstand von jeweils etwa 2 Metern eingeschlagen. Danach legen wir, wie man sagt, die unterste Grundschicht auf das Floß. Die legt man so quer darüber. Wir dielen den Fußboden, stellen ein Gerüst aus Bohlen her, und bauen dann die Wände und das Dach aus Brettern. Innen gab es zu beiden Seiten Pritschen: in zwei Etagen. An den Enden waren Türen, zwei Türen. Vorn und hinten am Floß war Platz für die Rudervorrichtung. In einen quer verlaufenden Balken nahe am Rand hauten wir eine ganz besondere keilförmige Vertiefung, in die wir die Ruder hineinstellten, zwei vorn und zwei hinten. Wenn wir die Baracke ins Wasse hineinstoßen, stehen jeweils vorn und hinten zwei Männer am Ruder und steuern. Wenn die Strömung sehr schnell ist und die Drehung des Wassers sehr stark sind, dann mußten aber noch mehr Männer mithelfen. Das Floß wurde mit Hebebäumen ins Wasser gestoßen. Von unten legte man abgeschlagene Baumstämme darunter, und dan fingen sie unter dem Kommanda „eins-zwei, eins-zwei“ an zu schieben. Das machten sie mit den Händen. Wenn manmit dem Floß schwimmt und vorne lose Baumstämme treiben sieht, muß man sie sofort „wegschaffen“, und wer dann irgendwie frei war, der half den Steuermännern. Es kam auch vor, dass wir auf einer Sandbank festsaßen, dann mußte man sehen, wie man das Floß wieder abgestoßen bekam. Einmal, in Stariki, hatten wir uns festgefahren. Nach dem Säubern, wenn das ganze Holz an einem vorbeigeschwommen ist, wird der Wasserdruck niedriger, der Wasserspeiegel fällt plötzlich. Am Abend waren wir etwas weiter flußabwärts noch durchs Wasser gejagt, und am nächsten Morgen sehen wir, dass wir auf eine Sandbank gelaufen sind. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir waren insgesamt acht Mann. Am Abend hatten wir noch eine Trosse und so eine hölzerne Winde gefunden. (Ganz einfache Lastenhebevorrichtung, bestehend aus einer Trommel mit Handantrieb und auf die Trommel gespulten Seilen oder Ketten. Neues enzyklopädisches Wörterbuch, S. 211). Das ist ein Klotz mit Löchern, in die haben wir Stöcke hineingesteckt (Anhang 6). Anschließend drehten wir die Winde, die Trosse wickelte sich auf und wir zogen das Floß von der Sandbank. Und die anderen halfen von der anderen Seite mit den Hebebäumen.

In jeder Baracke stand ein gußeiserner Ofen, wie man sie mitunter heute noch in ländlichen Gegenden finden kann. Tische gab es nicht. Jeder aß auf seiner Pritsche. Eine der Baracken war die Küchenbaracke. Dort gab es auch eine Petroleumfunzel und einen Vorratsraum für Lebensmittel. Die Hälfte der Baracke wurde von der Lagerleitung eingenommen. Insgesamt gab es 3-4 Baracken. Hier waren 300 Menschen untergebracht. 1945 gab es hier auch noch Mädchen – Deutsche. Die arbeiteten auch in einer Brigade. Die Männer machten Waldarbeiten – und die Frauen auch. Und im Wasser trieben sie sich herum – genau wie wir. Und das taten sie ohne Stiefel. Ihre Stiefel - das waren ihre nackten Füße. Man gab uns Schnürschuhe. Das waren japanische Schuhe aus grobem Schweineleder. Sie waren „gb“ und uns von den Japanern zuteil geworden. Uns, den Dummköpfen, gaben sie sie, und wir trampelten damit auch los. Beim Mittagessen trockneten sie ein wenig, und dann ging es wieder los“.

So arbeitete Jakob Karlowitsch. So eine sibirische Erfinderung, wie die Schwimmbaracke, lenkt eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Immerhin war sie für den Flößer ein halbes Jahr lang die Behausung, in der sich das ganze gemeinschaftliche Alltagsleben abspielte. Hier schufen die Menschen sich ein Mindestmaß an erforderlichen Bedingungen zum Leben und Arbeiten. Es gab Pritschen, einen Ofen, eine Küche ... Aber 8 Jahre Flößerei, davon 4 Jahre ausschließliches Leben in der Baracke – das ähnelt auch ein wenig dem Lagerleben, wenngleich es keine Bewachung gab. So arbeiteten sie also. Hier gab es nicht nur Deutsche, sondern auch Russen, Ukrainer, Moldawier, Litauer ... In dieser Erzählung findet ein uraltes Hilfsmittel Erwähnung – die „Ramme“, d.h. es gab keinerlei mechanische Gerätschaften. Weder Motorboote, noch Kutter, Traktoren oder wenigstens eine mit Benzinmotor angetriebene Säge – alles mußte mit der Hand und mit einfachsten Vorrichtungen gemacht werden. Hunderttausende Kubikmeter Holz mußten sie abflößen. So wurden beispielsweise im Jahre 1948 insgesamt 300.000 Kubikmeter Holz zum Abflößen vorbereitet. Sehr beeindruckend ist ein Bericht über die Verwendung von Frauen bei den Flößarbeiten. Der Staat schonte seine Frauen nicht, die in der Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts so hoch gepriesen worden waren. Im 20. Jahrhundert machten sie die Revolution, nahmen am Krieg teil und ... flößten Holz ab. So war es. Interessant ist auch die Tatsache, dass man japanische Schuhe benutzte. Daraus läßt sich schließen, dass das eigene Schuhwerk nicht ausreichte. Wo kamen nun diese Schuhe her? Vermutlich gehörten die Schnürschuhe nach der Vernichtung Japans im Jahre 1945 zu den mitgenommenen Beutetrophäen. Und kamen damit unseren Flößern zur rechten Zeit sehr gelegen. Was dieses „gb“ bedeutet - nämlich „gebraucht“, „ausgemustert“ – das habe ich erst kürzlich gehört, als man an unserer Schule „gb“- Monitore im Komputerraum aufgestellt hat.

Bisher spricht Jakob Karlowitsch nicht darüber, wie sich der Staat ihm und seinen Kameraden gegenüber verhält, läßt nichts über die Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten verlauten. Schließlich gab es hier viele Deutsche, sie verstanden einander und sie hatten keine Zeit, sich mit nationalen Fragen zu befassen; alle mußten arbeiten. Sich in der Muttersprache zu unterhalten war nicht angebracht, was hätten die anderen denken sollen? Deutsche Lieder singen – das ist anstößig, sie verstehen sie nicht. Deswegen sprach man Russisch und besann sich erst innerhalb der Familie wieder auf die Muttersprache.

Für die schwere körperliche Arbeit war eine gesunde und ausreichende Ernährung notwendig. Wovon ernährten sich die Flößer? „In der Küche befand sich ein großer Kessel. Sie bringen die Ration, und dann kochten sie diese Wassersuppe. Von Haferbrei hatten sie bereits die Nase voll. Es gab nicht nur Brei,sondern auch Hafersuppe. Das waren solche Hafergraupen, ganz gewöhnliche, wie sie überall verbreitet sind. Fett hatten wir natürlich nicht. Man hatte seine Ration, erfüllte seine Norm – und dann bekommst du deine Ration. Alles hing davon ab, wieviel Prozent man vom Soll erfüllt hatte. Ich weiß nicht mehr, wieviel Gramm Brot sie einem für wieviel Prozent gaben. Kann sein, dass die Ration aus 950 oder 750 Gramm bestand. In der Kantine wurden Kartoffeln gekocht, manchmal gab es Fisch; an Fleisch kann ich mich nich erinnern. Manchmal gerieten auch Mäuse in den Kessel. Einmal wurde ich zum Koch ernannt. Das war 1946. Sie hatten einen Koch gefunden! Sie haben geschaut, wer was kann. Den Kessel hielt ich stets sauber. Wenn alle gegessen hatten, trug ich ihn sofort zum Ufer. Schnell, schnell, sauberschrubben. Na los, nun koch mal. Ich wollte nicht. Sagte zu ihnen: was bin ich denn schon für ein Koch? Aber – na gut! Und wo soll ich kochen? Am Ufer hoben wir eine Grube aus, damit dort der große gußeiserne Kessel genau hineinpaßte. Unsere Feuerstelle war auf dem Boden. Zum Abend hin müssen wir das Essen vorbereiten und Feuer anmachen. Ich machte alles fertig, so dass ich zum Schluß nur noch die Graupen hineinwerfen brauchte. Der Kessel war abgedeckt. Und trotzdem hat sich dann irgend so ein Bazillus, so ein Krankheitserreger, in ihn hineingeschlichen. Strom gab es dort nicht. Wir hatten nur Streichhölzer und Holzspäne zum Leuchten. Und an Streichhölzern hatten wir nicht so viele. Am Morgen kommen die Burschen zum Frühstück herbei, einer, zwei, drei ... Du nimmst die Schöpfkelle, füllst auf. Ich werfe einen schnellen Blick darauf und sehe, dass da etwas Schwarzes schwimmt. Ich blicke mich um, es ist niemand zu sehen, und schleudere den Kelleninhalt – zack – zur Seite. Nach vielen Jahren erzählte ich diese Geschichte meinen Freunden. Niemand ist an dem Essen gestorben. Ein Mäuschen war hineingeraten; es war in den Kessel geklettert. Ja, sowas gab es“.

Jakob Karlowitsch hat schon mehrfach erwähnt, dass man ihnen Wassersuppe zum Essen gab. Dem Sinn der Erzählung nach hat dieses Gericht nicht geschmeckt. Im erklärenden Wörterbuch habe ich das Wort nicht gefunden. Manchmal mußte Jakob zufuß 10 km weit gehen, um in Stepanowka Brot zu holen; es gab dort eine Bäckerei. Er nimmt das Brot, verstaut es ganz oben auf dem Floß, damit es nicht naß wird, und weiter geht es flußabwärts bis zur Baracke. Er krempelt die Hosenbeine hoch, steht mit den Beinen im Wasser. Er lenkt mit den Füßen, hilft mit der Flößstange, liefert das Brot ab. Am Ufer standen stets mehrere Flöße in Bereitschaft, die Lebensmittel zustellten. Jakob Karlowitsch nimmt an, dass, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die „Wasserprozeduren“ (die Arbeiten auf dem Wasser; Anm. d. Übers.) seinen Organismus angehärtet haben. Jedenfalls kann er sich bis jetzt über seine Beine nicht beklagen. Widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem Wort „Burschen“ (im Originaltext „chloptsy“; Anm. d. Übers.). Das ist ein typisch ukrainische Ausdruck. Er verwendet es häufig. Offensichtlich ist der Einfluß der ukrainischen Sprache bis heute bei ihm erhalten geblieben.

Mit der Flößerei kamen wir bis zur Stadt Kansk, zunächst auf dem Fluß Kungus, dann auf dem Agul und zuletzt auf dem Kann. Die gesamte Länge der Flößstrecke betrug 100 km. Heute geht unser ehemaliger Flößer oft an den Flußufern entlang oder wandert durch den Wald. Gedanklich versetzt er sich in seine Jugend, erinnert sich, indem er den vorbeirauschenden Fluß betrachtet, an seine arbeitsreichen Tage, seine Freunde. Viel Wasser ist seitdem geflossen, viele jahre sind vergangen, aber er wird sich immer daran erinnern, wie die geschwächten Arbeiter beim ersten Auftauchen von Bärlauch losgeschickt wurden, um ihn zu sammeln. Und am Abend, wenn für die Brigaden die Bilanz über ihre getane Tagesarbeit gezogen wurde, dann wurden diejenigen, die sich bei der Arbeit ausgezeichnet hatten, mit ganzen Büscheln dieses wilden Lauchs geehrt. Besonders prämiert wurden ein oder zwei Fischer, und dann konnten sie sogar etwas von der Fischsuppe probieren. Es gab Fälle, in denen sich Ziegenböcke auf den ungeordnet herumliegenden Baumstämmen die Beine brachen. Dann erlaubte der Meister, dass ihr Fleisch den Rationen hinzugegeben wurde. Diese zusätzliche Nahrung half den Flößern aus der Not. Wie Jakob Karlowitsch erzählt, aßen sie dann das Fleisch anstelle von Brot.

Obwohl es in den Gesetzen heißt, „dass die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Deportierten die gleichen sein sollten, wie die der Ortsansässigen, verhielt sich das im realen Leben ganz anders. Die Sonderumsiedler waren gezwungen, bis zur „Abnutzung“ zu arbeiten“ (Das gestrafte Volk, S. 108). Sie erhielten viel weniger Lohn. Es gab absichtliche Rechenfehler, Übervorteilungen, Betrügereien, und außerdem wurden 10% für das NKWD einbehalten.

Im Jahre 1948 zog sich die Flößsaison in die Länge. Der Herbst setzte erst spät ein. Auf den Flüssen schwamm ein lockerer Matsch aus Schnee und Eis. Aber das änderte am Leben der Flößer nichts. Sie huschten genauso durch das vereiste Wasser und triebendas Holz immer weiter. Es kam vor, dass die Schwimmbaracke im Fluß festfror. Dann mußten sie das eingefrorene Holz herausmeißeln und dann erneut weiterfahren, bis das gesamte Flußbett zugefroren war. In solchen Momenten entfachten sie allerdings am Ufer ein Lagerfeuer und arbeiten nur jeweils 10 Minuten. Danach wärmten sie sich am Feuer auf, tranken Schnaps – und dan gings wieder ins Wasser. In jenem Jahr bekamen alle Ausgesiedelten bei der turnusmäßigen Registrierung in der Sonderkommandantur eine Bescheinigung ausgehändigt. Jakob Karlowitsch mußte seine Unterschrift daruntersetzen. Obwohl er sagt, dass sie dem, was sie da unterschrieben, keine weitere Beachtung schenkten, wahrscheinlich, weil sie schon immer alles mögliche hatten unterschreiben müssen. Auf dem Papier stand:“ Mir, dem Ausgesiedelten Jakob Karlowitsch Obermann, geb. 1926, wohnhaft in der Ortschaft Stepanowka, Bezrik Irbej, Region Krasnojarsk, wird durch die Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 26.11.1948 mitgeteilt, dass ich auf immer zur Sonderansiedlung verschickt wurde, ohne das Recht auf Rückkehr an meinen früheren Wohnort, und dass ich bei eigenmächtigem Verlassen (Flucht) des Zwangsansiedlungsortes zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt werde“. (Anhang 8). Darunter befanden sich die Unterschriften von Jakob Karlowitsch sowie des MWD-Mitarbeiters. Die Verordnung selbst trägt die Überschrift „Über die strafrechtliche Verantwortung wegen Flucht von Personen aus den ständigen Zwangsansiedlungsorten, die während des Vaterländischen Krieges in die entlegenen Gebiete der Sowjetunion ausgesiedelt wurden“. Hier ein Auszug aus der Verordnung: „Um das Regime für die Ausgesiedelten zu verschärfen ... (es wird Bezug genommmen auf die Nationalität; darunter sind auch die Deutschen aufgeführt) ... und in Zusammenhang damit, dass ihnen unmittelbar während der eigentlichen Umsiedlung keine Mitteilung über die Dauer ihrer Ausweisung gemacht wurde, ... ist festzulegen, dass die Umsiedlung .... für immer .... gilt... Bei eigenmächtigem Verlassen (Flucht) ... unterliegt der Schuldige einer strafrechtlichen Verfolgung und wird dementsprechend zur Verantwortung gezogen“. Strafmaß – 20 Jahre Zwangsarbeit (Sammlung der Gesetzes- und Normativakte, S. 124).

Wenn die Machthaber das „Regime der Ansiedlung“ verschärfen wollen, bedeutet dies, dass dort eine gewisse Unzufriedenheit herangereift war, dass die Menschen auf ihre Freilassung warteten. Wenn es zuvor keine genau definierte Aussiedlungsdauer gegeben hatte, so wurde diese nun kurz und bündig rückwirkend festgelegt – „für immer“. Eine Bstrafung mit Zwangsarbeit sollte das Streben, den Wunsch der Menschen nach Freiheit unterdrücken. Und tatsächlich nahm die Zahl der Fluchtversuche nach Verabschiedung der Verordnung um das 3,5-fache ab. (Das gestrafte Volk, S. 104). In den Jahren 1948-1949 wurde eine allsowjetische Neuregistrierung der Sonderumsiedler durchgeführt. In deren Verlauf mußten die Deportierten neue Erniedrigungen durchstehen. Man nahm ihre Fingerabdrücke, machte spezielle Fotoaufnahmen (Anhang 9), notierte eine genaue Beschreibung ihres Äußeren und eventueller besonderer Merkmale. Das heißt, sie verhielten sich ihnen gegenüber wie zu Verbrechern. Im Laufe der Neuregistrierung wurde über Jakob Karlowitsch eine neue Personenakte angelegt, er selbst füllt einen Fragebogen aus, schriebseine Autobiographie (Anhang 10, 11, 5a). Diese Personenakte wurde 1956, nach Wegfall der beschränkungen, an das Archiv der Verwaltung für Inneres der Region Krasnojarsk übergeben (Anhang 12). Die deportierten Deutschen verloren das Recht, jemals wieder an ihre Heimatorte zurückzukehren. Und wohin sollten sie auch zurückkehren? Auf ihrem Grund und Boden hatte man ja bereits längst andere Menschen angesiedelt. Eigentlich hatte Jakob Karlowitsch auch gar nicht die Absicht irgendwohin zu fahren. Mit würde nahm er den Weg, den ihm das Schicksal vorherbestimmt hatte, richtete sich an seinem Platz ein, nahm seine Kräfte zusammen, packte überall mit an und „schrieb sogleich sein Leben in Reinschrift“. In den 1950er und 1960er Jahren unternimmt er 2-3 Reisen mit seiner Frau nach Alma-Ata zu Schwester Olga und Bruder Iwan ... Aber hauptsächlich spielt sich sein Leben hier in der Taiga ab. Er bleibt hier, so wie es angeordnet worden ist – für immer. Er ertrug alle Schicksalsschläge, zerbrach nicht an ihnen, war standhaft und zog mit seiner Frau die Kinder groß. Und zwang sich dazu, sich selbst zu achten.

1951 wurde in Stepanowka ein Lager errichtet. Die Lagerbrigaden mußten Holz fällen.

Wir flößten bis nach Stepanowka, und von dort aus begleiteten die Flößer das Holz auch noch weiter. „Dem Lager waren wir zwar nicht unterstellt, gehörten aber trotzdem in den Zuständigekitsbereich des MWD (Ministerium des Innern; Anm. d. Übers.). Die Leitung war ein und dieselbe. Der Lagerleiter gab dem Flößmeister eine Aufgabe, die dann von den Flößern erledigt wurde. So lange sich die Lager weiter flußaufwärts befanden, räumten die Häftlinge das Holz bis zur Mündung des Flusses Igil fort, und wir übernahmen es dann von hier an. Wenn es ihnen nicht gelang, das Abflößen auf den kleineren Flüssen zu bewerkstelligen, wurden wir ihnen zur Hilfe geschickt. Im Jahre 1953, als die Amnestie erteilt wurde, trieben wir zuerst Holz von Belousow Kljutsch über den Fluß Ambartschik ab, und dann flußaufwärts nach Igil, anschließend noch weiter flußaufwärts, bis zur Mündung des Kuscho. Wir baten darum, dass man uns nach Hause entlassen möge. Wir mußten erneut Lebensmittel und all das zusammenpacken, uns umziehen. Und dann gingen wir immer weiter flußaufwärts. Bis in das Dorf Ambartschik brauchten wir einen ganzen Tag. Wir überquerten den Fluß, kamen bis nach Igil, und kamen dann über den berg bis nach Ust Kuscho. Dort gab es ein Lager (Anhang 5). Innerhalb eines Tages schafften wir es bis dorthin. Danach begannen wir von dort aus Holz abzutreiben. Das machten wir bis zum 23. September. An diesem Tag machten sie mir das Angebot, als Normsachbearbeiter zu gehen. David Subbotin war der Lagerleiter. Er hatte nichts dagegen. Flöß-Ingenieur Krapiwin stellte mich für die neue Arbeit ein. So arbeitete ich bis 1957, bis zur Schließung des Stepanowsker Lagers, als Normierer“.

Auf diese Weise widmete J.K. Oberman 8 Jahre seines Lebens der Flößerei. Seine Flößrouten, seine Fuß-Märsche von Revier zu Revier, würden, wollte man sie zusammenrechnen, eine Länge von mehreren 1000 Metern ergeben. Alles hat er durchgestanden, alles durchgemacht, alles ertragen. Alle Weisheiten der Waldarbeit hat er sich angeeignet. Er hat gelernt, wie man mit Leichtigkeit über lose herumliegende Baumstämme läuft, wie man sie mit der Axt zerkleinert. Er hat gelernt, wie man „zapani“ baut. (Das sind bestimmte Stellen im Wasser, die mit Schwimmvorrichtungen eingegrenzt sind. Sie dienen dem Zurückhalten, der Lagerung und der Sortierung von Holz auf dem Wasser. Neues enzyklopädisches Wörterbuch, S. 394).

Meisterlich konnte er mit der Hakenstange umgehen. (Stange mit einem Metallhaken und einem spitzen Ende. Erklärendes Wörterbuch, S. 31). Ebenso lernte er, eine „Kantowka“ zu handhaben. Sie besteht aus einer kurzen Stange, auf die ein zugespitzter Bogen aus Metall aufgesetzt ist. Man braucht sie, um die dicken Baumstämme vom Ufer ins Wasser zu rollen (Anhang 6). „Zapani“ mußte er bis zum Eintritt ins Rentenalter bauen. Sie ernannten ihn für gewöhnlich immer zum Verantwortlichen. Obwohl es auch andere Flößer gab, die in der Lager gewesen wären so etwas zu bauen. Aber Jakob Karlowitsch wurde zum Vorarbeiterbestimmt, weil er der zuverläßigste, genaueste und gewissenhafteste war. Sie wußten, dass er keinen einzigen Zentimeter von den festgelegten Standards abwich, denn das bedeutete, dass die Konstruktion, die ganze Vorrichtung, dem Druck von Wasser und Holz standhalten würde. Denn er legte in diese Arbeit nicht nur sein ganzes Können, sondern war auch mit Herz und Seele dabei. Eine hervorragend ausgeführte Arbeit bereitete ihm selbst große Freude. Gute Arbeit ist eines der Hauptmerkmale seines Charakters. Er leistete nicht nur einfach seine Zeit bei der Arbeit ab, sondern machte sich in schöpferischer Weise an sie heran, genau wie in der Kunst. Und viele heben bis heute die Tatsache ihrer gemeinsamen Arbeit mit Jakob Karlowitsch hervor, weil sie ihn für einen beispielhaften, mustergültigen Arbeiter halten. Und sie führen dabei zahlreiche Beispiele an, in denen sie die nachahmenswerte Erledigung von Arbeitsvorgängen erwähnen: rechtzeitig mit der Arbeit zu beginnen, die 10-minütige „Raucherpause“ einhalten, rechtzeitig zum Mittagessen gehen, das Abendessen rechtzeitig einnehmen und die Arbeit um zehn vor vier oder zehn vor fünf zu beenden ...

Während des Flößbetriebes lernte Jakob Oberman Maria Leonhard kennen, die aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen deportiert worden war. Sie arbeitete in der Küche der Flößerbaracke. Ihr Vater, mein Urgroßvater, arbeitete ebenfalls in der Flößerei. 1949 gründeten die jungen Leute eine Familie. Es gab keinen Ort, an dem man wohnen konnte. Aber am Ufer stand eine kleine Kate, die man ihnen zuteilte, damit sie sie auseinandernehmen und sich dann eine neue Behausung bauen konnten. Sie rissen das kleine Holzhäuschen ab, flößten die Stämme bis ins Dorf hinab, bauten alles neu zusammen, und so kamen sie zu einem Häuschen für ihre junge Familie. Drei Kinder wurden geboren. Nach und nach errichtete der Hausherr drei Anbauten, und bis ins Alter, bis heute, leben sie dort noch. Niemals hat er irgendwelche Forderungen an den Staat gestellt, niemals einen Diebstahl begangen; alles hat er mit seiner eigenen Hände Arbeit gemacht, alles hält er selbst in Ordnung.

1955 verschaffte man den Rußland-Deutschen das Recht, innerhalb der Region, der Republik, ihren Wohnort zu wählen. Aber das galt nur für diejenigen, die eine Tätigkeit zum allgemeinen Nutzen der Öffentlichkeit ausübten. Es wurde festgelegt, dass sie nun verpflichtet waren, persönlich zur Registrierung bei den MWD-Organen zu erscheinen, und zwar einmal pro Jahr. Die bisher geltenden Strafen bei Verletzung der Ordnung wurden abgeschafft. Und als Wichtigstes stellte man sich die Aufgabe, die politische Arbeit unter den Sonderansiedlern zu verstärken. Außerdem konnte man sie jetzt zur Arbeit anspornen und für ihre werktätigen Erfolge auszeichnen. Man begann den Deutschen einige Rechte zurückzugeben. Aber es bliebihnen untersagt, an die Orte, an denen sie früher gewohnt hatten, zurückzukehren. Sie bekamen auch nichts für ihren in der Heimat zurückgelassenen Besitz. Das neue Gesetz berührte die Familie Jakob Obermans nicht. Er hatte bereits zwei Kinder, hielt eine Kuh, Schweine und etwas Kleinvieh. Sich von diesem Ort loszureißen, auch wenn es nur innerhalb der Region war, wäre schon nicht leicht gewesen. Und so ließ er alles so, wie es war. Und die Deutschen waren ja auch nicht daran gewöhnt, die Stützen und Grundpfeiler ihres Lebens jäh abzubrechen. „Die meisten deportierten Deutschen und Kalmücken übten schweigend Geduld und ergaben sich in ihr Schicksal. Die Deutschen legten bei dem Versuch, aus der Sonderansiedlung wieder in die Freiheit entlassen zu werden, keine sonderlich großen Aktivitäten an den Tag“ (Das gestrafte Volk, S. 112). So fügte sich auch Jakob Karlowitsch und faßte sich in Geduld.

Im Jahre 1964 wurden die Deutschen rehabilitiert. 1972 wurden die Beschränkungen bezüglich der Wahl des Wohnortes gegen sie aufgehoben. J.K. Oberman wurde am 31. Januar 1956, aufgrund des Dekretes des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955, aus der Sonderansiedlung freigelassen. (Anhang 12).

1957, nach der Liquidierung des Lagers, eröffnete man in Stepanowka ein Holzbeschaffungsrevier. Die Garage ging in den Zuständigkeitsbereich des neuen Reviers über, in den Baracken wurden Arbeiter untergebracht und in den ehemaligen Gebäuden der Wachmannschaften wurde eine Schule eingerichtet. Alle Lagerobjekte wurden nun für den Holzbetrieb genutzt. Und Jakob Karlowitsch fuhr fort, sich ein paar neue Berufe zueigen zu machen: neben den bereits erworbenen Fähigkeiten für seine Funktion als Normsachbearbeiter beherrschte er nun auch bald die eines Holzzerlegers, Holzfällers, Brigadiers, Produktionsüberwachers und Abladearbeiters. Das Leben lehrte ihn, sich mit dem Wald auf „du“ zu unterhalten.

„Da war Jegorow, der Leiter des Flößreviers. Er kannte uns Flößer alle. Zu unserem Kungussker Revier gehörten die Dörfer Minuschka, Galunka, Stariki, Stepanowka. Zu dieser Zeit arbeitete Jegorow unweit von Kansk – in Lobanowo (Anhang 5). Er kam am 16. August 1957 und schlug vor, das Holz aus den „zapany“ fortzutreiben. Einen Monat blieben wir dort. Di Genehmigung für die Abwesenheit aus beruflichen Gründen mußte verlängert werden. Die „chlopzy“ (Burschen; Anm. d. Übers.) sagen: fahr du! Du kannst Lesen und Schreiben, Du weißt, wie das geht. Ich wollte nicht, aber es mußte ja gemacht werden. Ich mußte zur Kommandantur fahren, mich melden und registrieren lassen. Die Kommandantur befand sich in Kansk. Sie mußten wissen, wer man war, damit sie, wenn sie einen unterwegs aufgriffen, überprüfen konnten, dass man nicht versucht hatte zu fliehen“. Hier erzählt der zur Arbeit an einen anderen Ort Abkommandierte davon, wie schwierig es zu jener Zeit war, nach Kansk zu gelangen: entweder zufuß, mit Übernachtung in irgendeinem Heuschober, oder man hatte Glück und ein vorüberfahrendes Fahrzeug nahm einen mit. Kurz gesagt, die Georgraphie der ufernahen Dörfer lernte man nicht aus Büchern, sondern man erfuhr sie mit seinen Beinen. Bis heute kann er sich hervorragend daran erinnern. Es war noch gut, dass die Flößer in jedem Dorf ihre kleine Durchreise-Kate hatten, in der man sich aufwärmen, übernachten und einen Kanten Brot essen konnte, um dann bei Tagesanbruch seine „Reise“ fortzusetzen. In solchen Fällen, wenn Jakob Karlowitsch mit sich allein war, machte er sich nicht nur einmal Gedanken über die Widrigkeiten seines Schicksals. Warum war das Leben so verlaufen? Als er 14 war, verlor er die Mutter. Kurz darauf starb der Vater. Warum verschlug das Schicksal ihn nach Sibirien? Konnte man daran etwas ändern? Weswegen hatte man tausende von Menschen dorthin verschleppt? Er kam zu folgender Antwort: wie es gekommen war, so hatte es kommen müssen. Er fragte sich: lebe ich richtig, wenn ich mich so verhalte? Und er gab sich selbst die Antwort: es gab ja keinen Ausweg. Man mußte sich unterwerfen, man mußte arbeiten. Arbeit, und er hat sich vor Arbeit niemals gedrückt, erleichterte die Seele, brachte Ablenkung von den traurigen Gedanken. Er kam zu dem Schluß, dass, wenn die Umstände sich nun einmal so entwickelt hatten, man sich ihnen auch unterwerfen mußte. Er begriff, dass der Staat mit ihnen grausam umging, dass ihnen der Stempel politischer Unzuverlässigkeit aufgedrückt worden war. Aber er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass nicht nur die Deutschen verschleppt worden waren, sondern auch andere.

Also gibt es nur einen Ausweg: man muß in schwierigen Bedingungen Mensch bleiben, sich nicht unter Freunden, Kameraden und neuen Landsleuten mit Schmach bedecken. Und Freunde hatte er immer, auch jetzt noch. Da ist zum Beispiel Aleksander Karlowitsch Schneider. Auch er hat drei Kinder. Allerdings war er immer in einer leitendden Position. Aber das hatte auf ihre Freundschaft keinen Einfluß. Anfag der 1970er Jahre fuhr er nach Usbekistan, anschließend in das Uljanowsker Gebiet und schließlich nach Deutschland. Aber er schreibt immer Briefe, und manchmal besucht er seinen Freund sogar. Konrad (Kondrat) Funk begab sich in die Region Kemerowo. Hier hat er noch eine Tochter. Er hat sie nicht im Stich gelassen, hilft ihr. Er kommt zu Besuch und schaut bei seinem Freund herein. Da waren auch noch Neu, Gaas (Haas), Schmidt und andere. Auch unter den Ortsbewohnern gibt es gute Bekannte. Diese Freundschaft und gegenseitige Unterstützung halfen Jakob Karlowitsch hier in Sibirien durchzuhalten. Andererseits hat der ehemalige Repressierte, nach den Worten seines Sohnes, auch noch einen weiteren Gedanken zum Ausdruck gebracht. Und zwar diesen: ohne Stalin auch nur im geringsten zu rechtfertigen, ist Jakob Oberman der Meinung, dass, wenn es keine so strenge Ordnung gegeben hätte, „dann hätten wir mit unserem Volk auch nicht so viel aufbauen können“. Was meint er damit? Er ist der Ansicht, dass unter unseren Arbeitern folgende Meinung herrscht: weniger arbeiten, mehr bekommen, bei der Arbeit Vorteile für sich selbst ziehen, andere betrügen. Viele haben ihm gesagt: was denn? Wozu brauchst du mehr als alle anderen? Oder: der Staat wird nicht ärmer! Und das ist deswegen so, weil er seine Pflichten einfach immer gewissenhaft erfüllt hat. Auch nach solchen Äußerungen hat er sich nicht geändert, sondern aufrichtig weitergearbeitet. Und sein Gewissen gegenüber sich selbst und der Gesellschaft ist rein. Er muß sich vor seinem Volk nicht schämen. Vielleicht hat er durch das gute Beispiel, mit dem er voranging, nicht nur einem Arbeiter geholgen, seine Einstellung zur Werktätigkeit zu ändern. Jakob Karlowitsch lebt auch heute noch genau nach Plan: er steht um 6 Uhr morgens auf, ißt um 12 Uhr mittag und nimmt immer zur gleichen Zeit sein Abendessen ein. Auch die Heumahd verlief in seiner Familie immer planmäßig: sie begann um 8 Uhr, Mittagessen von 12-13 Uhr, Arbeitsende um 17 Uhr. Alles wie bei einer regulären Arbeit. Dadurch, dass er sich selbst solche zeitlichen Rahmen gesteckt hat, gibt er sich und den ihn Umgebenden keine Möglichkeit, sich gehen zu lassen. Insgesamt gesehen siegt das Gemeinsame. Manch einer macht sich darüber lustig, andere nehmen es als gutes Beispiel. Wenn alle sich so gewissenhaft bemühen würden, könnten all unsere Probleme viel schneller gelöst werden.

... Als er jenes Mal aus Kansk zurückkam, gelangte er mit Mühe innerhalb eines Tages bis nach Irbej. Und das sind immerhin 80 km. Aber offenbar nahm er den direkten Weg. Es gab da so eine alte Straße, über die damals noch die Umsiedler gingen, auf der die Gefangenen- und Repressierten-Etappen sich vorwärts bewegten. Etwa 20 km wurde er in einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen, das Korn zum Getreidespreicher brachte. Und am Morgen ging es dann weiter. Nun mußte er mit Hilfe eines Plaschkout (Schubkahn ohne Eigenantrieb zum Transport von Lasten auf dem Oberdeck. Neues enzyklopädisches Wörterbuch, S. 924) über den Fluß Kann übersetzen. Vor ihm lagen noch 60 km.

„Der Holzkahn war noch nicht da. Aber ich sah ihn schon herankommen. Ich sage so und so, ich muß schnellstens auf die andere Seite. Aber ein regelmäßiger Transportverkehr war hier nicht vorgesehen, und so mußte ich zusehen, dass ich zufuß vorwärts kam. Aha, der Weg war naß und natürlich schmutzig, und ich ging und ging und ging ... Es regnete von morgens bis abends. Ununterbrochennieselte es. Meine Strickjacke war schon durch und durch naß. Bis Taloj werde ich wohl kommen, dachte ich bei mir. Da kann ich kurz ins Geschäft gehen und von dort irgendetwas mitnehmen. Ich stehe davor – alles geschlossen, und ich besaß nur noch ein unter der Hand erworbenes Glas Butter und einen Kanten Brot. Ich ging weiter bis nach Kremschtschenka. Dort, auf dem Hügel, gab es einen Laden. Und nun? Ich nahm eine Flasche Wodka, bißchen Süßigkeiten, bißchen Eßbares. Am Ausgang setzte ich mich auf ein Kiefernhölzchen, nahm eine kleine Mahlzeit ein. Und es regnete immer noch. Ich trank einen Schluck, und dann ging ich weiter.Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ich nun schneller vorwärts kam und fröhlicher war. Es wird bereits dunkel. Schon ist der Abend hereingebrochen. Jedenfalls schaffte ich es bis nach Pokrowka (50 km von Irbej entfernt). Und wohin jetzt? Es ist schon dunkel. Ich begab mich zum Pferdehof, dort gab es ein Kontor. Ich schaute kurz beim Wärter hinein, so und so. – Leg dich nur hin! Wie soll dir das denn jemand verbieten?! Und so richtete ich mein Nachtlager her. Ich aß noch bißchen, und dann schlummerte ich ein. Am Morgen stand ich früh auf, es war noch dunkel, es war ja Herbst. Und wieder ging es weiter. Um 8 Uhr kam ich zuhause in Stepanowka an. So lange zog sich in der damaligen Zeit eine Dienstreise hin.

Wieder gerät J.K. Oberman in einen Regenschauer. Aber diesmal ohne Folgen. Scheinbar hat er nicht umsonst aus dem Laden eine Flasche Wodka mitgenommen. Vielleicht hat sie ihm geholfen, gesundheitliche Mißgeschicke abzuwenden. Brot nennt er immer ganz zärtlich: Brotlein, Krüstchen. Damals wußte man, was Brot wert war. Schenken wir unsere Aufmerksakeit dem Wort „bißchen“. So, wie es hier benutzt wird, ist es charakteristisch für die Sibirjaken. Das bedeutet, dass Jakob Karlowitsch von den Ortsbewohnern bereits sibirische Wörtchen übernommen hatte. Und Holz nennt er zärtlich „Kiefernhölzchen“. Entweder, weil er sich hier gut einlebte, wurde ihm die Natur zu etwas Heimatlichem, oder er muß sie von ganzem Herzen geliebt haben. In seiner Sprache gibt es auch Wortwiederholungen: „Ich ging und ging und ging“. Auf diese Weise unterstreicht er den endlos langen Weg, den er an jenem Tag zurücklegen mußte. Manchmal geschieht etwas sehr Merkwürdiges: wenn er sich and ie Vergangenheit erinnert, ist es so, als ob er die Handlungen, die er damals in der einen oder anderen ähnlichen Situation ausgeführt hat, jetzt noch einmal wiederholt und dabei auch mit sich selber spricht. Die deutsche Sprache gerät immer mehr in Vergessenheit, das Ukrainische hat er auch vergessen – nur die russische Sprache ist geblieben, mit sibirischem Dialekt. Daraus kann man den Schluß ziehen, dass die Repressionen und die Deportation die Kultur der Umsiedler haben verarmen lassen. Unter anderen Umständen und Bedingungen, wenn es keine Ausweisung gegeben hätte, wäre zu erwarten gewesen, dass Jakob Oberman 3 Sprachen sprechen konnte. Aber die Verbannung begrenzte das Anwachsen seiner kultureller Fähigkeiten. In Vergessenheit geraten sind die Sprachen und mit ihnen auch die Lieder. Das einzige, was aus all den Beschränkungen hervorbrechen konnte, ist die Leidenschaft für das Spielen auf der Ziehharmonika. Und er hat gut darauf spielen gelernt. Er spielte und spielt russische Lieder. Sein Lieblingslied heißt „Lisaweta“. Auch heute noch spielt er diese und andere Melodien gern vor; seinen Ziehharmonika ist schon 47 Jahre alt und befindet sich in gutem Zustand.

Und noch etwas: Jakob Karlowitsch war niemals Kommunist, sondern hat sein Leben lang immer die Zeitung „Prawda“ abonniert. Für ihn war es wichtig zu wissen, wovon das Land lebt, welche Ereignisse sich zugetragen haben. Und es ist erstaunlich, dass er und Maria Alexandrowna nicht eine einzige Wahl ausgelassen haben. Sie ziehen sich immer hübsch an und gehen zur Wahl. Das halten sie für ihre Pflicht. Und das bedeutet, dass sie sich bis heute nicht gleichgültig gegenüber ihrem Land verhalten. In der Kindheit hatte es für Jascha nicht einmal eine Pionierorganisation gegeben. Dafür begann man sie in den 1950er Jahren heranzuziehen, als man der politischen Arbeit unter den Deutschen eine gewisse Aufmerksamkeit widmete. Man ließ sie merken, dass auch sie Staatsbürger waren.

Um nun zur Verlängerung der Dienstreise-Genehmigung nach Kansk zu gelangen, mußte er auch ein Boot benutzen. Einmal schlug der Obermechaniker, Leutnant Muchomorow (das war noch während der Lagerzeit), Jakob Oberman vor, mit ihm in einem ausgehöhlten Boot zu fahren, das er bei einem alten Umsiedler für 100 Rubel gekauft hatte. Aber er konnte es nicht allein lenken. Jakob Karlowitsch erklärte sich als erfahrener Flößer einverstanden. Innerhalb eines Tages schwammen sie bis zur Mündung des Kungus. Das waren immerhin 100 km. Damals standen an den Ufern Kilometer-Pfähle. Gezählt wurde vom Unterlauf des Flusses in Richtung Oberlauf. So konnten die Flößer bequem sehen, was für eine Strecke sie während der Arbeit zurückgelegt hatten. Dadurch konnte man die Arbeit besser planen und den Flößbetrieb kontrollieren. Am Ufer führte eine Telefonleitung entlang; sie verlief durch alle ufernahen Dörfer. Die Umsiedler-Dörfer lagen jeweils 5-6 Kilometer voneinander entfernt. Das hatte man für Wirtschaft und Lebensalltag für notwendig befunden. Eine solche Entfernung konnte man bei flottem Schritt innerhalb einer Stunde bewerkstelligen. Davon konnten ich und meine Freunde uns überzeugen, wenn wir zum Beispiel zufuß in das Dorf Ambartschik gingen. In jedem Dorf gab es ein Telefon, die Telgraphenmasten stehen dort heute noch. Damals telefonierte man folgendermaßen: du drehst die Kurbel am Telefon einmal – und im Dof Stariki wird der Hörer abgenommen, zweimal – Romanowka, dreimal – Galunka, viermal – in der Ortschaft Irbejskoje ... Die Telefonverbiondung war für die Übermittlung von Informationen zum Flößbetrieb, die Entgegennahme von Anweisungen von der Leitung, die Mitteilung über etwaige Fluchtversuche von Häftlingen, usw., unabdingbar.

Von dieser turnusmäßigen Reise nach Kansk kehrte Jakob Karlowitsch wohlbehalten zurück. Aber aus Kansk mit dem Boot flußaufwärts fahren, dazu konnten sie sich nicht entschließen. Das war zu mühsam und langwierig, denn Motorboote gab es damals noch nicht. Der Rückweg wurde zufuß zurückgelegt, oder man fuhr auf irgendeinem vorbeifahrenden Transport-Fahrzeug mit.

Von 1957 –1981, bis zu seinem Renteneintritt, arbeitete Jakob Karlowitsch hauptsächlich bei der Beschaffung, Zerkleinerung und Abfuhr von Holz (Anhang 13). Und nur wenn es erforderlich war, dass er den Normsachbearbeiter vertrat, schickten sie ihn vorrübergehend ins Kontor. Wenn es um Dokumente ging, füllte er diese immer äußerst akkurat aus. Daran können ehemalige Arbeitskollegen sich noch heute gut erinnern. Ein Arbeitsbuch bekam er erst im Jahre 1957. Die erste Eintragung wurde 1945 vorgenommen, die letzte 1986. Nachfolgend eine Auflistung seiner Tätigkeiten in der richtigen Reihenfolge: Flößer, Normsachbearbeiter, Arbeiter in der Holzbeschaffung, Planer, Arbeiter in der Holzbeschaffung, Holzstapler, Normsachbearbeiter, Holzzerleger, Dispatcher, Verantwortlicher beim Fortziehen von Baumstämmen, Arbeiter in er Holzbeschaffung. Nach den Einträgen im Arbeitsbuch zu urteilen, mochte er ehemalige Flößer nicht gern für lange Zeit im Büro sitzen und kehrt deshalb wieder in die Arbeitsbrigade zurück. Er war der Meinung, das sei sein Platz innerhalb der Arbeiterklasse. Die erste anspornende Belohnung erhielt er 1959, am Vorabend des 1. Mai-Feiertages. Insgesamt sieht die Liste seiner Verdienste so aus:

Jahr und Art der Belohnung

In 22 Arbeitsjahren erhielt der Holzfäller 29 Belohnungen. Diese Liste zeigt, dass Jakob Karlowitsch wirklich ein Spitzenarbeizer war. Das Interessante daran ist, dass die meisten Belohnungen moralischen Charakter in sich tragen. Widmen wir unsere Aufmerksamkeit der Tatsache, dass es in den vorangehenden 14 Jahren, also bis 1959, keine Belohnungen gegeben hat. Sie tauchten erst zwei Jahre nach der Schließung des Lagers auf. Aber das heißt nicht, dass ein Mensch schlecht gearbeitet hat, es bedeutet, dass Jakob Karlowitsch als Repressierter kein Recht auf solche Belohnungen besaß. Dies zeigt einmal mehr, dass die Verschleppten nicht als vollwertige Bürger ihres Landes galten. Und sobald er in ein normales Unternehmen geraten war, wurde es zur Regel, dass er, mitunter 2-3 Male pro Jahr, von der Geschäftsleitung wegen gewissenhafter Arbeit einen Eintrag bekam.

Außer den speziellen Fähigkeiten, die man in er Waldwirtschaft braucht, beherrschte der nun bereits fest verwurzelte Sibirjak auch meisterlich das Fach des Ofensetzers. Noch im Jahre 1953 brachten Häftlinge ohne Wachtbegleitung Jakob Karlowitsch einen Ofen. „Sie versuchen ihn zu heizen, aber er brennt nicht. Damals verstand ich noch herzlich wenig davon. Aber trotzdem kroch ich in den ersten Schacht. Ich sah, dass er vertikal verlief. Der Rauch kam mir entgegen und wich zu den anderen Schächten hinaus. So ging die ganze Wärme verloren. Die russischen Öfen hatten eine Herdplatte und eine Bratröhr. Da begann ich zu überlegen, wie man den Ofen verbesern könnte. Ich nahm alles auseinander, fand Unstimmigkeiten und beseitigte sie. Und der Ofen funktionierte. Ich war selbst darauf gekommen, hatte es selbst erlernt“. Später wandten sich nicht nur einmal Landsleute an Jakob Karlowitsch, damit er ihnen einen russischen Ofen baute. Er lehnte auch nicht ab, wenn sie mit dem einen oder anderen Gesuch zu ihm kamen, denn er besaß schließlich eine für jene Zeit ziemlich gute Bildung. Sie baten ihn damals auch, den Trockenspeicher für das Korn abzureißen, und nachdem er dann in Rente gegangen war, begann er Birkenbesen zu binden, von denen er manc einen verschenkte und andere wiederum verkaufte.

Was die Höhe des Arbeitslohnes angeht, so bemerkt Jakob Karlowitsch, dass der Verdienst natürlich sehr gering war. Aber die Hilfswirtschaft half ihnen ganz gut. Als sie zur Holzfällerei übergingen, nahm er sein „Mittagessen“ mit. Zu Hause machte er eine Tasche mit Essen fertig: eine Flasche Milch, Brot, ein paar Eier, etwas Speck ...Und wenn er an der Holzabladestelle arbeitete, ließ er die Tasche in der Kabine des Traktors zurück, denn er wußte nie, wo er sich zur Mittagszeit gerade aufhalten würde. Dies hatte zur Folge, dass die Milh in der Flasche bis zum Mittagessen zu Butter geworden war. In der Produktion wurde ein Wettbewerb für kommunistische Arbeit veranstaltet. Die Brigade unter der Leitung J.K. Obermans war eine der führenden. Als die Frage aufkam, welche der Gruppen nun die Bezeichnung „Brigade kommunistischer Arbeit“ verliehen bekommen sollte, sagte der technische Leiter Tschutschko: worin liegt denn für euch der Unterscheid, ob man im kommunistischen Sinne oder einfach nur so hervorragend arbeitet? Arbeiten muß man sowieso. Und die Brigade pflichtete ihm bei. Im Jahre 1963 erhielt sie das „Diplom des Kollektivs für kommunistische Arbeit“ und jeder Arbeiter ein Zeugnis, das ihn als Bestarbeiter auswies (Anhang 18a). Die Menschen wollten mehr verdienen, und wenn keine vernünftigen technischen Hilfsmittel zur Verfügung standen oder es keine Ersatzteile gab, dann verlangten die Arbeiter, dass sie mit allem Nötigen versorgt wurden. Und dann strengten sie sich mit aller Kraft an. Und was die Brigade der kommunistischen Arbeit betraf, so meint Jakob Karlowitsch, dass „es lediglich eine Formsache war“. Sie arbeiteten für Geld, für Lohn, damit sie ihre Familien ernähren, ankleiden, mit Schuhen ausstatten konnten ... Aber was diese „kommunistische Arbeit“ sein soll, das fällt ihm auch heute schwer zu erklären. „Man brauchte Geld. Wenn man die geforderte Kubikmeterzahl geschafft hatte, dann gab es auch Geld. Trotzdem verdienten wir nicht viel. Wenn eine Reinmachefrau 260 Rubel bekam (nach der Reform waren das noch 26 Rubel), so bekamen auch wir 260-270 Rubel, später 300-360 Rubel. Als wir 360 Rubel hatten, da fing es schon an, uns besser zu gehen. Da sagte man, das is schon etwas anderes, als mit 260 Rubel auskommen zu müssen. Jakob Karlowitsch erinnert sich an ein große, einmalige Lohnzahlung in Höhe von 1200 Rubel. Damals hatte er aus Kansk ein Grammophon mitgebracht. Heute befindet es sich im Museum unserer Schule und ist in einem so guten Zustand, dass man es benutzen könnte. Er kaufte auch Chromlederstiefel für sich und seine Frau. Frauen trugen damals auch chromlederne Stiefel.

Ende der 1960er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als der Orden der Oktoberrevolution aufkam, stellte sich die Frage, ob man Jakob Karlowitsch diesen Orden verleihen sollte. Der Vorschlag wurde eingebracht, man erstellte ein Gutachten und erkor den Holzfäller in allen Parametern zum geeignetsten Kandidaten. Bestarbeiter, herzensguter Familienvater, trinkt nicht, raucht nicht, aber – er gehörte nicht der KPdSU an. Alle wußten bereits, dass man Oberman für die Auszeichnung vorgeschlagen hatte. Aber er wurde nicht angenommen, weil er kein Kommunist war. Sie fanden einen anderen – einen Frontsoldaten, Kommunisten, der sich auch verdient gemacht hatte. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass man ihm den Orden in Anbetracht seiner Vergangenheit nicht ausgehändigt hat – verschleppt, repressiert, deutsche Nationalität ... Das heißt, die Machthaber waren immer, in allen Lebensetappen unseres Helden, ungeachtet seiner Menschenwürde, der Meinung, dass sie es mit einem nicht gleichberechtigten Staatsbürger zu tun hatten. Und im gegeben Fall, wie zum Beispiel die Angelegenheit mit dem Orden, berücksichtigte man den Faktor der Deportation, den Faktor der Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität. War Jakob Karlowitsch gekränkt oder böse über eine derartige Haltung ihm gegenüber? „Ich kann mich über so etwas nicht annähernd gekränkt fühlen. Das hat ja nicht ein Mensch allein gemacht. Das war ja der Machtapparat. Er fürchtete sich vor dem Volk und verschleppte uns hierher. Und als sie uns auswiesen, da war keine Zeit darüber nachzudenken. Sie gaben den Befehl und wir fuhren. Sie gaben uns 24 Sunden Zeit und dann mußten wir los“. Wenn er den Ausdruck „ein Mensch“ benutzt, dann meint Jakob Oberman offenbar I.W. Stalin. Aber er möchte dessen Namen nicht deutlich heraussagen. Weshalb? Es ist anzunehmen, dass der Rentner nach wie vor Angst davor hat, etwas Überflüssiges, Unnötiges auszusprechen. Oder das Leben hat ihn gelehrt, seine eigene Meinung nicht bis zum Ende hervorzubringen. Möglicherweise steht er dieser Frage auch kritisch gegenüber, weil er begriffen hat, dass nicht Stalin allein regierte.

In Jakob Karlowitschs Antwort klingt noch eine weitere Meinung durch: die Machthaber („sie“) fürchten sich vor dem Volk. Weil sie auch schon in den 1920er und 1930er Jahren Menschen verschleppten - aus allen Schichten der Bevölkerung. Aber die Mehrheit von ihnen waren einfachere Leute gewesen – vielleicht war das auch der Hauptgrund. Sie verschleppten alle, von denen zu erwarten war, dass sie denkfähig waren. Wofür? Du schaffst es auch nicht, auf diese Frage innerhalb von 24 Stunden eine Antwort zu finden.

Kürzlich hielt Aleksej Andrejewitsch Babij („Memorial“-Gesellschaft) an unserer Schule einen Lektion über Represionen. Dabei nannte er noch einen weiteren Grund für die Massenrepressionen: für den Aufbau des Sozialismus brauchte man billige Sklavenarbeit. Und die bekam der Staat von den Repressierten. Diese beiden Gdanken: Angst vor dem Volk und billige Arbeitskraft – scheinen mir wahrscheinlich zu sein. Jedenfalls, wenn man nicht tiefer in die Politik eindringt.

Jakob Karlowitsch Oberman sagt, dass er sich nie mit Politik befaßt hat. Aber man versucht ihn, den Bestarbeiter, stets zu Partei-Angelegenheiten heranzziehen. Nicht nur einmal schlugen sie ihm vor. in die Kommunistische Partei einzutreten. „Einmal schlug ein Sekretär das vor, und ich erwiderte: ich bin kein Kommunist, ich bin ein ehrenhafter parteiloser Bolschewik, ein ehrenhafter Bolschewik. Das war alles, was ich ihm sagte. Ich wollte nicht in die Partei eintreten. Und sie bestürmten und bedrängten sie die Leute, versuchten einen aus den Reihen der werktätigen Kommunisten anzuwerben; aber ich lehnte ab“. Daraus folgt, dass Jakob Karlowitsch der Meinung ist, dass es sich bei den Begriffen Kommunist und Bolschewik um unterschiedliche Dinge handelt. Sich selbst hält er für einen ehrenhaften Bolschewiken. Das heißt, dass bei den Arbeitern die Einstellung zum Kommunismus in einem gewissen Maße negativ war. Und wenn er sich als ehrenhaften Bolschewiken bezeichnet – wer waren dann seinem Verständnis nach jene Kommunisten?

Beim Studium der Dokumente des ehrenhaften Bolschewiken machte ich auch Bekanntschaft mit seinem Militärpaß, der ihm am 7. April 1964 vom Irbejsker Bezirkskriegskommissariat ausgehändigt wurde. In der Spalte „Einstellung zum Militärdienst“ befindet sich ein Eintrag, dass Oberman am 11. Januar 1957 in die Reserveliste aufgenommen wurde. Er erhielt die militärische Rangbezeichnung „gewöhnlicher Soldat“, mußte jedoch keinen Eid leisten. In einer anderen Spalte steht: „Ohne Ausbildung tauglich zum Frontdienst“. 1966 kam die Anordnung zur Mobilisierung, die 1967 wieder gestrichen wurde. Registriert am 10.04.1964, Streichung aus dem Militärregister am 17.01.1977. D.h. im Alter von 31 Jahren wurde Jakob Karlowitsch Wehrpflichtiger,und das bedeutet, dass der Staat ihm 12 Jahre nach Kriegsende das Recht und die Pflicht zurückgab, sein Vaterland zu verteidigen. Die repressierten Deutschen erhielten das für die Männer so wichtige Recht auf Verteidigung zurück. Diese Anerkennung gab ihnen moralische Genugtuung. Und die jungen Leute wurden wieder in die Armee einberufen. So wurde mein Großvater Robert Aleksandrowitsch, der Bruder von Jakob Karlowitschs Ehefrau, 1959 in die Armee geholt und diente drei Jahre lang bei der Luftwaffe. Sein Bruder Viktor wurde 1961 einberufen, Bruder Jurij 1968. Der Sohn Jakob Obermans – Viktor – diente von 1968 – 1971, der zweite Sohn- Wladimir – wurde 1979 einberufen .... Bis heute werden alle Burschen aus unserem zahlreichen Geschlecht in die Armee einberufen. Auch mein Bruder Nikolaj hat seinen Wehrdienst abgeleistet. Alle dienten oder dienen aufrichtig und gewissenhaft.

Allerdings wälzten sich die Folgen der Deportation bis an Jakob Karlowitschs jüngsten Sohn heran. Hier ein Auszug aus einem Artikel der Bezirkszeitung „So wird das Leben in Reinschrift geschrieben“: „Wolodja träumte leidenschaftlich vom Militärdienst und bereitete sich darauf vor, in die höhere Militär- und Seefahrtsschule einzutreten. Im Kriegskommissariat nahmen sie seine Papier entgegen und sagten: warte auf die Einberufung. Sie warteten und warteten, es wurde August – Zeit, die Examen abzulegen, aber noch war keine Antwort gekommen. Da ging Wolodja selbst zum Kriegskommissariat, um zu erfahren, was los war. Dort wurde ihm erneut ausweichend geantwortet – „warten Sie ab“. Aber die Einberufung kam nicht. Der Vater, der die schwere Schule des Kraslag durchgemacht hatte, erriet den Grund. Aber wie sollte er das seinem noch jungen Sohn erklären, der so sehr an die Wahrheit, das Gute und die Gerechtigkeit glaubte, der aufrichtig der meinung war, dass er im besten Land der Welt lebte? Später, als zufällig einmal der Kriegskommissar bei ihnen zu Besuch war, gab dieser nach einigen Gläschen Wodka zu, dass Wolodka „ungeeignet“ sei – aufgrund seiner Nationalität“. (Zeitung „Irbejsker Wahrheit“ vom 16. Februar 1996). In jenem Jahr schrieb der ältere Bruder Viktor Jakowlewitsch, der früher Wolodkas Klassenleiter gewesen war, einen Brief an die Fachschule, mit der Bitte, den Grund für die Ablehnung zu erklären. Die Antwort war kurz: die Papier seien zu spät eingegangen. In der Tat muß man verstehen, dass der Staat diese Frage auch Ende der 1970er Jahre, vielleicht sogar heute noch, unter seiner Kontrolle hält. Möglicherweise hängt dies auch von der Person des Beamten ab, in dessen Hände die Papiere geraten.

Im Leben Wladimirs ereignete sich noch ein weiteres Drama. Er war Mitarbeiter der Miliz, Fernstudent an der Juristischen Fakultät und liebte ein russisches Mädchen, eine Krankenschwester. Der Vater des Mädchens war Oberst beim KGB, der Großvater starb im Krieg 1941-45. Als nun die Frage der Registrierung der Ehe aufkam, mußte Wladimir den Nachnamen seiner Ehefrau annehmen. Das heißt, sogar 1984, als die Hochzeit stattfand, wurde in manchen Familien noch eine äußerst mißtrauische Haltung gegenüber den Rußland-Deutschen eingenommen. Die Eltern willigten unter der Voraussetzung in die Heirat ein, dass der Bräutigam den Familiennamen der Braut annahm. Wladimir war gezwungen, sein Einverständnis zu geben, wenngleich alle Ehen normalerweise auf den Nachnamen des Mannes eingetragen werden. Einige Monate lang spielte sich in der Seele des jungen Mannes ein schwerer Kampf ab. Und trotzdem überredete er seine Ehefrau nach einem halben Jahr dazu, die Ehe auf seinen Namen umtragen zu lassen. Kurz darauf ging der Vater der Frau in Rente und fuhr ins Rostowsker Gebiet. Seitdem sind die Schwiegereltern nicht ein einziges Mal bei den jungen Leuten zu Besuch gewesen. Warum? Vielleicht wegen der Nationalität des Schwiegersohnes. In den 1990er Jahren begann eine Massen-Aussiedlung von Rußland-Deutschen nach Deutschland. Und von vielen Menschen wird ein deutscher Nachname jetzt schon nicht mehr so scharf abgelehnt. Deutsche Familiennamen sind sogar ein wenig modern geworden.

Die Tochter Jakob Obermans fand, nachdem sie einen russischen Burschen geheiratet und dadurch ihren eigenen Familiennamen geändert hatte, lebenslangen Seelenfrieden. Derartige Beispiele lassen sich auch aus der Biographie des älteseten Sohnes Viktor anführen. Ihrer gibt es viele. Hier eines der letzten. Im Jahre 2002, als Viktor Jakowlewitsch sich mit der Verewigung des Gedenkens an die Repressierten befaßte, deutete der Vorsitzende des Dorfrates an, „dass es sich hier nicht um ein Denkmal für eine einzelne Nation handelt“. Er mußte davon erzählen, wen, wann, weswegen und wohin man die Menschen verschleppt hatte. Da erinenrte sich der Vorsitzende daran, wie er selbst in seiner Kindheit im Lager Igil die Demütigungen gegenüber den Häftlingen gesehen, die Fluchtversuche und Erschießungen von zwei Gefangenen beobachtet hatte. Dieses Thema wurde auf der nächsten Sitzung eingebracht, und die Deputierten unterstützten die Eröffnung des Denkmals. Danach wurden Arbeiter eingestellt, die das Denkmal errichteten. Die Meinung der Leute dazu ist unterschiedlich. Einige sind der Ansicht, dass es ein Denkmal für die Deutschen ist, das heißt sie kennen die Geschichte der Verfolgungen nicht besonders gut. Eine Frau, deren Großvater entkulakisiert wurde, äußerte die Meinung, dass das Denkmal nur für die Deutschen sei. Wie ist das zu verstehen?Immerhin steht es als Zeichen der Erinnerung, und am 30. Oktober legen wir dort Blumen nieder, entzünden eine Fackel und veranstalten eine Gedenkversammlung (Anhang 19). Und im Sommer 2004 haben wir, zusammen mit Gymnasiasten aus Krasnojarsk, auf den Häftlingsgräbern im Nachbardorf Ambartschik ein Kreuz aus Lärchenholz aufgestellt. Hier hatte 1938 das Kraslag seinen Anfang genommen. Wir besuchtenmit den Gästen die Familie von J.K. Oberman, die Familie meines Urgroßvaters A.I. Leonhard. Wir lauschten den Erzählungen über die vertriebenen Deutschen. ich denke, die Erinnerung and die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges und die Erinnerung an die Opfer der Repressionen sollten gewahrt bleiben. Und das wird in unserem Dorf auch getan.

1990 wurde das Dekret des Präsidenten der UdSSR „Über die Wiederherstellung der Rechte aller Opfer politischer Repressionen der 1920er bis 1950er Jahre“verabschiedet. Darin heißt es: „ ... die den allgemeinen bürgerlichen Menschenrechten widersprechenden Repressionen, die in den 1920er bis 1950er Jahren aus politischen, sozialen, nationalen, religiösen oder anderen Motiven gegenüber Bürgern durchgeführt wurden, als ungesetzlich anzuerkennen und die Rechte dieser Bürger vollständig wieerherzustellen“. (Sammlung von Gesetzes- und Normativakten, S. 188). Endlich erkannte der Staat seine Handlungen als ungesetzlich an. Was fühlten nun die ehemaligen Sonderumsiedler? Sie freuten sich, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte, dass sie jetzt für unschuldig erklärt und zu vollwertigen, gleichberechtigten Bürgern erklärt worden warn. „Rehabilitierte Personen und ihre Nachkommen haben das Recht, die in den Akten noch vorhandenen Schriftstücke, Fotografien sowie andere persönliche Dokumente zurückzuerhalten“. (Gesetz der RSFSR „Über die Rehabilitation von Opfern politischer Repressionen“, Sammlung von Gesetzes- und Normativakten, S. 199). Das letztgenannte Gesetz wurde 1991 verabschiedet. Danach bekamen ehemalige Verbannte Vergünstigungen zugesprochen. Zum Beispeil 50% für Medikamenten-Kosten, kostenlose Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, vorrangige Einrichtung von Telefonanschlüssen und andere. 50 Jahre haben sie gebraucht, um den repressierten Bürgern endlich ihre vollen Rechte zurückzugeben.

Indessen befaßt sich J.K. Oberman mit Alltagsproblemen – ganz abgesehen davon, dass er sein Haus in einem mustergültigen Zustand hält, damit auch in der nächsten Umgebung Sauberkeit herrscht. Aus eigener Initiative säubert er die Flußufer, kümmert sich um die Brücke über den Fluß Kungus und hält die Waldpfade im angrenzenden Waldgebiet in Ordnung. Zur Schlammzeit legt er Bretter aus. Wenn ein Baum kurz vor dem Umfallen ist, sägt er ihn rechtzeitig ab, damit seine Landsleute nicht gefährdet werden. Er führt Buch über die Waldtiere, weiß genau, wo ein Eichhörnchen, ein Zobel vorbeigelaufen ist, wo sich die Gelege dr Haselhühner befinden und wo der Luchs vorbeikommt. Der Wald – das ist sein vertrautes Heim. Er selbst hat in seinem Leben nicht ein einziges Mal eine Flinte in die Hand genommen. Allerdings hat er in den vergangenen 10 ahren , im Winter, unter dem Eis „Fangkörbe“ angebracht, und wenn er Erfolg hat, dann kann er an seinem Geburtstag seine nahen Verwandten und Bekannten mit Aalquappen bewirten. Er weiß immer, wie der Wasserstand im Fluß ist, wann die Stare und Schwalben kommen ... Er besitzt Materialien über Wetteraufzeichnungen während der letzten 25 Jahre. (Anhang 20). Dort hat er Angaben über Temperatur, Niderschläge, Bewölkung, Windrichtungen eingetragen ... Und das dreimal am Tag. Dieses Material wartet auf seinen Forscher. Das ist seine Leidenschaft, dafür kann er sich begeistern; darin finden sich auch Angaben zu Überschwemmungen, dem ersten Auftauchen der Frösche, den ersten Kuckucksrufen ... 1994 kamen plötzlich keine Stare mehr hierher geflogen. Warum? Wieder gibt es eine Frage, wieder gibt es etwas zu forschen.

Nachdem er in Rente gegangen war, beging der Arbeitsveteran, so kann man wohl sagen, noch eine weitere Heldentat: er baute eigenhändig zwei Brücken über das Flüßchen – für den Weg zum Friedhof. Als er den Vorschlag machte, einen schönen Weg zum Friedhof zu bauen, verstanden die Leute ihnnicht: „ Wenn du so aktiv bist, dann bau’ ihn doch selbst“. Und das tat er auch. Wenn die Kinder die Bank an der Haltestelle kaputt machen, repariert er sie wieder. Aber irgendwelche Auszeichnungen erwartet er nicht. Was ihm zusteht, hat er bereits bekommen. Als sie ihn feierlich in Rente verabschiedet hatten, verkaufte die Waldwirtschaft ihm eine Benzinmotorsäge (so etwas konnte man damals offiziell nicht kaufen) und teilten ihm ein Motorrad der Marke „Ural“ zu. Und jetzt beschäftigt er sich neben der Hauswirtschaft noch freiwillig mit der Verbesserung der umliegenden Wiklichleit. Die meisten seiner Landsleute zeigen Resonanz. Mal schleppt einer einen Holzbalken heran, mal irgendwelche Holzlatten, wenn er darum bittet. Viele fragen ihn: „Wozu machst du das denn eigentlich?“ – Aber so ist er eben. Ein Mensch, der sich immer für alles einsetzt, sich um alles kümmert. Arbeit ist für ihn das Wichtigste im Leben. Er hat niemals einfache Wege gesucht, sonder ist immer gradlinig durchs Leben geschritten. So kam es, dass Sibirien für ihn zur zweiten heimat wurde – und vielleicht sogar zur ersten.

Ich habe versprochen, ein wenig über das Schicksal von Jakob Karlowitschs Neffen zu berichten, über Jewgenij Jakowlewitsch Oberman, von dem er 1941 getrennt wurde. Zwischen den verwandten fand ein regelmäßiger Briefwechsel statt. Aus dem Krasnojarsker Gebiet gingen Briefe nach Kabardino-Balkarien und umgekehrt. In den letzten sechs Jahren hörte die Korrespondenz auf. J.K. Oberman vermutete schon, dass eine weitere Familienwurzel ausgerottet ist. Aber da geschieht etwas Interessantes: an der Stepanowsker Mittelschule traf der Rektor der Krasnojarsker Staatlichen Pädagogischen Universität, N.I. Drosdow ein, und machte unsere Direktors, W.J. Oberman, sogleich darauf aufmerksam, dass er noch einen Mann namens Oberman kenne. Der hieß mit Vornamen Jewgenij Jakowlewitsch. Ob das nicht zufällig ein Verwandter von ihm wäre? Man legte dem Rektor Fotos vor, und er bestätigte, dass es sich tatsächlich um jenen Oberman handelte. Offenbar war er in seiner Kindheit Drosdows Lehrer in den Fachbereichen Arbeit, Malen und Zeichnen gewesen. Der Rektor berichtete, dass J.J. Oberman mit der Familie nach Deutschland gegangen sei, dass er mit ihm über das Internet in Verbindung steht, seine Adresse kennt. Drosdow fotografierte Jakob Karlowitsch, Maria Alexandrowna und Viktor Jakowlewitsch und schickte die Aufnahmen per Fax nach Deutschland. Seitdem ist die Verbindung wieder- hergestellt. Der Krieg hat die Menschen auseinandergerissen, aber durch solche Zufälle kann, selbst nach 60 Jahren, wieder ein Kontakt zustande kommen. Nikolaj Iwanowitsch Drosdow hat uns als Geschenk von der Krasnojarsker Staatlichen Pädagogischen Universität einen Komputerraum eingerichtet. Solche Begegnungen, solch ein Hin und Her gab es in unserem Schicksal.

... Derzeit entscheidet Jakob Karlowitsch ein Problem von einem ganz persönlichen Gesichtspunkt aus. Lange konnte er sich dazu nicht durchringen. Wenn er eine Bescheinigung

darüber erhalten würde, dass er 1941 drei Monate lang Gräben ausgehoben hat, dann würde er möglicherweise einen Zusatzbetrag zu seiner Rente erhalten. Zwei Briefe hat er in das Gebiet Saporoschje geschickt, bislang ohne Ergebnis. Kürzlich hat er noch einen dritten Brief dorthin geschickt.

Und nun versuchen wir, meinen Platz in unserem Stammbaum zu definieren (Anhang 21). Ich erscheine darin als Vertreterin der vierten Generation. Mein Urgroßvater, A.I. Leonhard, hatte 8 Kinder, es gibt 19 Enkelkinder, 24 Urenkel, zu denen auch ich gehöre. Des weiteren existieren drei Ururenkel. Ein interessantes Detail: die Mehrheit der Kinder hat einen russischen Ehepartner. Eine Ausnahme macht nur Tochter Maria, die Jakob Karlowitsch geheiratet hat. Aus anderen Nationen finden sich lediglich zwei Ukrainer. Nur drei Familien kannman nach heutigen Maßstaäben als Familien mit vielen Kindern bezeichnen: die von Maria, Alexandra und Jurij. Das bedeutet, dass die Deutschen unter den neuen Bedingungen eine weitere Tradition abgelegt haben. Unter den Enkeln überwiegen Familien mit zwei Kindern. Schauen wir uns einmal an, welche Vornamen es in den Familien gibt: 6 x Alexander, 4 x Viktor, 3 x Wladimir, 3 x Ira, 3 x Olja, 3 x Andrej, 2 x Nina, 2 x Walja, 2 x Nadja, 2 x Roman, 2 x Jurij ... Das Oberhaupt des Geschlechts, A.I. Leonhard, hatte offenbar Einfluß auf die Wahl der Vornamen. Am meisten verbreitet ist der Vorname Alexander. Den letzten (Sascha, 3 Jahre alt) nennt Großvater Jurij Alexander den Fünften. Alle Verwandten leben in der Siedlung Stepanowka, Kreis Irbej, Region Krasnojarsk; ein Familienzweig lebt im Dserschinsker Bezirk. Nur Oma Olga ging nach Deutschland. Das heißt alle, außer ihr, leben in der Region Krasnojarsk. Alle arbeiteten und arbeiten hier. Also hat der Staat, nachdem er die Familie Leonhard verschleppte, dutzende von arbeitenden Händen erhalten, die bis zum heutigen Tage Sibirien voranbringen. Hier haben sie alle ihre Ausbildung gemacht. 13 unmittelbare Abkömmlinge haben den höheren Bildungsweg abgeschlossen, 7 machen Fernstudien an einer Hochschule. Die Berufe verteilen sich wie folgt: Lehrer, Erzieher – 16, Berufe in der Forstwirtschaft – 9, bei der Miliz – 4, im Bereich der Medizin – 2, Köche – 2, Kaufleute –2, und andere. Selbst ein flüchtiger Blick reicht aus, um die wesentlichen, allgemeinen Neigungen unseres Geschlechts zu enthüllen: an erster Stelle stehen die Lehrkräfte, vielleicht, weil in den deutschen Familien auf Erziehung besonders viel Wert gelegt wurde. Die 2. Gruppe beinhalten Berufe, die mit Holz zu tun haben: Fahrer, Tischler, Zimmerleute, Holzfäller – das ist der Einfluß des geographischen Faktors. Die dritte Gruppe: Mitarbeiter der Miliz. Das hängt eng mit der Erziehungsfunktion zusammen. Keiner ist bislang gerichtlich zur Verantwortung gezogen worden. Für mich ist der Beruf des Lehrers am interesantesten, und ich bin sportlich sehr engagiert.

Daraus kann man zu dem Schluß kommen, dass die deutschen Wurzeln inmeinem Stammbaum praktisch am Verschwunden sind und wohl auch vollständig zugrunde gehen werden. Nur manchmal, an gemeinsamen Feiertagen, kann man noch ein deutsches Lied hören, das von der älteren Generation vorgetragen wird. Darüber, dass meine Verwandten irgendeinen Bezug zu den Rußland-Deutschen haben, geben lediglich noch ihre Familiennamen Auskunft. Die Repressionen führten dazu, dass sie fast vollständig russifiziert wurden und nun viel besser die sibirische Kultur kennen und verstehen. Und nur im tiefsten Innern der Seele existiert noch ein kleines Fünkchen Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer vorherigen Kultur. Das ist der Preis für die Repressionen, die über die Rußland-Deutschen hereinbrachen.

Literaturangaben:

1. Repressionen gegen die Rußland-Deutschen. Das gestrafte Volk. „Banner“, Moskau, 1999

2. W.J. Oberman. Über meine Landsleute und ein wenig über mich. Kranojarsk, 2000

3. Sammlungen von Gesetzes- und Normativakten zu Repressionen sowie zur Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen, Moskau, 1993

4. Neues enzyklopädisches Wörterbuch, Moskau, 2002

5. Diktaphon-Aufzeichnung des Repressierten J.K. Oberman

Anhang:

1. Fotografie von J.K. Oberman, 1981

2. Schnitt durch einen Panzerabwehrgraben

3. Bescheinigung über Aussiedlung und Freilassung aus der Sonderansiedlung

4. Seite aus dem Fragebogen von 1949

5. Karte der Flößrouten 1945-1953

5a. Autobiographie des Deportierten 1949

6. Arbeitsausrüstungen und –werkzeuge eines Flößers

7. Flößerbaracke (Zeichnung von S. Belych, Schüler der 8. Klasse)

8. Bescheinigung über J.K. Obermans Aussiedlung „für immer“

9. Fotografie aus dem Jahr 1949 bei der Neuregistrierung

10. Fragebogen des Sonderumsiedlers

11. Personenakte des Ausgesiedelten No. 1112

12. Bescheinigung aus dem Jahre 1956 über den Wegfall von Beschränkungen in der Rechtslage der Deutschen

13. Kopie der ersten Seite des Arbeitsbuches

14. Ehrenurkunde aus dem Jahre 1970

15. Kopie der Bestätigung über die Verleihung der Medaille „Für heldenmütige Arbeit“

16. Urkunde über die Namensverleihung zum „Gardisten der Waldparzelle 71“

17. Bestätigung über die Verleihung des Abzeichens „Sieger des Wettbewerbs“

18. Bestätigung über die Verleihung der Medaille „Arbeitsveteran“

18a. Diplom des kollektives der kommunistischen Arbeit

19. Am Denkmal – 30. Oktober 2003

20. Seiten aus dem Notizheft für Wetterbeobachtungen

21. Mein Platz im Stammbaum


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